Schein und Sein
Es war eine düstere Novembernacht und ich war allein Zuhause. Der Hund hatte schon ein paar Mal angeschlagen, als er gegen Mitternacht endlich Ruhe gab. Ich wälzte mich noch eine Weile hin und her, hörte das alte Haus knarren und war gerade eingeschlafen, als ich spürte, dass es ganz hell im Zimmer geworden war. Ich öffnete die Augen und sah in das tiefe schwarze Loch eines Pistolenlaufs. Mein Oberkörper klappte hoch.
„Keine Bewegung!“, forderte eine raue Frauenstimme, so als ob ich dazu überhaupt noch in der Lage gewesen wäre. Stocksteif blieb ich, aufgestützt auf meinen Ellenbogen, liegen. Mit all meiner Kraft löste ich meine Konzentration vom Lauf. Vorbei an der silbernen Waffe fuhr mein Blick entlang schlanker Handgelenke und muskulöser Arme in das anziehendste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Die bogenförmig geschwungenen Brauen über stahlblauen Augen mischten meiner starren Angst Bewunderung bei. Soweit ich es aus meinem eingeschränkten Blickfeld sehen konnte, trug die Fremde einen figurbetonten Kampfanzug mit integrierter Schussweste. „Fertig gespannert, Kleiner?“, fragte sie gereizt. Das Knattern eines Hubschraubers durchdrang die künstlich beleuchtete Nacht.
„Ich, ich… Was…das muss ein Irrtum sein…“
„Schnauze!“, unterbrach sie mein Stottern. Ich zuckte zusammen, mein Hirn war leer wie ein ausgeschütteter Eimer. „Er ist allein!“, brüllte sie, ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ein hohles Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn.
Zwei bullige Männer, ebenfalls in Kampfanzügen, betraten mein Zimmer. Die alten Dielen knarrten unter ihren schweren Stiefeln. Ihre Schatten flirrten im Scheinwerferlicht. Hilflos musste ich mit ansehen, wie sie meine sichere Welt verwüsteten.
Meine Arme, auf die ich mich stützte, krampften schmerzhaft. Ich zitterte vor Angst und erschöpften Muskeln. Vorsichtig versuchte ich mich unter der Bettdecke weiter nach oben zu schieben. Das kühle Metall der Pistole berührte meine Stirn. Ich erstarrte sofort. Mein Blick fiel auf den feuerroten Nagellack ihrer perfekt manikürten Fingernägeln. „Noch eine Bewegung und du bist tot“, sagte die Frau kalt. Sie meinte es ernst, dass fühlte ich in jeder Faser meines Körpers.
„Wer ist noch im Haus?“, fragte sie barsch.
„Niemand. Meine… meine Eltern kommen erst Morgen früh nach Hause“, presste ich angestrengt zwischen den Zähnen hervor. Meine Lippen bebten und ich presste sie aufeinander. Ich wollte nicht sterben.
„Durchsucht das Haus!“ Einer der Männer verschwand aus meinem Zimmer. Kurze Zeit später knarrten die Treppenstufen und die Dielen über meinem Kopf. Ich zitterte unkontrolliert. Schweiß lief mir den Rücken hinab.
„Sind Sie sicher, dass dieser Junge der Mörder ist, den wir suchen. Der hat doch noch Pickel auf der Nase“, zweifelte der verbliebene Mann im Zimmer.
Ein unbeherrschtes Keuchen entfuhr meinem Mund. „Was?“
„Ja, alle Spuren führen hierher. Er muss es sein“, sagte sie zu ihm während ihre Verachtung mich strafte.
Nach den Worten der Frau sackte ich innerlich zusammen. Was war passiert? Das Blut rauschte in meinen Ohren, das Herz schien mir aus der Brust zu springen. Ich musste einen Weg finden sie von meiner Unschuld zu überzeugen, bevor sie mir aus Versehen eine Kugel in den Kopf jagte. Mir wollte einfach nichts einfallen. Aber ich musste irgendwas sagen: „Ich gehe noch zur Schule. Meine… Eltern sind Morgen wieder da.“
„Lullst du so deine Opfer ein, bevor du sie ermordest? Deine Masche funktioniert bei mir nicht“, sprach die schöne Frau nachdrücklich.
„Bitte. Bitte, ich weiß nicht, wovon Sie reden.“ Der Pistolenlauf zeigte weiterhin gnadenlos auf meine Stirn. Neben meinem Bett riss der Mann die Schubladen aus dem Nachtisch.
