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Schatten der Vergangenheit
Es ist bereits fünf Jahre her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen haben. An diesen Tag kann ich mich besser erinnern als an den gestrigen. Das Gefühl von Trauer, Wut und Verzweiflung verfolgt mich unablässig.
Doch als ich neulich im Supermarkt an der Kasse stand und aus dem Fenster geschaut habe, sah ich ihn; den Mann, dem mein Herz gehörte. Er lief über die Straße, aber er konnte mich nicht sehen. Ich beeilte mich, um schnell nach draußen gehen zu können. Er war jedoch nirgendwo zu sehen. Verzweifelt fasste ich mir an die Stirn. Hatte ich mich geirrt? War er überhaupt nicht da? Wen habe ich gesehen?
Eine ältere Dame sprach mich an und wollte wissen, ob alles in Ordnung sei. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Einkaufstüten auf dem Boden lagen und die Äpfel in verschiedene Richtungen rollten. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Ich entschuldigte mich, sammelte schnellstmöglich meine Äpfel ein und ging zu meinem Auto.
Bevor ich losfuhr, rief ich mir das Bild seines Gesichtes in Erinnerung. Ich war fest davon überzeugt, dass er der Mann von vorhin sein musste. Wie konnte das möglich sein? Mit zittrigen Händen griff ich nach meiner Handtasche und holte mein Portemonnaie heraus. Aus einer kleinen Seitentasche kramte ich ein Stück Papier hervor.
Vorsichtig klappte ich es auf. Ich las, was mein Gehirn schon längst wusste, aber mein Herz nicht akzeptieren wollte. Es war die Kopie eines Formulars, auf dem fett gedruckt sein Name stand. Darunter sein Geburtsdatum und, ebenfalls fett gedruckt, der Tag an dem ich ihn verlor. Todestag wird das genannt, allerdings fand ich das Wort ein wenig unheimlich.
Langsam hob ich meinen Blick und sagte monoton: „Er ist tot. Er kann es nicht gewesen sein.“
Warum spielte mir mein Gehirn solch einen üblen Streich? Mir fiel keine plausible Erklärung ein.
Ich startete den Motor und machte mich gedankenverloren auf den Weg. Zahllose Fragen kreisten in meinem Kopf und so vergaß ich auf den Verkehr zu achten. Erst durch lautes Hupen wurde ich in die Realität zurückgeholt. Es galt mir, wie ich feststellen musste. Die Ampel stand auf Grün und hinter mir hatte sich eine lange Schlange gebildet. Schon wieder war ich in einer peinlichen Situation. Doch gerade als ich losfahren wollte, bemerkte ich, wo ich war. Auf meiner linken Seite stand das Haus, in dem wir zusammen gelebt hatten. Schnell setzte ich den Blinker und fuhr in eine Parklücke am Straßenrand.
Langsam stieg ich aus, wobei ich mich an der Fahrertüre festhalten musste. Mir war schwindelig; heiß und kalt zugleich. Ich spürte, wie mir mein Mageninhalt die Kehle hinaufstieg. Da ich es nicht zurückhalten konnte, übergab ich mich mitten auf dem Gehsteig. Zum Glück war weit und breit keine Menschenseele zu entdecken. Erschöpft schloss ich meine Augen und atmete tief ein. Minuten vergingen, bis ich meine Augen wieder öffnete.
Plötzlich stockte mein Atem erneut. Da war er wieder! Nur wenige Meter von mir entfernt. Doch, was tat er da? Ging er etwa … Ja, er ging in das Haus hinein! In das Haus unserer gemeinsamen Vergangenheit. Ich wollte hinübergehen, klingeln, mit ihm sprechen. Doch meine Muskeln waren verkrampft; ich konnte mich nicht bewegen. Die Tür zu unserem ehemaligen Balkon ging auf und er trat hinaus. Er umklammerte das Geländer, schloss seine Augen, richtete den Kopf Richtung Himmel und holte tief Luft. Kein Zweifel: er war es! Ich konnte nichts anderes tun als ihn anzustarren. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Mein Herz raste viel zu schnell. Da! Er senkte den Kopf, öffnete die Augen und … Und schaute genau in meine Richtung!
Plötzlich nahm er mich wahr und schlagartig wechselte die Farbe seiner Wangen von rosig zu schneeweiß. Schier endlos starrten wir einander ungläubig an.
