Was ist neu

Schatten

Mitglied
Beitritt
15.02.2011
Beiträge
9

Schatten

Seitdem die Bewohner der Kleinstadt zurückdenken können, nannte man ihn den „Riesen“. Viele Generationen vor ihnen kannten ihn schon. Er war schon immer da gewesen. Knorrig und hölzern ragte er über jenen auf, die die Brücke überquerten um die Abkürzung in die Stadt zu nehmen, die durch den Wald führte.
Der Riese hieß er, weil er alle anderen seiner Art überragte. Er war besonders, einzigartig und mutig. Mutig, weil er sich traute, anders zu sein.
Und nun ist er tot.
Sie haben ihn ermordet.

*​

Sie sind auf der Party.
Eine atemberaubende, betrunkene Atmosphäre, voller zerlaufener Farben, wie bei einem abstrakten Gemälde.
Ultramarineblau, Karmesinrot, Sonnengelb.
Während Lea tanzt, benennt sie in ihrem Kopf die Farben der bunten Lichter.
Eigentlich will sie Künstlerin werden. Doch nicht hier. Hier ist kein Platz für Entfaltung.

Sie sind die Elite. Keine Party steigt, ohne ihre Anwesenheit.
Ihr Selbstbewusstsein ist es, das alle Anderen in den Schatten stellt.
Wie fünf Heilige, fünf Götter bewegen sie sich anmutig zum Takt der Musik. Keine unüberlegte Bewegung. Nur Perfektion.
Antrainierte Selbstbeherrschung um die eigene Maske nicht zu verlieren.
Falsches Gelächter, hochmütige Blicke.
Nichts davon ist echt.

*​

Die Party ist vorbei.
Zertretene Pappbecher, Glasscherben, vergessene Kleidungsstücke entstellen den zuvor noch makellosen Raum, wie Überbleibsel einer Schlacht.
Fünf Menschen stehen noch auf dem dunklen Parkplatz.
Die Kriegsgötter haben die Schlacht gewonnen.
Es ist gleichgültig, dass niemand mehr nüchtern genug ist, um das Auto zu fahren.
Perfekten Menschen ist alles erlaubt.
Jonas soll fahren. Den Schlüssel bekommt er nur mühsam ins Schloss, das Metall kratzt über den Lack. Gleichgültig lacht er.
„Alter, da lauf ich lieber nach Hause!“, ruft Fabi. Es ist nicht besonders weit, er wohnt am Stadtrand.
Seine Silhouette verliert sich in der Dunkelheit.
Jonas startet den Wagen und steuert ihn unsicher auf die regenasse Straße. Obwohl er so viel getrunken hat, fährt er noch relativ gut. Tessa kurbelt das Fenster herunter und schreit irgendetwas sinnloses in die Nacht. Sie hat wohl am meisten getrunken. Auf dem Beifahrersitz schließt Mike die Augen.

Vor ihnen reckt der Riese seine gewaltigen Arme in den Himmel, als ob er versuchen würde, den Mond zu berühren.
„Vorsicht, Jonas!“, Leas hysterischer Schrei.
Der Wagen schlittert bedrohlich über die Spurrillen.
Jonas lacht nur heiser. „Bleib cool, Lea“
Tessa stimmt mit ein und ihr misstönendes Lachduett hallt einen Moment lang im Wagen wider.
Von dem Rücksitz aus, schlingt sie ihre verschwitzten Arme um ihn.
Jonas schaut in den Rückspiegel, um ihr Gesicht zu sehen. Die Straße verliert er für eine Sekunde aus den Augen.
Fabi sieht er nicht.
Sie spüren die unvorstellbare Kraft des Aufpralls, bevor sie überhaupt realisieren können, was geschehen ist.
Das ekelhafte Geräusch von berstendem Glas, als die Windschutzscheibe nachgibt, den Geruch von verbranntem Gummi, den Geschmack von Blut, all das bekommen sie nur am Rande ihres Wahrnehmungsvermögens mit, wie die Szene eines Filmes, oder einen Traum.
Entsetzlicher, bodenloser Schmerz.
Das Geräusch vierer Herzen, die ihren hektische Rhythmus spielten.
Eines schweigt.
Als Jonas die Augen öffnet, blickt er in das entstellte Gesicht des Riesen. Dicke Risse durchziehen seinen gewaltigen Körper.
Als er starb, war er nach vorn gefallen und hatte den Wagen unter sich begraben.
Sein rechter Zeigefinger bohrt sich in Fabis Kehle.
Regungslos liegt er auf der Motorhaube. Umarmt von dem Riesen.