„Sie ruhig. Ich glaube dir eh kein Wort.“
„Was wollen Sie denn? Ich weiß nichts“, das schluchzende Jammern quoll von ganz allein aus meinen Mund. „Ich … ich hab Morgen Schule.“ Ich streckte hilflos meine Hand aus. Wenn sie mich doch nur einmal berühren würde…
„Halt oder ich schieße!“, blaffte die Frau und wich ein paar Zentimeter zurück. „Solange wir nicht wissen, wie du es machst, stirbst du, wenn du einem von uns zu nahe kommst.“
Ich drückte ein paar Tränen aus meinen Augen. „Bitte. Bitte. Rufen Sie meine Eltern an, wenn Sie mir nicht glauben. Bitte, ich weiß von nichts. Vielleicht sind Sie einfach nur im falschen Haus“, heulte ich jämmerlich. Sturzbäche salziger Tränen flossen über meine Wangen. Es brannte in meinen offenen Pickeln. „Ich hab doch nichts getan…“
„Das werden wir wissen, sobald das Haus durchsucht ist.“ Mit einer beiläufigen Kopfbewegung brachte sie eine vorwitzige Strähne in Position. So abwegig es auch war, in diesem Moment fragte ich mich, wie es sich anfühlen würde mit den Händen durch ihr kurzes goldenes Haar zu fahren. Ich stellte es mir wie kalte Seide vor. Der Schmerz in meinen überlasteten Armen riss mich aus meinen Gedanken. „Bitte“, schluchzte ich, „Darf ich mich anders hinsetzen? Meine Arme ...“
„Die Opfer, die du brutal abgeschlachtet hast, haben diese Möglichkeit auch nicht mehr!“, fauchte die Frau.
„Zoe, das ist ein schmächtiger Teenager! Jetzt lass ihn sich wenigstens anders hinsetzen“, sagte der Mann im Raum, der mittlerweile meinem Kleiderschrank durchwühlte. „Keine Sorge Junge, bald wissen wir mehr.“ Wenigstens er sah in mir keine Bedrohung, ein Hoffnungsschimmer.
Zoe holte tief Luft. „Ok, Junge. Aber ganz langsam.“ Gut, sie ließ sich verunsichern und wurde weich. Zaghaft setzte ich mich auf. Ich lehnte mich mit dem Rücken an das kalte Kopfende meines Bettes. Die Pistole folgte jeder meiner Regungen. Dicke Tränen liefen lautlos über mein Gesicht. Durch sie hindurch begutachtete ich die beneidenswert schöne Frau, die mit jeder Sekunde unaufmerksamer wurde.
„Ich bin gleich zurück, Zoe“, sagte der Mann und verließ den Raum mit einer prall gefüllten Tüte. Die bodenlange Gardine, erhellt vom Scheinwerferlicht, schwang im Luftzug.
„Okay.“ Die Frau nickte und schaute ihren Kollegen einen Wimpernschlag lang hinterher. Das war meine Chance! Ich drückte meinen Oberkörper vom Bett ab und schnellte nach vorn. Meine Hand berührte ihre Finger.
Ihr erschrockenes Gesicht richtete sich auf mich, aber es war zu spät. Ein brennender Schmerz durchfuhr unser beider Körper, der sich anfühlte wie eine zusammenhängende Masse. Erstarrt und zum Schweigen verdammt, standen wir uns gegenüber. Unsere Blicke verloren sich in einander.
Ein Sog erfasste mein Bewusstsein und riss mich fort aus dem machtlosen, verpickelten Körper. Als ich meine Augen öffnete, sah ich hinunter auf meine eigenen perfekt manikürten Hände mit der Pistole darin. Der Junge fiel benommen zurück auf das Bett. Überraschend schnell rappelte er sich wieder auf. Hässliches Ding, ich war froh nicht mehr darin zu stecken. Er war nur eine Notlösung, damals die erste Hülle am Unfallort. Wie sehr ich das Leben darin verachtet habe! Das satte Grinsen in meinem wunderschönen Gesicht spiegelte sich in seinen weit aufgerissenen Augen.
Ich zielte auf seine Stirn und drückte ab. Der Schuss hallte entsetzlich laut im Raum wieder. Der Rückstoß schleuderte meine Arme nach oben. Blut spritze auf das Bett. Der Junge blieb leblos liegen.
Schwere Stiefel stürmten durch den Flur ins Zimmer. „Zoe! Verdammt! Was ist passiert?“
„Er wollte fliehen! Als ich das verhindern wollte, griff er nach meiner Waffe. Im Keller werden wir die Leichen seiner Eltern finden.“ Niemand würde später mehr fragen, woher ich das in dem Moment wusste. Ihr Tod war nicht geplant, aber sie wurden zu früh misstrauisch.
Ich fuhr mit meinen neuen Fingern durch das goldene Haar und beschloss spontan es wachsen zu lassen.