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Schattenmann
Dämmerung vertreibt die Nacht, taucht alles in ihr Rot.
Schattenmann ist aufgewacht und sucht nach seinem Tod.
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Jonathan sagt, im Winter war es früher kalt. Heute, da es keine Jahrezeiten mehr gibt, ist der Winter die Zeit der langen Nächte. Die Zeit, in der wir lange draußen bleiben dürfen, da die Sonne erst spät aufgeht.
Am kürzesten Tag des Jahres, wenn die Sonne bereits am Himmel steht, müssen wir nicht schlafen gehen. Wir verbringen den Tag im Haus vom alten Jonathan. Dann erzählt er uns Geschichten von der alten Welt, als die Menschen in der Nacht schliefen und das Licht der Sonne ertrugen, ohne blind zu werden. Geschichten von Kuppelstadt und von Schattenmann.
Die meisten Häuser haben winzig kleine Löcher in den Dächern. Durch diese dringt gerade genug Licht, um tagsüber die absolute Dunkelheit im inneren des Hauses in den vertrauten Schein des Sternenhimmels tauchen. Die Haupthalle im Haus des alten Jonathan hat nur ein einziges Loch. Es ist so konstruiert, dass tagsüber ein scharfer Lichtstrahl über den Boden wandert.
Wir sitzen im Schneidersitz, entlang des Sonnenpfades, den der Lichtstrahl an diesem besonderen Tag beschreitet und der alte Jonathan sitzt unserem Halbkreis gegenüber.
Die Kleinen sind besonders aufgeregt. Sie sind zum ersten mal hier und fasziniert von dem ungewöhnlichen Strahl und dem seltsamen Licht in das es den Raum taucht. Wir Alteren müssen auf sie acht geben. Oft schon haben Kinder versucht, den Lichtstrahl zu berühren. Sogar ich selbst, als ich noch ein kleines Mädchen war. Aber Jonathan erzählt immer als erstes die Geschichte von dem Kind das unter dem wandernden Strahl eingeschlafen war. Danach hat man gehörigen Respekt davor.
Meine Lieblingsgeschichte aber, ist die Legende von Schattenmann.
„Früher, als die Menschen noch im Licht der Sonne lebten, war Schattenmann ein Herrscher.“
So beginnt er die Geschichte jedes Mal. Dann wartet er ab und fast immer fragt einer der Kleinen: „War er ein König?“ und Jonathan fährt fort: „Nein, Schattenmann war kein König. Die Macht eines Königs beschränkt sich auf das Land das er besitzt. Schattenmann besaß kein Land. Er herrschte über Menschen. Viele Menschen auf der ganzen Welt gehörten zu Schattenmanns Volk und seine Macht war größer als die eines jeden Königs.
Als die Sonne begann die Menschen zu verbrennen, wollte Schattenmann sich nicht vor ihr verstecken. Er ging in die Berge und ließ sein Volk dort Kuppelstadt bauen. Das große Glas über der Stadt verwandelte die tödlichen Strahlen der Sonne in das Licht in dem die Menschen damals lebten.
Schattenmann wohnte in Kuppelstadt und nur die Fleißigsten und Klügsten seines Volkes waren dort willkommen. Die Menschen außerhalb begannen die Sonne zu meiden.“
„Wir schlafen den Tag über und Nachts gehen wir nach draußen. Die Sterne und der Mond sind das Licht in dem wir sehen können. Die Sonne aber, macht uns blind und verbrennt uns. Während wir schlafen, sind nur die Hüter draußen im Tageslicht mit ihren schweren Anzügen. Sie können Kuppelstadt sehen, die noch immer dort oben in den Bergen steht. Manchmal aber, in der Nacht, spiegelt sich der Mond in dem großen Glas und er bekommt einen kleinen Zwilling am Himmel, dann könnt auch Ihr erkennen, wo Kuppelstadt liegt.“
Es gibt eine kurze Pause und ich flüstere: „Was ist denn mit Schattenmann passiert?“, ins Ohr meiner kleinen Nichte die neben mir sitzt und die Frage sofort lautstark wiederholt.
Jonathan zwinkert mir zu und fährt fort:
„Oh, Schattenmann und die klugen Menschen lebten lange Zeit in Kuppelstadt, aber die Menschen dort gebaren nur noch wenige Kinder. Eines Tages erkannten sie, dass das Volk von Kuppelstadt früher oder später aussterben würde. Schattenmann wollte nicht sterben, also rief er seine klügsten Ärzte zu sich und befahl ihnen ihn unsterblich zu machen. Die Ärzte bauten Geräte für Schattenmann und setzten sie in seinen Körper ein. So konnte Schattenmann dem Tod für immer widerstehen.
Schattenmann erlaubte auch dem Volk in der Kuppelstadt unsterblich zu werden, um ihm auf ewig Gesellschaft zu leisten.“
Diesmal ist es nicht nötig jemanden zu ermuntern. Gleich zwei der Kleinen fragen, ob die Menschen noch immer in Kuppelstadt leben.
„Sie lebten so lange dort, dass eines Tages Schattenmann der Kuppelstadt überdrüssig wurde. Er sehnte sich nach der Außenwelt, die er schon so lange nicht mehr gesehen hatte.
Also rief Schattenmann wieder seine Ärzte zu sich und befahl ihnen, seinen Körper vor der tödlichen Sonne zu schützen, damit er hinaus gehen könnte um die Welt wiederzusehen.
Aber die Ärzte schüttelten ihre Köpfe und meinten es gäbe nichts das sie tun könnten um ihm zu helfen. Die Sonne war das Einzige das ihm seine Unsterblichkeit nehmen konnte und es gab nichts das sie dagegen zu tun vermochten.
