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Schattenfinger
Es ist immer das Gleiche, dachte Oma Almuth und verkniff sich das Grinsen. Magnus, ihr Sohn, stellte den Motor wieder ab und drehte sich nach hinten. Die Zwillinge saßen angegurtet und mit Nackenkissen geschützt auf den Rücksitzen. Jeder hatte einen Fensterplatz mit genügend Abstand zum anderen. Ellenbogen- und Beinfreiheit waren oberstes Gebot bei einer längeren Nachtfahrt. Auf dem mittleren Sitzplatz lagen ihre Rucksäcke, vollgestopft mit Büchern, Spielkram, dem Bären Kalle und dem Fuchs Lasse. Sie hatten die Rucksäcke selbst gepackt. Ihre Kuscheldecken lagen griffbereit im Kofferraum. Almuth steckte den Kindern noch zwei Packungen Gummibärchen durchs Seitenfenster zu.
"Nicht alles auf einmal", ermahnte sie, "lasst noch was für die Rückfahrt übrig."
„Alles klar bei euch? Muss noch einer aufs Klo? Jetzt wär die letzte Gelegenheit.“
Magnus richtete erneut die Rückspiegel, trommelte aufs Lenkrad und überprüfte noch einmal die Daten auf dem Navi.
„Ich muss“, sagte Daniel, zerrte am Sicherheitsgurt und stieg aus.
„Ich muss auch“, echote Simon und spurtete hinter seinem Bruder her.
„Sagt eurer Mutter, wenn sie nicht in sieben Minuten im Auto sitzt, fahren wir ohne sie los.“
Almuth schaute auf die Uhr.
„Wolltet ihr nicht schon an der Grenze sein? Hoffentlich gibt es keine Staus. Peter hat mir erzählt, dass die Kontrollen zur Zeit ziemlich gründlich sind. Vielleicht müsst ihr doch in zwei Etappen fahren. Macht doch einen Zwischenstopp in ...“
„Mama! Keine Ratschläge, bitte. Wir ziehen das jetzt durch. Auf dem Campingplatz kann man auch nachts ankommen.“
Magnus drückte zweimal auf die Hupe.
„Hör mal, Sohn. Auf was muss ich denn diesmal achten? Habt ihr mir den Briefkastenschlüssel rausgelegt?“
„Alles geregelt, Mama. Wenn es Sturm gibt, musst du die Jalousien hochziehen.“
„Weiß ich. Blumen gießen, den Rasen sprengen, Spülmaschine öffnen. Außerdem gibt es ja Telefon. Ihr gebt mir doch Bescheid, wenn ihr angekommen seid? Egal, wie spät es ist.“
„Klar, Mama. Verdammt, wo bleiben die nur?“
Endlich saßen alle im Wagen. Die Buben hatten sich zum dritten Mal von der Oma drücken lassen, Regina hauchte ihrer Schwiegermutter ein „Danke, Oma“ ins Ohr, dann rollte der Van auf die Straße. Almuth winkte, bis das Auto abbog. Endlich! Jetzt war eine Tasse Ingwertee genau das Richtige.
Kurz vor der Tagesschau machte Almuth ihre erste Runde durch das große Haus. Im Keller brannte Licht. Damit hatte sie gerechnet. Das kam öfter vor, weil die Kinder im großen Waschraum Tischtennis spielten. Hinter der Dartscheibe befand sich der Safe, in der Wand eingemauert. Darin lag der Familienschmuck aus vier Generationen. Früher hatten sie ihn im Sofa versteckt, bis Reginas Mutter dringend den Einbau eines Safes empfohlen hatte. Was sich noch darin befand, wusste Almuth nicht. Wahrscheinlich wichtige Dokumente. Vielleicht etwas Bargeld. Sie hätte nachschauen können, denn seit einiger Zeit hatte sie einen Zettel mit dem Code im Schreibtisch liegen.
