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Schattenschlaf
27.11.2017 – Frühe Morgenstunden - Unbekannter
„Oh meine Göttin, heute Abend sehen wir uns endlich. Zu lange bist du im Schatten gewachsen, bist unentdeckt geblieben. Ich habe dich jedoch gefunden. Ich möchte deinen Atem spüren, ich weiß, dass Du mich wahrnimmst. Ich weiß, dass Du mich willst. Ich weiß, dass wir zusammen gehören. Schon bald wird mein Licht dich erwecken.“
28.11.2017 – Abends - Marie
Kalt pfiff der Wind Marie um den Kopf – der Schneefall hatte eine kurze Pause eingelegt. Sie wickelte Ihre Schal erneut über Nase und Mund und versuchte so den eisernen Klauen von Väterchen Frost zu entkommen. Verdammter Winter.
Der Schnee ging ihr bis zu den Fußknöcheln, der Niederschlag hatte gegen Abend eingesetzt, so dass der Winterdienst der Lage noch nicht Herr geworden war. Außer dem knackenden Schnee unter Maries Füßen waren keine Geräusche zu hören. Der Winter erstickte die meisten Laute. Auf der Straße war um kurz nach dreiundzwanzig Uhr niemand mehr anzutreffen. Marie beschleunigte ihren Schritt – nicht nur wegen der Kälte.
Die letzten Tage waren anstrengend. Im Beruf als auch im privaten Umfeld. Sarah, ihre beste Freundin, hatte sich von Ihrem Freund getrennt und suchte nun jede Menge Ablenkung. Hinzu kam die Arbeit in der Praxis. Besonders in der Winterzeit hatte Marie durch Skiunfälle, Glatteismissgeschicke und sonstige Stürze, Verrenkungen u. ä. als Physiotherapeutin gut zu tun.
Der Wind wurde stärker. Sie steckte Ihre Hände noch tiefer in ihre Manteltasche. Marie drehte sich alle paar Schritte um – sie hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Seit drei Wochen stimmte irgendetwas nicht. Sie bekam merkwürdige Botschaften, jemand versuchte offensichtlich Kontakt mit ihr aufzunehmen. Es begann mit getrockneten Veilchen in ihrem Briefkasten. Der Absender hatte seine Identität nicht preisgegeben, dennoch wertete Marie dies als Versuch einer Annäherung. Dieser Verdacht wurde kurz darauf durch Anrufe bestätigt. Sie vermutete erst eine Betrugsmasche, als eine ihr unbekannte Nummer sie zwei bis drei Mal täglich anklingelte aber schnell genug auflegte, bevor Marie abnehmen konnte. Der Anrufer hoffte wohl auf einen Rückruf.
Einmal war Marie schnell genug. Sie hatte gerade ihr Handy zufällig in der Hand, als der unbekannte Anrufer sich durch eine sanfte Vibration in ihrer Hand bemerkbar machte. „Hallo?“ Maries Stimme klang neugierig „Hallo? Wer ist denn da?“
Der Anrufer vermied jedoch eine Antwort auf Maries Frage. Sie hörte nur ein leises Atmen in der Leitung. „Wissen Sie, dass ist nicht lustig, wenn Sie nichts zu sagen haben, rufen Sie mich auch bitte nicht mehr an. Sonst melde ich das der Polizei.“, Marie war sauer. Kurz bevor sie den Hörer auflegen wollte, hörte sie ein leichtes Stöhnen in der Leitung. -Klick- Dann war die Leitung tot, der Unbekannte hatte selber aufgelegt. Was soll der Scheiss? War es einer meiner Patienten?
Marie blickte verstört auf ihr Handy. Sie hatte noch nie viele Verehrer gehabt und lebte auch schon seit zwei Jahren glücklich als Single. Zumindest hatte sie sich das immer so eingeredet. Sie hatte natürlich viel Patientenkontakt, vornehmlich Männer mittleren Alters die ihre ersten Gebrechen durch eine Physiotherapie behandeln lassen mussten. Hin und wieder war jedoch auch ein knackiger Sportler mit dabei. Hieraus hatten sich kurzweilige Flirts ergeben, jedoch nie etwas Ernstes. Das wollte Marie auch nicht. Alles über ein Zwinkern oder eine kurze Plauderei hinaus hielt sie für unseriös in ihrem Beruf. Hätte sie es jedoch darauf ankommen lassen wollen, wäre es ihr sicherlich gelungen mehr aus einem Flirt zu entwickeln. Marie wirkte auf den ersten Blick unscheinbar, auf den zweiten jedoch sehr zierlich, schlank und durchtrainiert. Mit ihren 1,70 cm und den brauen, langen Haaren passte sie perfekt in das Beuteschema der meisten Männer.