Er löste sich zuerst aus seiner Schockstarre und eilte in die Wohnung. Ehe ich mich versah, riss er unten die Haustüre auf und rannte zu mir. Tränenüberströmt fielen wir einander in die Arme. Keiner sagte etwas; wir hielten einander nur fest.
Langsam löste ich mich von ihm, tupfte seine Tränen ab und flüsterte: „Du bist es wirklich! Ich kann es nicht fassen: du lebst!“ Wieder liefen mir warme dicke Tränen über das Gesicht.
„Ja, ich lebe. Es tut mir leid. Es tut mir so unendlich leid!“, sagte er und küsste mich auf die Stirn.
„Aber … Der Unfall. Du bist doch ... Was ist …“, stammelte ich und drückte ihn von mir weg.
„Wie soll ich dir das nur sagen?“ Er schaute mich fragend an. „Ich schätze gerade heraus ist wohl am besten.“ Er holte tief Luft. „Es …“, ich sah, wie er nach Worten suchte, „Es gab nie einen Unfall!“, begann er seine Erklärung. „Lass uns hineingehen und ich werde dir alles erklären.“
„Nein!“, sagte ich stumpf. Ich sah ihm in die Augen und ich wusste nicht, was ich denken sollte. Hatte er seinen Tod etwa nur vorgetäuscht?
Hat er mich all die Jahre mit purer Absicht in dem Glauben gelassen, er sei gestorben? Warum wollte er, dass ich denke, er sei tot?
All die Fragen überschlugen sich in meinem Kopf. Ich trat einen Schritt zurück, musterte ihn von oben bis unten und dann überkam mich die Wut. Ich begann ihn anzuschreien: „Was hast du mir angetan? All die Jahre hast du mich in dem Glauben gelassen du seist tot! Wieso sollte ich jetzt mit dir gehen? Hast du dir irgendeine Geschichte zurechtgelegt, für den Fall, dass du mir irgendwann begegnest?“ Meine Wut wurde immer stärker und meine Stimme immer lauter. „Weißt du was? Ich will die Geschichte gar nicht hören!“, überrascht über meine eigenen harten Worte drehte ich mich um und wollte Richtung Auto laufen. Doch ich konnte nicht, denn sanft hielt er mich an den Schultern zurück.
„Bleib! Bitte. Ich möchte dir keine ausgedachte Geschichte vortragen, sondern die Wahrheit. Ich kann ja gut verstehen, dass du wütend auf mich bist, aber so ging es mir die letzten Jahre auch.“ Seine Stimme klang so ruhig und ehrlich.
„Warum?“, schluchzte ich.
„Warum?“, wiederholte er. „Das verstehe ich auch nicht. Aber eines weiß ich: ich gebe dich nicht noch einmal auf!“
Seine Augen füllten sich mit Tränen und ich spürte, dass er es ernst meinte.
Ich zögerte einen Moment, ehe ich sagte: „Na gut, lass uns hineingehen und dann möchte ich alles wissen. Alles!“
War ich wirklich bereit dazu, die Wahrheit über seinen vorgetäuschten Tod zu erfahren? Hatte ich mir nicht all die Jahre über gewünscht, dass er plötzlich wieder vor mir steht? Warum fühlte es sich nun so merkwürdig an, dass er wieder da ist?
Als ich die Wohnung betrat, fühlte ich mich um etliche Jahre zurückversetzt. Klar, die Wände hatten nun andere Farben und auch die Möbel waren anders, dennoch fühlte es sich an, als würde ich nach Hause kommen. Ein kalter Schauer überkam mich.
Ich ging ins Wohnzimmer und wartete, bis er sich neben mich gesetzt hatte.
„Okay, nun sind wir also hier“, sagte ich unsicher.
„Ja, lass uns reden“, sagte er und begann zu erzählen.
* * * * * * * * * *
„Einige Wochen vor dem scheinbaren Unfall besuchte ich meine Mutter. Es war ungefähr vier Monate vor meinem 35. Geburtstag. Dir hatte ich davon nichts erzählt, denn ich wollte nicht, dass du etwas davon mitbekommst.“ Ich sah ihr direkt in die Augen, als ich anfing zu erzählen. Früher waren sie voller Emotionen, voller Leben, aber sie haben scheinbar ihren Glanz verloren.