„Wir wollen, dass du die Zahlen im Ernstfall rausgeben kannst. Nicht, dass du die Heldin spielst.“
„Aber wozu braucht ihr dann den Safe?“
„Es könnte ja mal eingebrochen werden, wenn keiner im Haus ist. Sicher ist sicher.“
Almuth mochte sich ein Vis-à-Vis mit einem Einbrecher nicht vorstellen. Wozu sich die Zahlen merken? Im Ernstfall würde sie vor Schreck sowieso alles durcheinanderbringen. Ihr Gedächtnis ließ sie manchmal im Stich, außerdem waren Namen und Zahlen noch nie ihre Stärke gewesen.
Am Chambrair, dem Allerheiligsten in diesem Haus, klebte ein Zettel: Bitte ungestört lassen! Es gab noch weitere, offene Weinregale. Almuth nahm sich eine Flasche Spätburgunder vom Kaiserstuhl heraus. Nicht, dass sie die auf einen Schlag austrinken wollte, sie musste vorsichtig sein. Aber so ein Schlückchen vor dem Schlafengehen … Den Rest konnte sie ja zum Kochen verwenden.
In die beiden Kinderzimmer warf sie nur einen kurzen Blick. Da würde sie nichts anrühren, obwohl es sie in den Fingern juckte. Das wäre gegen die Absprachen. Die Kinder sollten selber Ordnung schaffen, auch wenn es bisher immer im Chaos endete.
In der Küchenzeile öffnete sie die Tür der Spülmaschine. Die konnte sie ausräumen, wenn die Blumentöpfe fällig waren. Jetzt wollte sie in ihrer eigenen kleinen Wohnung im Anbau einen Happen essen und dann in Ruhe fernsehen, Donna Leons Venedigkrimi mit dem smarten Commissario und dem eitlen Vice-Questore. Es war die dritte Wiederholung von Acqua alta, ihrem Lieblingsfilm. Er weckte jedesmal wehmütige Erinnerungen. Genau so ein Hochwasser hatte sie in der Lagunenstadt zweimal auf der Hochzeitsreise erlebt, mit Hans (eine Woche) und mit Achim (drei Tage). Ach ja, lange her. Sie war schon eine Weile nicht mehr verreist. Am liebsten fuhr sie mit der Bahn. Fliegen war gar nichts für sie. Zu aufregend.
Nach dem Film zappte sie noch eine Weile hin und her. Bloß keine Talkshow, vielleicht Sport? Lieber eine Satiresendung. Aber sie fand nichts Passendes. Da konnte sie ihre neuen Hörgeräte ins Etui zurücklegen, so richtig hatte sie sich ohnehin noch nicht daran gewöhnt. Geräusche, vor allem, wenn sie plötzlich auftraten, ließen sie zusammenzucken und das Adrenalin hochschießen.
„Brauchst du die wirklich, Oma? Darf ich mal probieren?... Sind die winzig! Mann, die fallen ja gar nicht auf.“ Die Zwillinge waren technisch sehr interessiert. Beide wollten später gemeinsam auf einem Raumschiff anheuern.
„Eure Oma will schon noch mitkriegen, was um sie herum passiert. Aber sie wird halt alt.“ Prompt kam Widerspruch.
„Ach Oma, du doch nicht, du wirst bestimmt hundert, und dann schicken wir dir eine SMS von der Voyager. Bestimmt kannst du dann noch lesen. Du hast ja auch schon eine Brille.“
Almuth war müde und unruhig zugleich. Das selbstverordnete Quantum Schlummertrunk hatte sie schon geringfügig überschritten. Einige Male meinte sie, ein Klopfen in dem Raum über ihrem Wohnzimmer zu hören. Aber dann waren es nur die Glyzinienschoten, die oben gegen die Fensterscheiben schlugen. Irgendwann musste doch der Anruf aus Frankreich kommen! Sie verbot sich, an einen Unfall zu denken. Und sie wusste aus Erfahrung, dass ein sofortiger Anruf nicht auf der Dringlichkeitsliste ihres Sohnes stand.
„Keine Nachrichten sind gute Nachrichten“, pflegte er zu sagen, „lass uns doch erst ankommen.“
Regina könnte sich ja auch melden, die weiß doch, wie wichtig es mir ist. Oder bin ich überängstlich? Und wenn ich sie auf ihrem Handy anrufe? Nee, dann kriegen sie bloß einen Schreck.
