Schatten
Er hatte gelernt, die Schatten zu ignorieren. Sie hatten ihm die Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht. Er hatte Jahre gebraucht um das zu akzeptieren, aber diese Erkenntnis hatte es nicht vermocht aus ihm einen einsamen Menschen zumachen.
Als er klein war, hatten seine Eltern ihn für ein besonders phantasiebegabtes Kind gehalten aber je größer er wurde, desto mehr wuchs der Abstand zu ihnen. Sie zogen sich zurück, anfangs verwirrt, später voller Angst.
Er merkte schon bald, dass die anderen Menschen die Schatten nicht sahen und so bemühte er sich sie nicht mehr zu beachten, was anfangs ziemlich schwierig war, denn er konnte nicht immer beurteilen, was die anderen sahen und was nicht. Die fernen Schatten, zart und transparent, waren einfach zu ignorieren; das Problem waren die nahen Schatten, die von der Realität kaum zu unterscheiden waren.
Oft wusste er nicht, dass die Anderen den Bus oder die verschütte Milch nicht sahen und sie erst wahrnahmen, wenn die Dinge oder Vorgänge aus dem Schatten traten und "wirklich" wurden. Für ihn war alles real, was er sah. Ferne und nahe Schatten überlagerten sich, verdeckten sich oft, bildeten um das ,was die Anderen Wahrheit nannten viele Schichten, so als betrachtete man mehrere übereinandergelegte Dias ein und desselben Ortes. Er musste lernen, das was er sah, für sich zu behalten, auch wenn es ihm schwer fiel. Denn wann immer er anderen davon erzählte, erfuhr er nichts als Ablehnung, Hass und Angst.
Ein Ereignis, das ihn in die totale Vereinsamung brachte, war der Tag als die Schule brannte. Er sah es und berichtete einem Lehrer davon. Dieser reagiert abweisend und verwirrt. Als die lodernden Flammen schließlich fast die gesamte Schule verschlangen, fiel der Verdacht sofort auf ihn und obwohl nie etwas bewiesen werden konnte, wurde er seinen Ruf als Brandstifter und Sonderling nie mehr los.
Er wurde vorsichtiger, mit dem was er preisgab. Bald schon bemerkte er, dass er nichts ändern konnte. Einmal sah er den Schatten eines Hundes, der von einem Auto überrollt wurde. Er versuchte den Hund festzuhalten, als er mit seiner verdutzten Besitzerin aus einem Hausflur kam. Er umschlang ihn und hielt ihn so fest er nur konnte. Doch weder die Frau, noch der Hund begriffen - konnten ja nicht begreifen - daß er nur das Leben des Tieres retten wollte. Die Frau beschimpfte ihn und zerrte sowohl an ihm, als auch an dem Hund. Das Tier wand sich und versuchte zu entkommen, verwirrt durch den plötzlichen Angriff des Jungen und dem Gezeter seines Frauchens. Schließlich entkam er, rannte fort, geriet auf die Straße, wo ihn ein Auto erfaßte und überfuhr. Der Junge rappelte sich auf und rannte davon, er warf keinen Blick zurück, denn er hatte schon zuvor alles gesehen.
Er konnte nichts ändern. Die Schatten waren ebenso real, wie alles andere. Wenigstens war ihm so die Last genommen worden, irgend etwas an zukünftigen Geschehnissen ändern zu müssen, obwohl ihm immer der Zweifel blieb, ob der Hund auch gestorben wäre, hätte er den Schatten ignoriert.
Er lebte mit Mißtrauen Angst und Spott. Es gab keinen Menschen dem er sich anvertrauen konnte, niemanden, der ihn verstand. Er war 16 Jahre alt, einsam, und fragte sich, ob es sich lohnte weiter zu leben.
Eines Tages ging er den Mülleimer runter bringen. Als er aus dem Haus kam, sah er die Schatten auf den Mietskasernen um ihn herum. Irgendwann würden sie aufgestockt werden. Silbrig durchscheinend, aber dennoch sehr deutlich waren zwei weitere Stockwerke auf den Häusern zu sehen. Weit größer, aber auch viel durchscheinender waren die riesigen Umrisse eines gigantischen Hauses, das in vielen Jahren hier einmal stehen würde, und alle anderen Häuser ersetzen würde.
Auf dem Weg kamen ihm zwei Schatten entgegen. "Zwei Tage", schätzte er. In zwei Tagen würde Frau Marbrecht Besuch von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter bekommen. Die beiden gingen ohne jede Regung durch ihn hindurch. Er war es gewohnt. Seltsam war es nur, wenn er sich selbst sah, wenn er sich selbst entgegen kam, ebenso blicklos wie alle anderen, es sei denn er erinnerte sich daran, sich selbst am Tage zuvor gesehen zu haben, dann winkte er seinem vergangenem ich zu und konnte sich gleichzeitig daran erinnern, genau das getan zu haben.