„Du musstest an diesem Tag länger arbeiten, also nutzte ich die Gelegenheit und ging zum Abendessen bei meiner Mutter vorbei. Ich wollte ihr erzählen, was ich am darauffolgenden Wochenende mit dir geplant hatte. Zwar kann ich nicht recht sagen, warum es mir so wichtig war, dass ich es ihr erzählte, aber so wollte ich es nun mal.“ Ich zuckte verlegen mit den Schultern. „An diesem besagten Wochenende wäre unser fünfjähriges Jubiläum gewesen.“
Ich musste tief durchatmen, als ich mich an diesen Abend erinnerte. Die Erinnerung tat weh, doch ich wusste, dass dies meine einzige Chance war, ihr die Wahrheit zu erzählen. Sie hatte ein Recht darauf die Wahrheit zu erfahren. Genau wie ich hatte sie schon viel zu lange gelitten. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen und fuhr dann fort: „Leider hat meine Mutter ganz anders reagiert, als ich es erwartet habe …“
* * * * * * * * * *
„Mutter, ich bin ganz froh, dass wir heute Abend alleine essen können. Ich muss dir unbedingt etwas erzählen: ich möchte nun endlich Nägel mit Köpfen machen und sie fragen, ob sie mich heiraten möchte. Und zwar noch vor meinem Geburtstag.“ Ich war so aufgeregt, als ich mit der Nachricht herausplatzte. Gerade wollte ich anfangen meiner Mutter zu erzählen, wie ich den Antrag geplant hatte, als sie mich wütend unterbrach: „Noch vor deinem Geburtstag? Was soll das denn? Die hat es doch überhaupt nicht verdient deine Frau zu werden!“
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach und ich konnte mir auch nicht vorstellen, was das zu bedeuten hatte.
„Mutter, beruhige dich. Was meinst du denn?“, fragte ich leicht amüsiert. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter das ernst meinte. Immerhin ist sie doch in den letzten Jahren immer gut mit dir ausgekommen. Ich rechnete bereits damit, dass sie jeden Moment lauthals anfangen würde zu lachen. Sie tat es nicht.
Stattdessen fuhr sie fort: „Seit Jahren nutzt sie dich doch nur aus. Ich kann nicht verstehen, warum du dir ständig von ihr auf der Nase herumtanzen lässt. Mach doch mal die Augen auf, Junge! Du …“
Forsch unterbrach ich sie: „Sag mal, was ist denn in dich gefahren, Mutter? Du hast mir doch jahrelang in den Ohren gelegen, dass du dir für mich eine perfekte Frau wünschst und dass du gerne Enkelkinder haben möchtest. Sie ist die perfekte Frau für mich. Außerdem habt ihr euch doch immer richtig gut verstanden, warum bist du nun so gegen sie?“
„Na, wo ist sie zum Beispiel jetzt? Muss sie etwa wieder spontan länger arbeiten? Mach die Augen auf! Das ist doch nur eine Ausrede und du glaubst ihr das auch noch.“ Vor lauter Wut lief der Kopf meiner Mutter rot an.
„Warum sollte sie mich anlügen? Selbstverständlich ist sie bei der Arbeit. Sie arbeitet eben momentan an einem sehr wichtigen Projekt, da ist es ganz normal, dass kurzfristig Termine anstehen. Das ändert sich bald wieder. Ich verstehe wirklich nicht, was in dich gefahren ist.“
„Sie vergnügt sich mit einem Anderen und du bekommst es nicht einmal mit. Schämen solltest du dich. Ihr beide!“ Sie machte eine kurze Pause. „Glaube ja nicht, dass ich bei dieser Hochzeit anwesend sein werde. Diese Frau ist nichts für dich! Und lass dir noch etwas gesagt sein: wenn du diese Frau heiratest, werde ich dich enterben. Ich möchte nicht, dass irgendetwas meines Besitzes irgendwann an diese Frau geht! Hast du mich verstanden?“, fragte sie mit Nachdruck.
„Mutter, ich weiß echt nicht, was in dich gefahren ist. So kenne ich dich überhaupt nicht! Was soll denn der ganze Mist mit enterben? Meinst du mit haltlosen Anschuldigungen und solchen Drohungen bringst du uns auseinander? Nie im Leben! Ich werde sie heiraten, ob du es willst oder nicht. Damit ist das Thema für mich erledigt! Danke für das Essen, aber ich werde nun gehen. Wenn du dich wieder eingekriegt hast, kannst du dich gerne melden.“ Ich zog meine Jacke an und verließ die Wohnung.