Aber Schattenmann wollte sich damit nicht zufrieden geben. Er fragte alle Bewohner von Kuppelstadt ob sie nicht eine Lösung wüssten und schließlich kam eines Tages ein junger Gelehrter namens Wissenschaftler zu ihm.
Wissenschaftler sagte, er könne Schattenmann für immer vor der Sonne schützen, aber um das möglich zu machen müssten alle Menschen in Kuppelstadt mithelfen. Also forderte Schattenmann sein Volk auf Wissenschaftler alles zu geben was er benötigte und Wissenschaftler baute daraus einen schwarzen Stern.
Dem schwarzen Stern gab er den Namen Satellit und er schickte ihn hinauf in den Himmel. Von da ab war Satellit der Beschützer von Schattenmann. Wo immer Schattenmann auch hin ging, Satellit war zwischen ihm und der Sonne und hielt sie davon ab auf ihn zu scheinen. Er hatte seine eigene Nacht, groß wie ein Dorf, die ihm überallhin folgte.
So verließ Schattenmann Kuppelstadt und ging mit seiner Nacht in die Welt hinaus, um zu sehen was daraus geworden war.“
Nun wollen die Kleinen natürlich wissen, wo Schattenmann hingegangen ist und Jonathan weiß auch auf diese Frage Antwort.
„Er wanderte viele Jahre allein in der Welt herum und besuchte die Länder die er aus früheren Zeiten kannte. Er lebte am Tage und schlief in der Nacht, genau wie die Menschen es früher getan hatten und viele Hüter berichteten davon, ihn gesehen zu haben. Schattenmann war nicht an den Menschen interessiert die in der Nacht lebten. Er suchte nach Menschen wie er einer war. Menschen aus der alten Zeit des Tageslichts, aber er fand niemanden mehr, auf der ganzen Welt nicht.
Nach vielen, vielen Jahren wurde Schattenmann der Suche überdrüssig und er beschloss, nach Kuppelstadt zurückzukehren.
Aber dort war niemand mehr der ihn empfing. Wissenschaftler hatte für Satellit so viele Dinge von den Menschen von Kuppelstadt gebraucht, dass sie, schon bald nachdem Schattenmann sie verlassen hatte, dort nicht mehr weiterleben konnten. Viele von ihnen waren gestorben und die anderen waren weggegangen.“
„Was hat Schattenmann dann gemacht?“ Normalerweise fragen die Kleinen zuerst, wohin die Menschen von Kuppelstadt gegangen sind, aber es geht auch so.
„Schattenmann war traurig. Er hatte sein Volk verloren. Er lebte eine Weile in Kuppelstadt aber er konnte es bald nicht mehr ertragen allein zu sein. Auch in der Außenwelt wollte er nicht leben, denn er hatte Angst vor Menschen wie uns. So wurde Schattenmann sehr einsam und sehnte sich schließlich nach dem Tod. Aber er war unsterblich und seine Ärzte, die ihm die Unsterblichkeit nehmen konnten, waren weg. Schattenmann wusste nur eine Möglichkeit um zu sterben. Einzig die Sonne konnte ihm den Tod bringen. Er beschloss, Satellit wegzuschicken, damit das Tageslicht auf ihn treffen konnte. Aber Satellit gehorchte ihm nicht. Schattenmann konnte nicht sterben. Auch wenn er es gerne wollte, das Licht der Sonne war für ihn unerreichbar. Die Nacht folgte ihm, wo immer er auch hinging“
Für einen kurzen Moment blickt Jonathan in die staunenden Augen der Kleinen, bevor er fortfährt.
„Und so wandert Schattenmann bis heute über die Erde, auf der Suche nach dem Tod. Er meidet unsere Dörfer zwar, aber manchmal ist er so einsam, dass er kommt um nach kleinen Kindern zu suchen. Er nimmt sie mit und macht sie müde, damit sie in der Nacht schlafen. Er bringt sie fort, in die Berge, wo sie für immer bei ihm bleiben müssen, denn sie können seiner Nacht nicht entkommen. Also, passt gut auf, wenn plötzlich am Tage das Licht verschwindet, dann kommt Schattenmann.“
Das ist das Stichwort. Der Lichtstrahl geht aus und die Kleinen fürchten sich. Sie beginnen zu schreien und manche weinen. Ich umarme meine Nichte und sage ihr, dass sie keine Angst haben muss. Ich weiß, dass Jonathan das Loch von seinem Platz aus öffnen und schließen kann. Ich glaube schon lange nicht mehr an Schattenmann.
Gleich darauf ist der Spuk zuende, der Lichtstrahl erscheint wieder und Jonathan lacht.
„Na, Ihr kleinen Angsthasen. Ich erzähle euch jetzt wohl besser eine lustige Geschichte.“
Plötzlich öffnet sich die Tür der Haupthalle und ein Hüter tritt ein. Er nimmt seinen Helm ab. Sein verschwitztes Haar klebt ihm an der Stirn. Er muss in Eile sein, denn er keucht als er spricht: „Es tut mir leid dich gerade jetzt zu stören, Jonathan, aber es ist wichtig. Wir brauchen den Rat eines Wissenschaftlers“
Jonathan scheint ungehalten. Er erhebt sich und geht zu dem Hüter hin. Sie flüstern, aber ich sitze nahe genug um zu hören was Jonathan zu ihm sagt: „...warum muss ich jeder Generation immer wieder aufs neue sagen, ihr sollt mich vor den Kindern nicht Wissenschaftler nennen...“
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Siehst du das Licht am Tage schwinden, den Sonnenschein macht er zur Nacht.
Zu fragen dich, will er dich finden: hast du mir den Tod gebracht?