*​

Wie stumme Fische stehen sie neben dem eingedrückten Wagen.
Schweres Atmen, Schweigen.
Das Mondlicht bahnt sich durch die dichten Wolken und hüllt alles in ein blasses, kaltes Licht, lässt die Schatten der Bäume verzerrt und dämonisch wirken.
Blut sickert sachte in Fabis Mantel.
Entsetzen ist wie eine hässliche Zecke, die sich in ihre Gehirne frisst und es von innen heraus vergiftet.
Schuld dagegen ist wie ein schwerer, unsichtbarer Mantel, der sie umhüllt und sie ganz allmählich ersticken lässt.

*​

„Niemand muss davon erfahren, wenn wir es nicht wollen.“
„Er war unser Freund!“
„Er würde es so wollen.“
„Also? Was schlägst du vor zu tun?“
„Bis zum Fluss sind es kaum fünfhundert Meter…“
„Seit ihr bescheuert? Hier geht es um Fabi. Wir haben einen unschuldigen Menschen getötet.“
„Es geht auch um unsere Zukunft. Unsere Familien. Was soll aus unserem Leben werden?“
„Die Schuld wird ewig auf unseren Schultern lasten.“
„Das tut sie in jedem Fall.“
Schweigen. Lautlose, heiße Tränen, die ihnen auf den Gesichtern brennen. Ewig scheint der Moment zu dauern. Ein Zögern, dass ihre Welt für einen Moment zum Stillstand bringt.
„Dann ist es also abgemacht.“

*​

Momente in denen alte Bäume und unschuldige Jungen sterben, bringen selbst unsichtbare Masken zum Bröckeln und man erkennt die wahren Gesichter der Maskenträger.
Unter ihrer Schutzhülle sind sie nichts als bloße Schatten.
Grau und kalt und unansehnlich, stolpern die fünf Gestalten durch das schwarze nichts.
Kein Fetzen von dem gottgleichen Glanz ist noch übrig geblieben.
Keine gerade, selbstbewusste Haltung, nur gesenkte Köpfe und stumme Tränen.