Die unbekannte Nummer hatte in den letzten Tagen noch ein paar Mal angerufen, jedoch noch kürzer als vorher, so dass Marie keine Chance hatte den Hörer abzunehmen.
Seit zwei Tagen war jedoch alles ruhig. Die Anrufe blieben aus. Marie hatte aber seit dem ersten Anruf ein mulmiges Gefühl. Die Kontaktaufnahmen waren noch nicht gravierend, fast schon subtil, aber irgendwas stimmte nicht. Daher kam ihr die private Krise von Sarah ganz gelegen, so konnten sie sich beide gegenseitig ablenken. Marie verzichtete jedoch darauf Sarah von diesem Anruf zu erzählen. Was sollte sie auch berichten? Dass sie einen Anruf erhalten hat? Das sie einmal getrocknete Blumen im Briefkasten hatte? Los verständige Sofort CSI!! Marie schüttelte selbstironisch den Kopf.
Ein vorbeifahrendes Auto, dass sich durch die Schneedecke kämpfte, riss sie aus ihren Gedanken. Endlich. Marie sah die Eingangstür zu ihrem Wohnhaus. Sie lebte in einem Haus mit insgesamt drei Parteien. Unter ihrer Wohnung war eine kleine Dorfbäckerei, über ihr wohnte ein junges Pärchen, das mehr auf Reisen war als Zuhause. So auch jetzt – sie verbrachten ihren Winterurlaub in Thailand. Die Glücklichen. Marie seufzte.
Vor ihrer Wohnungstür angekommen kramte sie ihren Schlüssel aus der Tasche. Sie steckte ihn in das Schloss und drehte Ihn um. -Klick- Die Tür war offen.
Komisch, hatte ich nicht zwei Mal umgedreht als ich zu Sarah gegangen bin? Das Klingeln ihres Handys riss sie aus ihren Gedanken. Sarah rief an. „Hallo Süße“, meldete sich Marie „ich bin gut angekommen, ist nur sau kalt draußen.“ „Ja, verdammt kalt. Du hast mir auch richtig leid getan als Du los bist. Hättest auch hier schlafen können.“, Sarah klang müde, auch ihr war die Erschöpfung anzuhören. „Alles gut, hat ja nur 20 Minuten gedauert und Du weißt ja, dass ich lieber in meinem Bett schlafe.“ „Ja, ist gut, ich wollte nur hören, ob Du sicher angekommen bist.“, Sarah gähnte. „Bin ich.“, Marie hatte ihr Telefon auf Lautsprecher umgestellt, damit sie ihre Jacke ausziehen konnte.
„Sarah, irgendwie ist das komisch. Ich habe es Dir noch nicht erzählt, aber ich glaube, dass ich einen Verehrer habe.“ „Wieeee?“, Sarahs Stimme wirkte plötzlich deutlich wacher. „Das erzählst Du erst jetzt? Du warst gerade drei Stunden bei mir verdammt. Los, Details bitte.“ Scheisse, hätte ich nichts gesagt. Marie bereute ihren letzten Satz schon jetzt. „Morgen Liebes, ich bin heute zu müde. Ich habe nur irgendwie ein komisches Gefühl im Bauch. Dieser Verehrer ist irgendwie unheimlich“.
„Warum? Was hat er gemacht? Hat er dir etwa Nacktbilder geschickt?“ Sarah kicherte. „Nein, du Doofmann. Ist schwer zu erklären. Komisch eben. Ich weiß noch nicht mal ob es ein Mann oder eine Frau ist. Ich tippe aber auf einen Mann. Aber weißt du was? Ich erzähle es Dir morgen ok?“ Marie hatte sich mittlerweile Jacke und Schuhe ausgezogen. „Na gut, dann schlaf schön Süße und bis morgen. Hab Dich lieb.“, Sarahs Müdigkeit war zurückgekehrt. „Ich dich auch!“ Marie legte auf.
