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Schau mich an, hör endlich zu!
„Es wird doch nichts Ernstes mit ihm sein, Wim?“
Ohne hochzuschauen, verbindet er die winzigen Plastikstifte mit einem Leimtropfen. „Was? Wie? Kannst du mir mal den Leimspatel geben?“
Schweigend reicht Sanne ihm das dünne Holz.
Die Kopfbandlupe macht eine gnadenlose Nahaufnahme von einem rot geäderten Augapfel, der unbeweglich die Feinmotorik seiner dicken Finger observiert. Mit einer geübten Bewegung entfernen sie den überschüssigen Leim.
Dann fasst er behutsam das Modell des B52 Bombers, das einen Platz zwischen einer Messerschmitt und einer Hawker-Hurricane kriegen soll.
Für Sanne ist es nicht das erste Mal, dass sie Zeugin ist von einem Ritual, das sie in erster Linie an die feierliche Weihe eines Heiligenbildes denken lässt. Die Hände, die gerade noch mit der Präzision eines Chirurgen ein Flugzeug gebaut hatten, verwandelten sich in die eines Priesters, der mit devoter Hingabe den Kelch mit dem Blut Christus in die Höhe hebt.
Die B52 liegt wie ein Kriegsrelikt in dem weichen, bleichen Fleisch, bereit, um für ewig zu ihrem letzten Ruheplatz in der Glasvitrine gebracht zu werden. Während Sanne beobachtet, wie Wim das Ritual zu Ende bringen will, weiß sie augenblicklich sicher, so sicher, wie sie noch nie etwas wusste, dieses Mal würde sie seine gesamte Aufmerksamkeit bekommen. Er würde tun, was sie von ihm verlangte. Sie würde darauf bestehen, dass er sie anschaute, wenn sie mit ihm sprach, und dass er ihre Worte nicht als verbale Ausscheidung an sich hinabgleiten ließ.
Oben im Kinderzimmer liegt Caspar, ihr neunjähriger Sohn, ihr Sorgenkind. Sie hat gelernt, die Sorgen um ihr Kind notgedrungen alleine zu tragen. Wim war nach der Geburt ihres Sohnes nicht imstande, ein affektives Vater - Sohnband zu knüpfen. Fläschchen geben, Windeln wechseln, Caspar tröstend wiegen, wenn er heulte, kuscheln, das alles hat er ihr überlassen.
Dass das Kind sich immer mehr in seine eigne Welt zurückzog, war an Wim vorbeigegangen.
Die Nachbarskinder, die Caspar zum Fußball- oder Versteckspielen abholen wollten, gaben nach mehreren gescheiterten Versuchen auf, da der Junge es vorzog, in seinem Zimmer zu lesen. Reitschule und Pfadfinder hatten genauso wenig Chancen bei ihm. Die Stapel Bücher und Zeitschriften in seinem Zimmer wurden immer höher. Sein Anteil an Gesprächen wurde stets kleiner.
Vor zwei Tagen bat Caspars Lehrer sie und Wim um ein Gespräch. Sie saßen in der Klasse an Caspars Tisch dem Lehrer gegenüber. Er sagte, dass er sich Sorgen um die Entwicklung ihres Sohnes mache. Der Junge sitze in der Pause immer alleine mit einem Buch im hinteren Teil des Schulhofes und gehe allen Kontakte mit anderen Schülern aus dem Wege. Seine Noten hingegen gäben keinen Anlass zu Besorgnis, in den meisten Fächern stehe er auf Zwei. Es sei Caspars soziales emotionales Funktionieren, das für ihn einen Grund darstelle, das Kind bei einem Schulpsychologen testen zu lassen. Verpflichten könne sie niemand, es muss ihre eigene Entscheidung sein.
Auf dem Weg nach Hause, fragte sie Wim, wie er den Ratschlag des Lehrers fand.
„Er wird es wohl wissen, der Lehrer“, antwortete er.
Wie ein Tsunami aus positiver Energie raste in diesem Augenblick die Gewissheit über sie hinweg, dass sich nun endlich etwas ändern müsse.