*​

Mit den verschmierten Maskararesten sieht Tessa aus wie eine grausige, entstellt Puppe.
Ihr Markenzeichen, das farbenfrohe Kleid, hängt nun nass und schlammig an ihrem ausgemergelten Körper herunter, wie ein alter Sack.
Oder ein Leichentuch.
In der kalten Nachtluft hustet sie heiser, dass ihre Kehle brennt. Durch die Magensäure ist ihr Hals rau und wund. Das nimmt sie in Kauf um perfekt zu sein. Perfekte Menschen machen keine Diät um schlank zu bleiben.
Schönheit ist das einzige was zählt.
Makellosigkeit.
Der Schmerz jedes einzelnen Knochens, der in ihrem Kopf widerhallt, ist der Preis, den sie zahlt.
Ein hoher Preis für Anerkennung.
Immer steiler steigt der Berg an. Verkrampft hält sich Lea den Unterleib.
Leer fühlt er sich an. Zum zweiten Mal so leer. Das erste Mal war das Kind von einem Fremden gewesen. Geliebt wollte sie werden, nichts als geliebt. Und so schön hatte sie sich gefühlt. Eine kurzweilige Flucht vor der Realität. Das Kind hat sie abtreiben lassen.
Das zweite mal, war es Mikes Baby.
Totgeschwiegen hatten sie es, als wäre nichts passiert. Als hätte es diese eine Nacht nicht gegeben.
Unausgesprochene Worte über ungeborene Babys, die seither an ihrer Seele nagen und sie Stück für Stück auflösen.
Als Jonas an dem abgebrochenen Ast entlang schrammt, entflieht seinen Lippen kein Geräusch. Selbst dann nicht, als das Blut in sein dunkles Hemd sickert.
Schon damals hat er nicht geschrien. Damals, als sein Onkel Nachts in sein Zimmer kam. Als er ihm seine Liebe schenkte.
„Ich bin dein Babysitter, Johnny. Du musst mir gehorchen.“
Wie vielen Mädchen hat er seitdem seine Liebe geschenkt. Denn Liebe ist unerschöpflich. Liebe ist bedingungslos.
Doch seine Liebe hinterließ nichts als ein gebrochenes Herz.
Peitschender Regen durchnässt die schwere Last auf Mikes Schultern. Erst war es nur ein Nieselregen, doch mit jedem Schritt, den sie sich vortasten, ist er stärker geworden, sowie auch Mikes Gewissen. Schwer, so schwer ist der leblose Körper, doch für den muskulösen Mike nur eine weiteres Ziel, dass er erkämpfen will.
‚Du bist schwach, Mike. Wer schaut schon zu dir hoch. Du bist nichts, als ein Nutzloser Versager.‘, das waren die Worte seines Vaters.
Seines Vaters, dessen Kariere ihm immer wichtiger war, als seine eigene Familie. Nie ist er für Mike dagewesen.
‚Sei stark Mike‘, hatte er sich selbst gesagt und immer härter trainiert. ‚Nochmal enttäuschst du ihn nicht.‘

*​

Eine blassblaue Linie trennt den matschigen Boden von dem strömenden Fluss unter ihnen, dort wo das Mondlicht den Klippenrand umrandet. Atemlos sinken sie zu Boden. Neben ihnen Fabis Körper. Friedlich ist der Ausdruck auf seinem leblosen Gesicht. Kein hochmütiger Blick, kein verächtliches Grinsen, nur schlaffe, weiche Gesichtszüge.
Fabis maskenloser Anblick ist kein grauer Schatten. Er war der Engel unter ihnen, der selbst jetzt noch im Zwielicht zu funkeln scheint.
Fabi wollte Kinderarzt werden. Lea war die einzige, die es wusste. In einer betrunkenen Vodkanacht hatte er ihr seinen Traum gebeichtet. ‚Ich will etwas bewirken, verstehst du? Irgendwann, wenn wir von hier weg sind‘.
Verlegen hat er sich weggedreht, doch Lea hat ihn verstanden.
Eigentlich will Lea Künstlerin werden. Doch nicht hier. Hier ist kein Platz für Entfaltung.
Hier ist nur Platz für Oberflächlichkeit und hohe Toleranzgrenzen im Alkoholkonsum. Platz für Maskenträger, die sich hinter ihren Fassaden selbst verlieren.
Was ist schon ein Traum, wenn es gilt, im hier und jetzt zu existieren?
So viele Leben liegen ungelebt vor ihnen und die Sehnsucht nach der Zukunft schreibt ihre Geschichte.
Näher, immer näher schleifen sie den Körper über den nassen Boden dem Abhang zu.
Lea zittert. Unfähig sich zu bewegen oder zu denken.
„Wartet!“. Ihre Stimme klingt verzweifelt und verloren.
Drei Augenpaare sehen sie an.
„Es ist in Ordnung. Ihr könnt gehen. Ich will noch kurz mit ihm alleine sein.“
„Klar“, murmelt Jonas betreten. „Du kanntest ihn wohl am besten.“
Seine Stimme verliert sich im Wind und Lea hört versteht nur noch einzelne Wortfetzen, die nach den Plänen einer Vertuschung klingen.
Fabis Tod hat ihre Leben für einen kurzen Moment aus der Bahn geworfen. Sie zersplittert. Doch Jonas hatte die Scherben wieder eingesammelt, bereit, sie zu einem neuen Ganzen zusammen zu fügen.
Die Zukunft die sie erwartet formen sie selbst, genauso, wie die Gegenwart, die sie umhüllt.
Leas Scherben sind weit verstreut und ihre Kraft reicht nicht aus, sie zu erreichen.
Allein kniet sie neben dem ruhigen Körper.
Tief und beruhigend atmet sie ein und aus.
Eigentlich will Lea Künstlerin werden. Doch nicht hier. Hier ist kein Platz für Entfaltung.
‚Es ist vorbei‘.