Sie wusste, wie wichtig der Urlaub für Magnus war. Er brauchte dringend Abstand von seinem Büro. Aber Vorträge über Entschleunigung konnte er von seiner Mutter überhaupt nicht vertragen. Und schon gar nicht, wenn er ihre Sorge um seinen Gesundheitszustand heraushörte.
Durch die weit geöffnete Tür zur Terrasse wehte eine kühle Brise ins Zimmer. Am Nachthimmel stand ein Mond, dem nur wenige Tage zur vollen Größe fehlten. Almuth hatte schon gegen Abend das Außenlicht eingeschaltet. Sie hoffte, das würde Einbrecher abschrecken. Jetzt verwandelte das Licht die weiße Wand hinter dem dunklen Fernsehschirm in eine Kinoleinwand.
Als sie aufstand, sich dehnte und die Arme bedächtig nach oben und zur Seite streckte, erschien auf der Wand ein schmaler, in die Länge gezogener Schatten. Er hob und senkte die Arme genau wie sie, im gleichen Rhythmus. Auch die Beugung nach der Seite kopierte er. Allerdings schien er weiter auszuholen, und die Hände zeigten sich mal spinnenartig, dann wieder klumpig, je nach dem Winkel, zu dem sie zur Zimmerwand stand.
Seit Almuths Arzt festgestellt hatte, dass sie mit dem WPW-Syndrom „gesegnet“ war, achtete sie auf kontrollierte Bewegungen, um ein plötzliches Herzrasen zu vermeiden. So ein Anfall war unangenehm und anstrengend, auch wenn nach spätestens zwanzig Minuten das Herz genauso plötzlich in seinen normalen Rhythmus zurückfand. Meistens war alles harmlos. Magnus und Regina wussten nichts von dieser Krankheit. Almuth hatte die wenigen Anfälle seit ihrem Einzug ins Haus geschickt verschleiert. Ein Schluck kaltes Wasser konnte das Herzrasen stoppen. Sie könnte sich auch operieren lassen, ihr Arzt hatte es ihr dringend angeraten. Einmal, als sie ganz allein in Rom umherlief, war sie auf der Straße zusammengebrochen und mit Blaulicht in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Ein Arzt, der zum Glück etwas Deutsch sprach, verpasste ihr eine Spritze und ließ sie einen Nachmittag lang auf einer Liege im Flur beobachten. Sehr ärgerlich, weil sie ja ganz genau wusste, dass es nur blinder Alarm war.
Der Schatten an der Wand erinnerte Almuth an ihre Kinderjahre. Da gehörten Schattenspiele zum Repertoire, wenn Freunde zum Übernachten eingeladen waren. Und Spiele, in denen es ums Gruseln ging. Alle setzten sich bei abgedunkelten Lampen (Kerzen waren verboten) im Kreis um den Erzähler:
„In einem dunklen, dunklen Wald,
da steht ein dunkles, dunkles Haus.
Und in dem dunklen, dunklen Haus,
da ist ein dunkles, dunkles Zimmer.
Und in dem dunklen, dunklen Zimmer,
da steht ein dunkler, dunkler Schrank.
Und in dem dunklen, dunklen Schrank,
da ist … … der TEUFEL!“
Egal, wie oft und in welcher Variante diese Geschichte geflüstert wurde, es gab immer welche, die bei „der Teufel“ aufschrien und kreischten, so dass sie nur durch eine Kanne Kakao beruhigt werden konnten.
Almuth setzte sich wieder. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Ob sie noch mit den Händen Schattenfiguren fertigbringen würde? Darin war sie einmal sehr gut gewesen. Und damit könnte sie auch die Zwillinge überraschen, gerade dann, wenn die dunkle Jahreszeit begann. Morgen würde sie mal im Internet nachforschen. Bestimmt gab es dazu Bücher oder Filme.
Die Gans und der Wolf klappten auf Anhieb, bei der Schnecke musste sie erst herumprobieren, aber nach einer Weile sah die auch ganz echt aus.
Almuth vergaß die Zeit. Sie tauchte in ihre Kindheitserinnerungen und entdeckte immer neue Bruchstücke von Schattenfiguren, exotische Tiere, Blumensträuße, sogar menschliche Gestalten. Wenn sie die zum Laufen bringen könnte, wäre das perfektes Kino.