Sie öffnete die Tür vom Zwischenflur zu ihrem Wohnzimmer und schaltete das Licht ein. Ihre Wohnung war hell und schön geschnitten. Sie war erst vor einem Jahr hier eingezogen, fühlte sich jedoch pudelwohl. Auf Socken ging sie vorbei an Ihrem Sofa, in Richtung Badezimmer. Waschen, Zähne putzen – ab in die Falle.
-Knack- Marie blieb stehen. Was war das? Das Geräusch kam aus ihrem Schlafzimmer, die Tür war nur angelehnt, der Raum dunkel.
Sie öffnete die Schlafzimmertür und betätigte den Lichtschalter. Nichts zu sehen. Der Raum lag ruhig da. Oh man, du Schisser, dass war der Holzboden. Ist doch nicht zum ersten Mal passiert. Sie grinste ein wenig über ihre Nervosität. So war sie eigentlich nicht.
Marie drehte sich um und ging ins Bad. Nach einer Katzenwäsche und flinkem Zähneputzen – zu mehr Körperpflege war sie heute nicht mehr in der Lage – tapste sie in ihr Schlafzimmer. Sie hatte das Licht nach dem ersten Schreck angelassen. Als sie das Zimmer erneut betrat ,wirkte der Raum nicht mehr bedrohlich. Schisser! Marie ärgerte sich ein wenig darüber, dass sie sich von ein paar Anrufen und getrocknetem Grünzeug so aus der Bahn werfen lies.
Sie legte sich in Ihr Bett und schaltete das Licht an einem weiteren Schalter, über dem Kopfteil, aus. Dann kuschelte sie sich in zwei Wolldecken und ihre Bettdecke ein und schloss die Augen.
-Knack- Marie schreckte hoch. Was zur Hölle? Wieder der Boden? Sie lauschte in das dunkle Zimmer. Der Raum wirkte ruhig.
Die Scharniere ihres Kleiderschranks quietschten als er langsam aufglitt. Marie vernahm ein leichtes Stöhnen aus der Dunkelheit. Sie wollte gerade den Lichtschalter betätigen als ein großer Schatten zu ihr rüber stürmte, sie packte und ihren Panikschrei, mit der linken Hand die er ihr auf den Mund drückte, unterband. Mit der rechten Hand drückte er auf ihre Brust, so dass Marie die Luft wegblieb. Sie wehrte sich, konnte aber der schier unbändigen Kraft des Angreifers nichts entgegensetzen.
„Meine Göttin, ruhig ruhig. Ich bin jetzt bei Dir.“ Der Unbekannte setzte sich auf Marie ohne seinen Griff zu lockern. Ihre Panik ging ins Unermessliche. Marie wollte schreien, doch durch den zugehaltenen Mund kam nicht mehr als ein Laut, der nur ansatzweise das Wort „Hilfe“ vermuten lies. „Schhhh schhhhh meine Göttin. Ich tue Dir nichts, ich bin nur für Dich gekommen. Ich will, dass Du mich kennenlernst. Du wirst mich lieben, so wie ich Dich liebe. Ich werde dich aus dem Schatten holen.“
Der Unbekannte fixierte Maries Hände mit einem Kabelbinder, anschließend nahm er Klebeband und klebte ihr damit dem Mund zu. Aus dem Schlafzimmer waren nur noch dumpfe Klopfgeräusche zu vernehmen.
Epilog
01.12.2017
Der Leichnam von Marie wurde zwei Tage später von ihrer Freundin Sarah gefunden. Diese hatte sich nach zwanzig unbeantworteten Anrufen, mit einem Schlüssel den ihr Marie beim Einzug ausgehändigt hatte, Zugang zur Wohnung verschafft.
Sarah fand ihre beste Freundin nackt und gefesselt in ihrem Bett. Der Unbekannte hatte sie vergewaltigt und anschließend die Augäpfel entfernt. Statt ihrer fand die Polizei Veilchen in den Augenhöhlen. Auf Maries Nachttisch lag eine Nachricht auf der stand:
„Meine Lichtstrahlen haben Dich erweckt meine Göttin, Du musst nicht weiter im Schatten wachsen.“
Weitere Einbruchsspuren wurden nicht gefunden, die Ermittlungen dauern an.
Marie wurde 28 Jahre alt.