Scheinwelt
Ein allerletzter Strich. Nicht zu viel. Wenn er auch nur einen Millimeter zu hoch oder zu tief wäre, wäre die stundenlange, penible Arbeit zerstört und sie müsste dieses Kunstwerk von neuem beginnen. Routiniert und mit ruhiger Hand setzt sie den Lippenkonturenstift an und umrandet damit den dunkelroten Lippenstift.
„Gloria! Beeil dich! Du bist in 5 Minuten dran!“, rief ihr Chef.
Seit nunmehr drei Jahren unterhält Gloria Starlet, so nennt er sich, das Publikum. In diesem Varieté konnte er ganz sie selbst sein. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel bestätigte ihr perfektes Make-Up.
Ein kleiner Monitor hinter der Bühne zeigte ein Kamera-Bild des halbdunklen Publikums. Ihre Kollegin schmetterte ein Lied von Tom Jones. „Sexbomb, Sexbomb, you are my Sexbomb“.
Gloria wusste, dass sie knapp dreißig Sekunden nach dem Ende des Beifalls ihren Auftritt haben wird. Sie atmete noch ein-, zweimal tief ein und aus. Ihre Kollegin huschte an ihr vorbei Richtung Garderobe.
„Begrüßen Sie mit einem donnernden Applaus unsere Gloria Starlet!“, kündigte sie ihr Chef an. Mit ausgestrecktem Arm deutete er überschwänglich Richtung Vorhang, der sich zur Seite schob.
Sie reckte ihr Kinn selbstbewusst nach oben und betrat die Bühne. „Danach ist Schluss damit. Mit dem Versteckspiel“, dacht er und sie schritt elegant auf das Publikum zu.
Seine Mutter wusste von diesem Doppelleben. Hier im Varieté war er Gloria Starlet, sonst war er einfach Sebastian Schmidt.
Seine Stimmte zitterte. Das spürte er. Das ist ihm noch nie passiert.
„Nothing compares 2 U“ hatte er sich ausgesucht. Es war das Lieblingslied seiner Mutter und sie hatte ihm zig-mal erzählt, dass sie auf ihrer Hochzeit dazu getanzt haben. Sie sagte ihm auch jedes Mal, dass auch sein Vater dieses Lied mag, er es aber nie zugeben würde – „Männer eben“, sagte sie dann immer.
Seine Eltern saßen irgendwo im Publikum. Diese monochrome Masse Menschen, die er im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Seine Mutter hatte ihren Mann irgendwie hierher gelotst. Wie sie das geschafft hatte, wollte sie nicht verraten.
Sebastian alias Gloria Starlet setzte zum großen Finale an. Ungewollt kullerte eine Träne seine Wange herunter und verschmierte das perfekte Mascara. Ungewollt, aber irgendwie passend, wenn man das Lied kennt.
Sie verbeugte sich, bedankte sich ein Dutzend Mal und genoss den Applaus. Erst als Gloria merkte, dass ihr Chef sie abmoderieren wollte, verließ sie die Bühne.
Sein Vater wunderte sich, als ein Kollege von Gloria sie leise erst hinter die Bühne brachte und schließlich in die Garderobe führte.
„Gloria, dein Besuch ist da.“ Er hatte darauf bestanden, dass er mit „Gloria“ angesprochen werden will.
„Nehmen Sie doch Platz. Ich hoffe, Ihnen hat mein Lied und der Rest der Show gefallen“, fing Sebastian an – den Rücken immer noch seinen Eltern zugedreht.
„Es war wundervoll“, jubilierte sein Vater.
„Das freut mich“, antwortete Sebastian. „Ich habe es für Sie gesungen.“
Gloria drehte sich langsam mit dem Stuhl um.
„Für mich? Woher wissen Sie, dass es mein Lieblingslied ist?“
„Weil es mir von dieser reizenden Frau neben ihnen gesagt wurde. Hast du doch, oder Mama?“
Gloria zupfte ihre falschen Wimpern von den Augenlidern und zog sich die Perücke vom Kopf. „Tach, Paps.“ Sebastian grinste.