Jetzt fühlt sie sich wie eine Amazone, die nichts und niemand fürchtet, die kein Mittel scheut, um den Kampf zu gewinnen. Wim genießt wie immer, wenn er einem vollendeten Modell einen Platz in der Vitrine zuweist, den stillen Moment der Bewunderung seiner Schöpfung.
Sanne wartet ab, bis Wim sich hinter seiner Modellbauzeitschrift zurückzieht. Schweigend läuft sie zur Vitrine, öffnet die Tür aus geschliffenem Glas und packt die B52 an der Tragfläche. Sie begutachtet das Modell wie eine beschädigte Bratpfanne in einem Gebrauchtwarenladen, die nach langer Zeit auf die Liste unverkäuflicher Waren landet.
Wie in Zeitlupe lässt sie den Flügel los und übergibt das Flugzeug der Schwerkraft. Ohne Wims Reaktion abzuwarten läuft sie zu ihm hin, schließt seine Zeitschrift, die er mit weißen Fingern vor seinen Brustkasten hält, als wolle er die Fotos der Modellflugzeuge vor den zerstörungssüchtigen Händen seiner Frau schützen. Versteinert und sprachlos sitzt er auf dem Sofa und sucht in der Vitrine wider besseren Wissens die B52. Sanne dreht sich um und geht wie in Trance zurück zum Glasschrank, greift willkürliche ein Modell wie eine Beute. Mit dem Flugzeug über ihrem Kopf dreht sie sich zu Wim. „Was tun wir mit diesem?“
Voller Unglauben über das, was sich vor seinen Augen abspielt, läuft er wie ein geprügelter Hund zu Sanne. Selbst jetzt, da sie droht, seine zweite Kreation zu vernichten, fehlt ihm die Fähigkeit, verbal seine Wut und Ohnmacht auszudrücken. Gleich einem Hypnotiseur fixiert er seine Augen auf das Modell, als wolle er das Gesetz der Schwerkraft aufheben. Die Feuchtigkeit in seinen Augen trübt ihm die Sicht auf seine Reliquie. In unbeherrschtem Schluchzen öffnet und schließt er seinen Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Sannes durchdringender Blick ist auf die wässerigen, roten Augen ihres Mannes gerichtet.
„Was willst du, dass ich damit tue? Fallen lassen, so wie du mich bei der Erziehung unseres Sohnes hast fallen lassen?“
Ihre Worte kommen wie ein Echo in ihr Gewissen zurück. Sie ist sich dessen nur allzu gut bewusst, dass Wim nicht durch bösen Willen gelenkt wird, sondern dass er nicht das Vermögen hat, sich in einen anderen hineinzuversetzen.
Sein Unvermögen war ihr in den ersten Monaten der Verliebtheit nicht aufgefallen. Sie empfand ihn höchstens manchmal etwas zu nachgiebig und bequem. Je länger sie zusammen waren, umso deutlicher merkte sie, dass er sich schwierig in neuen Situationen zurechtfand.
Er bediente sich bei allen Gelegenheiten fester Verhaltensmuster. Trotz dieser Erkenntnis brachte sie die innere Stimme zum Schweigen, die ihr sagte, es wäre besser, ihr Leben ohne ihn zu führen. Sie ist bei ihm geblieben, hat sich verleugnet, weil sie schwanger war.
Nun steht sie noch immer vor ihm und fühlt sich in einen emotionalen Ausnahmezustand.
Sie sieht sich mit ihrer freien Hand seine Rechte nehmen und ihm die Messerschmitt hineinlegen.
Das unerwartete Gebaren von Mitgefühl berührt Wim an einer Stelle tief in sich drin, die ihm bislang unbekannt war. Er wischt sich mit der freien Hand eine Träne aus dem Augenwinkel. Sein Blick bekommt einen Ausdruck, den Sanne nicht deuten kann. Dann, unerwartet, öffnet er die mit einem hauchdünnen Speichelfaden verbundenen Lippen. „ Der Lehrer wird es wohl wissen, denkst du nicht auch, Sanne?“