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Schattenfeuer – Ende und Anfang
Ich kann die Hitze des Feuers beinahe auf meinen krampfhaft in die Baumrinde gekrallten Fingerspitzen fühlen. Das leise Knacken der Holzscheite hallt in meinen Knochen wider. Selbst auf diese sichere Entfernung von mehreren Metern lösen die hellen, behäbig tanzenden Flammen ein Gefühl von Zerrissenheit in mir aus: Faszination und Ablehnung. Sehnsucht und Furcht.
Ich schlucke schwer und zwinge mich, den Blick vom Lagerfeuer abzuwenden. Darum verteilt, auf lumpigen Decken sitzend, erspähe ich eine heruntergekommene Gruppe von Männern Es sind fünf – mein Glück! Normalerweise sind selbst Gildenlose nicht derart leichtsinnig, in Rotten von weniger als zehn Mann durch die Wälder zu ziehen - viel zu gefährlich! Vielleicht wurden sie von ihren Kumpanen getrennt, oder haben sie bei sinnlosen Streitigkeiten selbst getötet – zuzutrauen wäre es ihnen, so zerfressen von Hass, wie sie oft sind. Hass auf die Gilden, Hass auf Fähigkeiten und Privilegien, die ihnen von Natur aus verwehrt wurden.
Ich kann trotzdem kein Mitleid mit ihnen empfinden. Obwohl wir uns seit Kurzem ähnlicher sind, als ich es mir jemals hätte träumen lassen.
In diesem Moment interessieren mich jedoch einzig und allein der Geruch von gebratenem Fleisch, der mir das Wasser im Mund zusammen laufen lässt, und die prallen Säcke mit Vorräten, die sie etwas abseits übereinander gestapelt haben. Leider ohne Waffen. So leichtsinnig sind selbst sie nicht!
Ich atme noch einmal tief ein, dann werfe ich den Stein, den ich seit geraumer Zeit in der rechten Hand umklammert halte. Er trifft sein Ziel sofort.
Mit heftigem Zischen und Rascheln lösen sich all die Äste und jungen Baumtriebe, die ich in mühevoller Kleinarbeit zusammen gebunden habe - ein herrliches Lärmspektakel, welches alle fünf Gildenlosen augenblicklich in die Höhe schnellen lässt. Binnen Sekunden sind vier von ihnen im Wald verschwunden.
Der Letzte bleibt ihnen misstrauisch nachblickend zurück. Dann liegt er plötzlich ausgestreckt auf dem Boden, während ich schon zwei Vorratssäcke links und rechts geschultert habe, und mich auf dem Rückweg ins schützende Dickicht befinde. Leider scheine ich nicht fest genug zugeschlagen zu haben. Ein heftiger, unerwarteter Hieb gegen die Schläfe reißt mich wie eine Spielzeugpuppe von den Beinen, die blitzende Klinge eines Messers verfehlt nur um Haaresbreite meine ungeschützte Kehle. Dann renne ich, so schnell mich meine Beine tragen, ohne noch einmal zurück zu schauen, bis meine Lunge zu explodieren scheint.
Keuchend und den Tränen der Frustration nahe, halte ich schließlich inne. Ich bin mit dem Leben davon gekommen, dafür sollte ich dankbar sein. Doch meine Beute ist fort - eine weitere Nacht voll quälender Schmerzen des Hungers wartet auf mich.
„Ich glaube, du hast das hier vergessen.“
Wie elektrisiert fahre ich herum, die Hände schon halb über dem Messergriff an meinem Gürtel. Zu meiner Verblüffung tritt mir aus dem Schatten des Dickichts jedoch kein Gildenloser gegenüber, sondern ein junger Mann, kaum älter als ich. Meine beiden ergatterten Vorratssäcke lässig über die Schultern gehängt und ein überaus zufriedenes Grinsen in seinem offenen Gesicht.
„Für ein Mädchen im Alleingang hast du eine beeindruckende Show abgezogen. Ich musste eigentlich nur noch die Früchte deiner Ernte mitnehmen.“ Er lässt die Säcke zu Boden fallen.
„Wer bist du?“, frage ich lauernd, die Hand noch immer einsatzbereit über dem Messergriff.
Sein Blick wird augenblicklich ernst. „Eran. Gilde der Wasserweber. Ich tue dir nichts.“
Ein prüfender Blick auf das eingestickte Symbol über seiner linken Brust bestätigt seine Behauptung und allmählich entspanne ich mich ein wenig. Ich nicke langsam. „Ich bin Ruby, Gilde der Feuerweber.“
Ein interessiertes Flackern erhellt sein Gesicht. „Ernsthaft? Ich habe noch nie einen von euch getroffen. Könnt ihr wirklich Flammen erschaffen so hoch wie Hausdächer?“
“Ja,“ erwidere ich tonlos. „Aber wenn dir dein Leben lieb ist, dann frage mich nie wieder danach. Ich bin nicht mehr bei ihnen und das hat gute Gründe.“
Er runzelt kurz die Stirn, akzeptiert meine Schroffheit aber anstandslos. Zu meiner grenzenlosen Verblüffung lässt er sich sogar einfach auf dem trockenen Waldboden nieder und öffnet den Verschluss des größeren der beiden erbeuteten Säcke. Irritiert starre ich ihn an.
„Was ist?“, fragt er spöttisch. „Wir haben es ausschließlich einander zu verdanken, dass wir diese kulinarischen Schätze ergattert haben. Findest du nicht, dass wir uns zusammen tun und die Früchte unserer Arbeit gemeinsam genießen sollten?“
Ich weiß noch immer nicht recht, was ich von seiner ungewöhnlichen Großzügigkeit halten soll. Als er aber mit verführerisch klingendem Knacken in einen saftigen Apfel beißt, kann ich einfach nicht mehr anders. Binnen Sekunden bin ich neben ihm und habe mir ein großes Stück kräftig schmeckendes Brot in den Mund gestopft.
Er lacht leise. „Wusste ich doch, dass eine anständige Mahlzeit der beste Weg zu wahrer Freundschaft ist.“
Ich grinse breit, kann aber nicht antworten, da mein Mund viel zu sehr mit Kauen beschäftigt ist. Wider Willen muss ich gestehen, dass Eran mir sympathisch ist. Und dass ich insgeheim froh bin, wieder Gesellschaft zu haben.
„Was verschlägt einen Angehörigen der Wassergilde in die Wälder,“ wage ich schließlich zu fragen, nachdem ich so satt bin, dass nicht einmal mehr der Anblick des knusprigen Hähnchenschenkels in Erans Hand mich schwach werden lässt. Dass ich nicht über mich sprechen möchte, heißt ja nicht, dass das auch umgekehrt gilt. „Lebt ihr nicht eigentlich am Meer?“
Erans Miene wird dunkel, so dunkel und in sich gekehrt, dass ich die Abwesenheit seines Lächelns plötzlich als Verlust empfinde. Und mir wünsche, nicht gefragt zu haben.
Dann sagt er jedoch leise. „Ich bin auf der Suche. Nach meinem Bruder Roan.“ Der Schmerz in seinen ebenmäßigen Gesichtszügen ist beinahe körperlich spürbar.
„Was ist mit ihm passiert?“, flüstere ich erstickt.
„Wenn ich das nur wüsste!“ Eran fährt sich mit den Händen durch das kurze, dunkelbraune Haar. „Er ist vor einigen Monaten spurlos verschwunden. Einfach so. Ohne ein Wort des Abschieds oder der Erklärung.“
„Und jetzt versuchst du, ihn zurück zu bringen?“
Eran nickt. Zögerlich. „Ich bin nicht dumm, Ruby. Ich kenne diese Welt und ich bin nicht so naiv zu glauben, dass alles in ihr gut und sicher ist. Wenn Roan etwas zugestoßen sein sollte und auch wenn er... wenn er tot sein sollte. Dann muss ich das wissen. Ich muss es einfach wissen.“
Ich erwidere nichts, doch der Blick, den er mir aus seinen grünbraunen Augen zuwirft, versichert mir, dass das auch nicht nötig ist.
Seine Offenheit berührt mich. Und vermittelt mir das plötzliche Bedürfnis, ihm wider alle Vernunft auch mein Geheimnis anzuvertrauen.
„Meine Gilde hat mich verstoßen,“ entfährt es meinen Lippen leise, ehe ich sie rechtzeitig schließen kann, um Schlimmeres zu verhindern.
„Verstoßen?“ Ungläubiges Entsetzen schwappt wie eine Flutwelle über Erans Züge. „Können sie so etwas denn tun? Warum? Was ist mit deinen Eltern? Oder eurem Gildenführer?“
Sein empörter Redeschwall bringt mich trotz des Schmerzes in meinem Herzen zum Schmunzeln. Als ich spreche, ist der harte Stachel der Bitterkeit in meinen Worten aber unüberhörbar.
„Sie können, glaub’ mir. Oder vielmehr er kann. Mein Vater ist gleichzeitig auch unser Gildenführer. Und er hat mich fort geschickt, weil ich meine Kräfte verloren habe.“
Eran starrt mich fassungslos an. „Du hast deine Kräfte verloren?“
Ich nicke und meine Wangen brennen. Nicht jedoch vor Wut oder Trauer, wie er jetzt vermutlich glauben wird. Sondern vor Scham. Scham über diese Lüge und am allermeisten über mich selbst.
Aber ich kann ihm die Wahrheit nicht sagen. Kann ihm nicht gestehen, dass ich sehr wohl Feuer erzeugen und Flammen aus dem Nichts in den Himmel tanzen lassen kann. Wie soll ich ihm erklären, dass diese Flammen anders sind? Nicht rot und gelb leuchtend wie die der anderen, sondern schwarz, kalt und teerig? Dass sie wie Schatten aus meinen Händen wirbeln und in abstoßender Anmut in den Himmel lecken. Rabenschwarz. Immer nur schwarz.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich noch immer die Furcht und das Entsetzen in den Blicken meiner Eltern sehen, als ihnen bewusst geworden ist, dass ihre Tochter niemals normal sein wird. Dass ich verschmutzt und dunkel bin.
Ich kann nicht zurück. Kann ihnen nicht noch einmal unter die Augen treten. Und am allerwenigsten mir selbst.
Erans Blick sucht meinen, und zu meiner Überraschung liegt darin nicht nur Mitgefühl, sondern auch Hoffnung.
„Hast du eine Erklärung, dafür, Ruby?“
Für einen Augenblick befällt mich Panik, weil ich glaube, dass er irgendwie hinter mein wahres Geheimnis gekommen sein muss. Dann wird mir klar, dass er von dem angeblichen Verlust meiner Kräfte spricht und ich schüttele den Kopf. Mein Herzschlag beruhigt sich wieder. Auch in einer Welt ohne düstere, teerige Schattenflammen ist der Verlust der Gildenkräfte meines Wissens nach noch nie vorgekommen.
Eran greift unwillkürlich nach meiner Hand. Fiebrige Aufregung hat plötzlich von ihm Besitz ergriffen und ich habe keinen blassen Schimmer, warum.
„Ich suche seit einiger Zeit nach dem Orakel“ lässt er die Bombe schließlich mit verschwörerischer Miene platzen.
Als ich keine Reaktion zeige, fährt er einfach fort.
„Hast du wirklich noch nie von ihm gehört? Im ganzen Land gibt es immer nur ein einziges, niemand weiß, ob Mann, Frau oder Kind. Aber was immer es auch ist, es vermag sowohl in die Zukunft als auch in die Vergangenheit zu blicken und dir jede Frage, die dir auf dem Herzen liegt, zu beantworten.“
„Du meinst...?“, frage ich zögerlich und mir wird ganz schwindelig von dem Versuch, meine aufkeimende Hoffnung zu unterdrücken.
Eran nickt begeistert. „Genau. Wir könnten es aufspüren! Du würdest fragen, wieso deine Kräfte dich verlassen haben, und ich könnte herausfinden, was mit Roan geschehen ist.“
Ich wage noch immer nicht, die helle Hoffnung bis in mein Herz vordringen zu lassen. „Du sagst, du suchst bereits nach einiger Zeit nach dem Orakel,“ wende ich stirnrunzelnd ein.
Eran seufzt niedergeschlagen. „Das ist der wunde Punkt. Ich sagte ja schon, dass es im ganzen Land immer nur ein einziges gibt. Und wenn dieses Orakel stirbt, dann erwacht irgendwo ein anderes, aber niemand weiß, wann, wo oder wie.“
Ich ahne es schon, ehe er es endgültig ausspricht. „Das alte Orakel ist fort. Nicht wahr?“
Er nickt ernst. „Er. Es war ein Mann. Er hat unter den Leuten der Luftgilde gelebt, bevor er bei einem schlimmen Unwetter in seinem Haus ertrunken ist. Ich habe ihn vielleicht um einen Monat verpasst.“
„Und jetzt könnte das Orakel überall sein?“, frage ich unglücklich. „Vielleicht sogar ein Baby, das noch nicht einmal richtig sprechen gelernt hat.“
Eran sieht mich bloß an, aber das reicht aus, um meine schlimmsten Ahnungen bestätigt zu sehen.
„Es kann Jahre dauern, bis wir überhaupt nur auf eine Spur stoßen, ist dir das überhaupt klar?“, frage ich schrill.
„Haben wir eine Wahl?“, kontert er ruhig. Die Art, wie er mich dabei ansieht, so gefasst und doch mit solch unerschütterlicher Zuversicht erfüllt, lässt mich von jetzt auf gleich ganz friedlich werden. Er hat Recht.
Mit einem Mal macht mir der verwirrende Gedanke, dass er ganz selbstverständlich von wir spricht, ebenso wenig mehr Angst wie die Vorstellung, jahrelang einem Phantom hinterher zu jagen, von dessen Existenz ich noch nie zuvor gehört habe. Ich kann ohnehin nicht zurück. Was kann schon schlimmer sein, als weiterhin dieses trostlose Dasein zu fristen, allein, und ohne Hoffnung auf Veränderung?
„Nein“, sage ich langsam und ein Lächeln schleicht sich allmählich in meine Mundwinkel, so breit, dass es beinahe schon weh tut. „Nein, haben wir nicht. Ich bin dabei!“
Es ist Nacht. Die fernen Sterne bilden feine Lichtsprenkel auf dem dunkel-düsteren Flickenteppich aus lichtem Blätterdach und Nachthimmel über unseren Köpfen. Der Wind flüstert raschelnde Botschaften in mein Ohr, mal schwächer, mal eindringlicher.
Ich kann Erans leises Schnarchen neben mir vernehmen, rhythmisch im Takt seiner fließenden Atmung, während ich nach oben starre, die Arme unter dem Hinterkopf verschränkt.
Drei Wochen ist es mittlerweile her, dass Eran und ich uns bei unserem improvisierten Beutezug begegnet sind. Noch nie in meinem Leben habe ich so viele Kilometer an Wegstrecke zurückgelegt, wie seit diesem denkwürdigen Tag.
Bereits nach wenigen Versuchen habe ich aufgehört, die Stadttore zu zählen, die sich vor unseren mickrig erscheinenden Gestalten geöffnet und hinter ihnen wieder geschlossen haben. All die Bauernhöfe und Gildenhäuser, die wir besucht haben, all die Gesichter, die in meiner Erinnerung zu einem einzigen, mitleidig dreinblickenden verschwimmen, das seine offensichtliche Ratlosigkeit jedoch nicht verbergen kann. Nirgendwo eine Spur. Nicht einmal ein Hoffnungsschimmer darauf, irgendwo noch fündig zu werden.
Eran hat es immer wieder geschafft, mich aufzubauen und mir Zuversicht zu schenken. „In der nächsten Stadt, werden wir mehr Glück haben, Ruby.“ Oder: „Wieder ein Ort weniger, den wir noch besuchen müssen.“
Aber in stillen Momenten der Einsamkeit und Selbstzweifel klettern Gedanken wie heimtückische Plünderer in mein Innerstes und flüstern mir zu, dass Eran gut reden hat. Er kann in sein altes Leben zurückkehren – zwar gescheitert, aber nicht endgültig am Boden. Ich dagegen habe nichts und niemanden mehr auf der Welt. Und wenn ich nicht herausfinde, was an mir so entsetzlich falsch ist, dann habe ich auch niemals eine Chance darauf, dieses Schicksal zu ändern. Ich weiß, dass diese Gedanken falsch sind und dass Roans Verbleib Eran alles bedeutet, aber ich kann auch den Stich der heimlichen Eifersucht nicht ignorieren, der mich jedes Mal heimsucht, wenn er seine Kräfte einsetzt. Und sei es nur, um unseren Wasserschlauch neu zu füllen.
Den Kopf noch immer ganz schwer von der Last dieser Gedanken, erhebe ich mich, um ein Stück abseits meine Blase zu entleeren.
Als ich zurückkomme, gefriert mir das Blut in den Adern.
Eran liegt noch immer unverändert schlafend unter dem Baum, an dem ich ihn zurück gelassen habe. Aber über ihn gebeugt steht ein Fremder. Mit einem Messer in der Hand. Bereit zum tödlichen Stich.
All meine Grübeleien sind mit einem Mal wie fort geblasen, zurück bleiben nur grenzenlose Furcht und meine Instinkte. Und die geben mir das Signal, das jeder Angehörige der Feuergilde in diesem Moment erhalten würde: Verbrenne ihn!
Es spielt keine Rolle, wer der Mann ist – vermutlich ein einsamer Plünderer, der sein Glück wider alle Vernunft allein versucht, so wie ich es vor drei Wochen ja ebenfalls war. Es ist auch egal, dass ich noch nie in meinem Leben eine vernünftige Flamme zuwege gebracht habe. Ich weiß nur, dass ich Eran beschützen muss. Und das tue ich!
Zu meiner Verblüffung sprießen die schwarzen Feuerszungen, die ich rufe, beinahe leichtfüßig aus meinen Fingerspitzen und kleben nicht wie zehrender, teeriger Schleim. Sie klammern sich auch nicht böse und besitzergreifend an mich.
Stattdessen scheinen vielmehr lebendige Gestalten, Schattenmenschen, aus waberndem Rauch aufzuerstehen und mich warm und herzlich zu begrüßen. Ihre faserigen, verschwommen umrissenen Körper gleiten lautlos über den Boden, immer und immer mehr von ihnen, und formen einen perfekten Halbkreis, der die Sicht auf Eran und den fremden Plünderer mehr und mehr verdeckt.
Dann steht plötzlich ein Mann vor mir.
Sein Gesicht ist durch die Tatsache, dass er aus dunklem, schwarzem Rauch besteht, nicht vollständig erkennbar und verschwimmt immer mal wieder vor meinen fassungslos blinzelnden Augen. Doch die Ähnlichkeit mit Eran ist unumstritten.
„Ruby,“ flüstert der Mann leise, so leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. „Mein Name ist Roan.“
Mein Herzschlag jagt in schwindelerregende Höhen und ich möchte ihn mit so vielen Fragen bestürmen, doch er legt hastig und demonstrativ einen Finger auf die Lippen.
„Bitte, Ruby. Hör mir einfach nur zu. Ich bin tot. Menschen, von denen ich glaubte, dass sie meine Freunde wären, haben mich verraten und an eine verfeindete Gilde verkauft. Sie haben mich gefoltert, um an Informationen über meine Familie heranzukommen, bis ich meinen Verletzungen erlegen bin.“
Augenblicklich treten andere Gestalten aus dem Halbkreis hervor und untermalen Roans Worte, indem sie Szenen nachstellen, in denen jemand gekidnappt und gefoltert wird. Heftige Übelkeit erfasst mich, als ich erkenne, dass sie nicht nachstellen, sondern wiedergeben. So, wie es wirklich geschehen ist.
Roan zieht meinen Blick wieder auf sich. „Ruby, das hier ist wahnsinnig wichtig! Du bist das neue Orakel! Es ist dir bisher nicht bewusst gewesen, aber du bist es! Und damit hast du die Verpflichtung, allen, die dich fragen, die Wahrheit über das Gesehene zu sagen.“
Er zögert. „Aber diese erste Vision ist noch anders und deshalb kannst du lügen. Bitte. Bitte sag Eran, dass ich mit einem Mädchen davon gelaufen und dann tragisch, aber in Frieden, an einer Vergiftung gestorben sei. Er würde mich rächen wollen, aber es würde ihn nur auffressen. Ihn zu einem Monster machen, das er nicht ist. Den Gildenlosen gleich. Bitte, Ruby, bitte ...“
Er sieht mich unendlich flehend an und ich weiß nicht, warum ich das tue oder warum mein Herz mir sagt, dass es das Richtige ist. Aber ich nicke.
Daraufhin beginnt Roans Gesicht zu zerfasern, er driftet einfach davon. Auch die anderen Gestalten lösen sich auf, die Szene verschwimmt, der Rauch verschwindet. Und dann sehe ich nur noch Eran, der mich mit großen Augen anstarrt. Der Plünderer liegt mit einem Messer in der Kehle am Boden und rührt sich nicht mehr.
„Ruby,“ formt Eran hilflos mit den Lippen. „Du. Das Orakel. Immer nur Du.“
Und dann liege ich plötzlich in seinen Armen und vergrabe das Gesicht an seiner kräftigen Brust, während etwas unsere Körper schüttelt, dass wie Lachen und Schluchzen gleichzeitig klingt. Schon wieder fühle ich so vieles Widersprüchliches zugleich, aber diesmal sind es vor allem Glück und Erleichterung.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragt Eran sehr viel später leise und ich sehe die Furcht vor meiner Antwort in seinem Blick. Das Ende unserer Suche stellt die Frage nach dem Neuanfang.
„Nun,“ erwidere ich lächelnd, während ich zärtlich nach seiner Hand greife. „Ich wollte schon immer mal sehen, wie die Wassergilde so lebt. Ich glaube, wir sollten fortan das Gerücht streuen, dass das neue Orakel am Meer zu finden sei.“