*​

Allmählich verliert sich die Nacht in sich selbst. Und während Lea auf die Zukunft wartet, realisiert sie, dass ihre Maske sich nun vollständig aufgelöst hat.
Der Regen lässt nach, und nur noch vereinzelte Tropfen sickern durch das Geäst der Bäume.
An der Klippe kauern zwei schlammige Silhouetten, die in dem Dämmerlicht wirken, wie bloße Schatten.

 

Hallo,

willkommen im Forum.
Mich hat dein Text an einen bestimmten Duktus zu erzählen erinnert, den ich fast nur noch mit Comics in Verbindung bringe. Das ist ein Erzähler, den die Welt anekelt, und der aus einer Götterperspektive grollend zum Leser spricht. Und dann braucht er 2 Panels um das ganze Leben einer Figur zu erzählen.
Und hier im Text ist das auch: Da sind die perfekten Menschen.
Die da kotzt! Die hat Bullemie!
Die da hat abgetrieben! Zweimal!
Der da ist vom Onkel mißbraucht worden!
Die ist unschuldig und will Künstlerin werden, aber macht sich selbst was vor.

Das ist so ein Verhältnis vom Erzähler zu den Figuren, das einiges an Wirkung hat, das ist schon eine - in der Sprache und in der Komposition- starke Geschichte, weil sie so simpel und klar ist. Eine nackte Geschichte.

Ich finde es ist aber als Leser wenig zu tun, man bekommt gesagt: Diese Figur ist so. Und sie ist so, weil - und dann kriegt man einen Satz oder zwei.
Ich hab das Gefühl: Hinter echten Leuten stecken Geschichten, die man nicht in einem Satz sagen kann. Die man nicht in einem Blick erfasst. Deshalb hätte ich gern Fragen zu den Figuren, aber die werden hier nicht gestellt.
Sondern es wird da eine relativ derbe Gesellschaftskritik konstruiert (Die Oberflächlichkeit der hippen, schönen, reichen Jungen - unter der aber nichts ist) und dann ein Kontrast zu der Natur und zu einem "alten" Baum - und dann liest es sich so ein bisschen wie eine Rachephantasie eines Außenstehenden, gemischt mit einem sehr simplen Plot - der Plot sind die Anfangs-5-Minuten aus bestimmt richtig vielen Filmen (2 fallen mir spontan ein, ich bin mir sicher es gibt noch viel mehr).

Es ist aber wirklich auch kein misslungener Text, also jeden Tag kommen hier Debüts - und der Text hier, wenn's da eine Wahl gäbe, wäre das bestimmt das Debüt des Monats oder so. Der Text ist auf eine bestimmte Art effektiv, bei der ich nicht so viele Möglichkeiten sehe, in dieser Richtung weiter zu machen und sich zu verbessern. In dieser Stimme kann man alles nur in einem Satz erklären. Wenn man so grollt und raunt und mit biblischer Stimme auf eine Frau zeigt und sagt: " Durch die Magensäure ist ihr Hals rau und wund. Das nimmt sie in Kauf um perfekt zu sein. Perfekte Menschen machen keine Diät um schlank zu bleiben. " - Was soll da noch kommen?

Zum Formalen: Musst dir mal die Kommaregeln bei Sätzen mit "zu" anschauen. Und man könnte auch sicher, vielleicht bei einem späteren Text von dir, noch eine genauere Stilanalyse machen. Es würd sich lohnen, denke ich.

Gruß
Quinn

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom