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Schatten
„Wer hätte gedacht, dass der alte Mann noch so viel Blut in sich haben würde?“ Ein seltsamer Moment für ein Shakespeare-Zitat. Sie verzog angewidert den Mund, schüttelte heftig den Kopf und schob den ungewollten Gedanken zur Seite. Seufzend bückte sie sich um das Messer vom Boden zu heben und wischte es sorgfältig ab. Es würde geschärft werden müssen. Sie war ärgerlich. Die geschmacklose Goldkette um seinen dürren, faltigen Hals hatte eine Scharte in der ansonsten makellosen Klinge hinterlassen. Das ihr lieb und teuer gewordene und nun saubere, glänzende Instrument glitt an seinen gewohnten Platz in ihrer grünen Sporttasche. Nachdenklich blickte sie auf den zusammengekrümmten Körper inmitten der langsam grösser werdenden, dunkelroten Lache. Die schwarzen Augen starrten blicklos die Wand an. Die fleckige Unterhose und die schuppige Haut ekelten sie immer noch an. Der Kerl auf dem Boden erfüllte tatsächlich jedes nur erdenkliche Klischee.
Und doch überfielen sie nun erneut Zweifel - gewiss nicht an der Rechtmässigkeit ihrer Tuns - alle Bedenken hatte sie längst hinter sich gebracht. Es waren Zweifel an ihr selbst, nagende Zweifel über ihre Zukunft; würde sie eines Tages die Verantwortung für all dies übernehmen müssen? Was würde dann mit Lily geschehen? Was würde sie davon halten? Würde sie es verstehen? Erneut schüttelte sie den Kopf um die lästigen Gedanken loszuwerden. Jene Entscheidung hatte sie einmal getroffen und sie wusste, dass sie nicht davon ablassen würde. Dies würde sie sich nicht erlauben.
Prüfend wanderte ihr Blick gewohnheitsmässig durch die Wohnung. Sie hatte nichts übersehen. Sie ergriff die Tasche, kontrollierte noch einmal die dicke Mappe mit dem wertvollen Inhalt und trat vorsichtig auf dieselben Stellen wie beim Hereinkommen. Der dicke Teppich verschluckte erneut jedes Geräusch. Auch die massive Eingangstüre mit den vier Schlössern, die sie beim Öffnen noch so viel Zeit gekostet hatten, schwang lautlos ins Wohnungsinnere. Wie viel sie doch über Menschen nur anhand ihrer Wohnungstüren erzählen könnte. Je besser das Schloss, desto mehr verbarg der Bewohner. Auch dieses Mal hatte sie bereits der Anblick der modernen Sicherheitsmassnahmen von der Dringlichkeit ihres heutigen Auftrags überzeugt. Die noch offen herumliegenden Bilder, der versteckte Hohlraum hinter dem Büchergestell mit den nach Alter und speziellen Merkmalen sortierten Fotoalben, sein angsterfülltes, fast schon gewinseltes Geständnis auf Band - es waren Beweise für ihren Kunden, vielleicht sogar einmal für Ermittler. Ihr hatte ein Blick in seine privaten Accounts und eben auf die Wohnungstür gereicht. Die Erfahrung hatte sie auch dieses Mal nicht getäuscht.
Sie betrat den Lift. Nun hatte sie fast sechs Stunden Zeit. Der unschöne Anblick in der Wohnung würde auf jeden Fall nicht vor morgen früh entdeckt werden, vielleicht sogar noch später. Keine Familie, nur Geld. Und er schien abgesehen von seinen gleichgesinnten Spiessgesellen im Netz, keine Freunde gehabt zu haben. Die Lifttüre öffnete sich im Erdgeschoss, die ältere Dame, die davor wartete, liess ihr mit einem freundlichen Lächeln den Vortritt. Sie lächelte zurück, nickte grüssend. Gern geschehen, dachte sie, ich bin froh, dass du nicht weisst, welcher Abgrund sich nur ein paar Meter entfernt von deinem hoffentlich glücklichen Leben auftut. Sorgen brauchte sie sich wegen der kurzen Begegnung nicht zu machen. Später würde sich die Dame nicht mehr an sie erinnern. Zu beliebig ihr Aussehen, zu harmlos ihre Wirkung auf ihre Umgebung - darauf hatte sie sich immer verlassen können.
Ein Stunde später, am anderen Ende der Stadt, ein ungleich schäbigerer Block, eine dieser anonymen Mietskasernen, wo keiner den anderen mit Namen kennt und man sich selbst beim Postholen tunlichst nicht in die Augen blickt - und doch ihr Zuhause. Perfekt geeignet für sie und Lily. Schon im Flur roch sie die Plätzchen; Vanille, Zimt, Orange. Lily hatte gebacken. Dies tat sie in letzter Zeit öfter. Es schien ihr Spass zu machen, sie abzulenken. Sie selber erinnerte der Geruch immer wieder an früher. Und an die helle Welt, die es einmal gegeben hatte.