Am besten gleich ausprobieren.
Sie stand auf und trat einen Schritt zurück. Sofort erschien wieder ihr langer Schattenavatar. Sie setzte die Zeigefinger links und rechts vor die Stirn und drehte den Kopf langsam hin und her. Der Schatten bekam etwas Teuflisches. Super, es sah richtig gruselig aus. Sie machte zwei Wiegeschritte zur Seite und der Teufel tanzte mit. Nun erschien neben ihrem Schatten ein zweiter, deutlich größer und gedrungener. Wo kam denn der plötzlich her? Konnte etwa ein Schatten seinen eigenen Schatten produzieren? Interessanter Gedanke. Aber warum hatte der denn keine Hörner? Der Doppelgänger hatte einen Arm erhoben, der Lauf einer Pistole zielte ins Zimmer. Ein Einbrecher!
Almuth drehte sich abrupt um, sah einen Mann in der Tür stehen und ihr Herz fing an zu rasen.
„Was … was wollen Sie … verschwinden Sie, hauen Sie ab … " Sie musste nach Luft ringen, ihre Knie gaben nach und sie sank aufs Sofa.
Super-GAU, worst case, dachte sie, wenn man den Teufel an die Wand malt …
Beinahe hätte sie gelacht, wenn ihr Herz nicht so rasend schnell und immer lauter gepocht hätte.
„Um Gottes Willen, Frau Birmelin, habe ich Sie erschreckt?“
„Herr … Herr Schalck, Sie sind das. Warum schleichen Sie denn hintenrum durch den Garten? Sie hätten doch klingeln können ... O Gott, ich kann jetzt nicht reden … Bitte holen Sie mir ein Glas Wasser aus der Küche.“
Tatsächlich beruhigte sich der Herzschlag nach genau fünfzehn Minuten. Herr Schalck, der Nachbar, saß stumm wartend auf dem anderen Sofa.
„Nun?“
„Ich hab ja geklingelt, aber Sie haben anscheinend nichts gehört. Ihre Schwiegertochter ...“
„Ja, was ist mit ihr?“
„Also Ihre Schwiegertochter hat mich gebeten, ein Auge auf Sie zu haben, ich meine, auf das Haus. Sie wissen ja, in letzter Zeit, die Einbrüche ...“
„Ich verstehe nicht ganz. Haben Sie denn jemanden beobachtet?“
„Nein, nein. Aber wissen Sie, weil doch so lange das Terrassenlicht gebrannt hat … und das kam mir komisch vor, wo doch Ihre Familie heute Nachmittag losgefahren ist … Wenn Ihnen jetzt etwas zugestoßen wäre? Geht es Ihnen wieder besser?“
Almuth sah, wie sein Blick an der angebrochenen Rotweinflasche hängen blieb.
„Möchten Sie ein Glas, Herr Schalck? Ich muss leider passen. Im Moment wäre es nicht so günstig für mich.“
Es wurde noch eine fröhliche Stunde zu nachtschlafender Zeit, besonders, als Almuth nach der Pistole fragte.
„Was denn für eine Pistole?“
„Na die, mit der Sie hereingekommen sind. Ich hab sie doch in Ihrer Hand an der Wand gesehen!“
Herr Schalck begriff nicht gleich. Erst als sie die Situation nachstellten, kam heraus, dass eine Hand, die an eine Glastür klopft, im Schattenbild wie eine Pistole aussieht.
„Guter Trick“, sagte Herr Schalck aufgeräumt, „ich glaube, wir sollten in den nächsten Tagen diese Experimente fortsetzen.“
Und dann kam er, der erlösende Anruf, kurz und knapp.
„Alles gut bei dir, Oma?“
„Alles gut. Und bei euch?“
„Auch alles gut. Wir sind todmüde. Du hörst wieder von uns.“
Wenn ihr zurückkommt, habe ich bereits einen Operationstermin, den krieg ich ganz schnell, wenn ich will. Wird eine Überraschung für euch sein. Dann ist hoffentlich wirklich alles gut.