Er leerte den Mülleimer in den Container. Hinter den Mülltonnen sah die Schatten eines Baumes, sehr blaß, halb ragte er in das Haus hinter den Müllcontainern. Unter dem Baum stand ein Mädchen, gläsern, fast unsichtbar. Sie war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, es war schwer zu schätzen, denn sie war viele Jahrzehnte entfernt und je entfernter die Schatten waren, desto größer waren die Menschen. Es war durchaus möglich, daß das Mädchen erst fünf Jahre alt war. Sie schien ihn anzusehen und doch wußte er, daß sie es nicht tat. Wahrscheinlich sah sie auf den Spielplatz hinüber, den der Junge manchmal sah. Er hatte die gleiche Transparenz, wie das Mädchen und der Baum. Im Moment war er nicht zu sehen. Er sah nur den Parkplatz und die Schatten von Autos, die irgendwann einmal dort parken würden.
Er ging zum Glascontainer hinüber und warf ein paar alte Gläser und Flaschen hinein. Das Mädchen sah ihn immer noch an, obwohl er mehrere Meter weiter gegangen war. Einem plötzlichen Impuls folgend, winkte er dem Mädchen zu, ohne daß er eine Reaktion erwartet hätte. Es winkte zurück. Sein Herz begann zu rasen. Er ging um die Container herum näher hin zu dem Mädchen. Sie lächelte ihn ohne die Spur von Überraschung an. Noch einmal hob sie die Hand und winkte ihn näher heran. In der anderen schien sie ein Blatt Papier zu halten. Der Junge versuchte klar zu denken. Was sollte er jetzt tun? Er hatte keinen Einfluß darauf, wie lange er einen Schatten sah, sie kamen und gingen nach belieben. Das Mädchen konnte im nächsten Moment wieder weg sein. Er mußte etwas über sie erfahren. Er ging zurück und öffnete die Altpapiertonne und begann darin zu wühlen. Er zog einen alten Kalender heraus, dessen Rückseiten unbedruckt waren. Glücklicherweise hatte er immer einen Eddingstift dabei, den er gewöhnlich zum "Verzieren" von Gebäuden und öffentlichen Verkehrsmitteln benutzte. Er ging wieder zu dem Mädchen, ließ sich auf den Boden nieder und begann zu schreiben:
"WIE HEISST DU? WELCHES DATUM HABT IHR? HIER IST DER 20.APRIL 1999"
Er hielt ihr das Blatt hin und hoffte, sie konnte die Buchstaben entziffern, denn wenn sie ihn so sah, wie er sie, dann könnte es schwierig werden. Sie sah auf das Blatt und las, dann hob sie ihren Zettel und hielt sie dem Jungen hin:
"MEIN NAME IST KIRA. HEUTE IST DER 12.MÄRZ 2109. ICH HABE DICH ERWARTET".
Sie hatte das Blatt schon geschrieben, bevor er es ihr überhaupt gezeigt hatte, obwohl Begriffe wie bevor oder danach in dieser seltsamen Situation einfach die falschen Vokabeln waren.
Sie hatte ihn erwartet? Was hatte das zu bedeuten? Das Mädchen berührte das Blatt und die Schrift verschwand. Dann begann es mit dem Blatt zu sprechen und eine neue Botschaft erschien darauf. .
"ICH HABE HIER JEMANDEN MITGEBRACHT. KANNST DU IHN SEHEN?"
Sie griff nach etwas. Es war eine Hand. In dem Augenblick, als sie die Hand berührte, erschien neben ihr ein weiterer Schatten. Es war ein alter Mann. Er lächelte, allerdings ging sein Blick ins Leere. Er konnte den Jungen nicht sehen. Das Mädchen löschte wieder das Blatt und sprach eine neue Botschaft.
"MEIN GROSSVATER MÖCHTE DIR ETWAS SAGEN". Der alte Mann schien ihr zu diktieren, was sie auf das Blatt zaubern sollte.
"KIRA IST MEINE UR-UR-ENKELIN. SIE HAT EINE ANDERE GABE ALS ICH. ALS MIR DAS KLAR WURDE, WUSSTE ICH, DASS DIE ZEIT GEKOMMEN WAR, MIT DIR ZU REDEN. ICH WOLLTE DIR NUR EINS SAGEN: ES LOHNT SICH; WEITER ZU MACHEN. JETZT BIST DU NOCH ALLEIN. BALD SCHON WERDEN ES MEHR SEIN. HEUTE SIND WIR TAUSENDE."
Der alte Mann lächelte ihn an. Er war, als sähe der Junge in einen Spiegel, der ihn über den Abgrund der Zeit hinweg zeigte. Das Mädchen und der alte Mann verschwanden. Das erste Mal seit langer Zeit, fühlte der Junge sich glücklich. Alles würde gut werden.