Sie zog sich aus, legte die Kleider wie üblich in den bereitliegenden Papiersack. Morgen würde sie sich darum kümmern. Das heisse Wasser wusch auch noch die letzten Erinnerungen und Spuren von ihrem Körper. Eingehüllt in ihren Schlafanzug mit der Ente vorne drauf machte sie sich bettfertig. Sie hatten ihn gemeinsam gekauft. Lily hatte ihn entdeckt. Eigentlich waren sie auf der Suche nach einem Schlafanzug für sie gewesen. Aber plötzlich war sie angerannt gekommen. Vor Freude quietschend hatte sie ihr die lustige Ente unter die Nase gehalten. "Guck mal! Für dich! Sieht doch aus wie Sokrates!" Sokrates war einmal ihr gemeinsamer Glücksbringer gewesen, ein gelbes, kleines Gummientchen, das sie überallhin mitnahmen. Warum sie ihn Sokrates genannt hatten, war ihr entfallen. Lily war überzeugt davon, dass Sokrates eine Persönlichkeit hatte. Er begleitete sie auf all ihren Reisen und durfte stets mit auf die Erinnerungsfotos. Es gab sogar haufenweise solche, auf denen nur er drauf war; im Botanischen Garten in Singapur, vor dem Grossen Tempel in Bangkok, natürlich gab es auch dieses eine Foto, auf welchem es so aussah, als stünde er auf der Fackel der Freiheitsstatue. Sie lächelte, diese Erinnerungen machten sie immer wieder glücklich. Und Sokrates 2.0, wie sie ihn nun nannten, machte sich auch gut auf dem Schlafanzug - das stimmte wohl.
Die Tür zu Lilys Zimmer war zu. Sie öffnete sie behutsam. Ein Teller mit einigen wenigen Plätzchen stand auf dem Boden neben dem Bett. Das schwache Licht der Strassenlampen beleuchtete den goldenen Kopf auf dem Kissen. Lily hatte sich fest in ihre Decke gewickelt. Sie schlief tief und schnarchte ganz fein. Als sie auf der letzten gemeinsamen Reise ein Bett geteilt hatten, war ihr dieses leise Schnarchen zum ersten Mal aufgefallen. Lily hatte ungläubig, sogar ein wenig beleidig auf ihre lachend ausgesprochene Feststellung reagiert: "Ich schnarche bestimmt nicht! Das tun doch nur alte, dicke Männer oder solche, die zu viel getrunken haben. Das weisst du ganz genau!" Sie hatte schmunzelnd geantwortet: "Mein Liebling, dann weisst du ja nun, was du bist; in dir versteckt sich ein alter Mann mit einem Alkoholproblem." Wütend hatte sie ihr das Kissen an den Kopf geworfen und sie mit einem zweiten quer durchs Zimmer gejagt, bis sie beide schliesslich lachend und nach Atem ringend auf das Bett gefallen waren.
Leise trat sie näher und strich ihrer Tochter über das Haar und die weichen Wangen. Sie wachte nicht auf, gab aber einen kleinen, unwilligen Laut von sich. Wovon sie wohl gerade träumte? Zum Glück waren es seit mehreren Monaten mehrheitlich gute Träume. Vorbei die Zeiten mit schweissgebadeten Albträumen, nächtlichen Schreien, welche ihr fast das Herz zerrissen hatten. Der Therapeut hatte ihr gesagt, dass sie Geduld haben müsse. Es würde einfach Zeit brauchen und für Lily das Gefühl ihrer bedingungslosen Unterstützung und Liebe. „Sie können es für sie nicht ungeschehen machen. Sie können die Erinnerungen auch nicht einfach auslöschen. Aber Sie können sie jedes Mal im Arm halten, wenn sie wiederkommen.“ Flashbacks hatte er sie genannt, post-traumatische Belastungsstörung, Angststörung - Wörter, die einem buchstäblich fremd sein sollten, die ihr aber nun so vertraut waren, wie alte, ungerufene Bekannte, die einem anderen Leben angehörten und nun ungewollt ständig wieder vor der Türe stehen, sich nicht abwimmeln lassen, die urplötzlich wieder auftauchen, wenn man meint, sie losgeworden zu sein. Schatten, die nun zu ihrer beiden Leben gehörten. Für Lily waren sie endlich etwas tiefer in die Dunkelheit gerückt, liessen sie etwas aufatmen. Für sie waren sie immer noch beständige Begleiter. „Sie haben ein Trauma erlitten. Sie konnten Ihre Tochter nicht beschützen. Sie durchleben tagtäglich die Situation neu und können sie doch nicht mehr ändern. Das sind Tatsachen. Sie geben sich die Schuld daran, obschon Sie genau wissen, dass Sie keine Schuld trifft. Lily macht Ihnen keine Vorwürfe, niemand macht Ihnen Vorwürfe. Nur Sie selbst. Sie müssen einen Weg hinaus finden. Sie müssen für Lily da sein. Sie braucht Sie.“ Worte, die der Therapeut mehr als einmal eindringlich zu ihr gesagt hatte. Sie war für Lily da, immer. Gemeinsam hatten sie einen Weg in eine manchmal vorgespielte Normalität gefunden. Auch sie selbst hatte einen Weg nur für sich gefunden. Keinen Weg, den sie geplant hatte. Dennoch war sie ihn gegangen, fünfmal bereits. Angefangen bei ihm.
Ein leises „Ping“ riss sie aus ihren Gedanken. Sachte schloss sie die Tür hinter sich zu. Das blaue Licht des Laptops leuchtete durch den Spalt ihrer Schlafzimmertür bis in den Flur. Eine Nachricht war eingetroffen. Ein Hilferuf. Ein weiterer Schatten.
Lily schlief.