Draußen angekommen musste ich erst einmal tief durchatmen. Natürlich glaubte ich meiner Mutter kein Wort, aber ich konnte mir auch nicht erklären, warum sie sich solch eine Anschuldigung ausdenken sollte. Ich war verwirrt, also nahm ich mein Handy und rief dir an. Dein Termin war gerade beendet und du warst dankbar, dass ich dich vom Büro abholen konnte. Ich erzählte dir nichts von den Worten meiner Mutter, denn ich wusste, dass du wirklich bei der Arbeit gewesen bist und ich hatte keinen Zweifel an deiner Treue. Zudem hatte ich im Hinterkopf, dass meine Oma, also die Mutter meiner Mutter, an Alzheimer litt. Sie hat viele Dinge durcheinander gebracht und konnte manchmal ganz schön aggressiv werden. Ich vermutete, dass diese Krankheit wohl auch auf meine Mutter zukommen würde.
Die Woche verging. Bis Freitag hatte ich nichts von meiner Mutter gehört. Ich selbst sah es nicht ein, dass ich mich bei ihr melden sollte, immerhin war sie im Unrecht.
Als ich am Freitag von der Arbeit nach Hause kam, wartete sie jedoch bereits vor der Haustüre auf mich. Ich freute mich, denn ich dachte, sie wolle sich bei mir entschuldigen.
„Mutter, schön, dass du da bist!“ Ich umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich glaube, wir sollten reden, Junge.“ Sie deutete mir, in die Wohnung zu gehen.
„Ja, das finde ich auch. Ich finde es echt nett von dir, dass du persönlich vorbeikommst, um dich zu entschul…“, mehr konnte ich nicht sagen, denn augenblicklich wurde ich unterbrochen.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich hier bin, um mich bei dir zu entschuldigen. Im Gegenteil. Ich bin hier, weil ich dir die Augen öffnen möchte.“, sagte sie in strengem Ton.
Ich fühlte mich vor den Kopf geschlagen. Hatte sie gerade ernsthaft diese Worte ausgesprochen? Sie war nicht da, um sich bei mir zu entschuldigen, sie wollte dort weitermachen, wo ich sie wenige Tage zuvor unterbrochen hatte.
„Mutter, das kann nicht dein Ernst sein! Ich verstehe nicht, wie du auf solch eine Anschuldigung kommst. Meine Freundin hat keine Affäre! Wenn du nicht einsiehst, dass du im Unrecht bist, dann verlass bitte augenblicklich meine Wohnung!“ Ich ging zur Türe, öffnete sie und deutete meiner Mutter zu gehen.
„Glaubst du wirklich, ich lasse dich ins offene Messer rennen?“ Sie setzte sich an den Tisch und holte einen Umschlag aus der Tasche. „Setz dich, Junge. Bevor du mich fortschickst, solltest du dir wenigstens etwas anschauen.“
Ich zögerte einen Moment, denn ich wusste nicht, was mich erwartete. Meine Neugier überwog jedoch und so schloss ich die Türe und setzte mich zu ihr an den Tisch.
„Na gut. Ich werde dir zuhören. Aber bitte fass dich kurz.“, sagte ich leicht gereizt.
„Hier. Nimm sie und schau sie dir an.“ Fasst schon grinsend überreichte sie mir einen Stapel Fotos.
Mir stockte der Atem, denn auf den Fotos warst du zu sehen. Du zusammen mit einem Mann, den ich nicht kannte. Auf dem Bild saht ihr sehr vertraut miteinander aus.
„Was ist das?“ Ich versuchte meine Unsicherheit zu überspielen, aber meine Mutter hatte es mir bereits angemerkt.
„Das war der kurzfristige Termin deiner Freundin von gestern. Sie hat …“
Verwundert über ihre Worte unterbrach ich sie wütend: „Woher willst du das denn wissen? Das ist vermutlich einer ihrer Kollegen. Außerdem, woher hast du überhaupt all diese Fotos?“, ich schaute die Bilder angebiedert an.
„Du wolltest mir doch nicht glauben, also habe ich sie überwachen lassen. Irgendwie muss ich dir doch die Augen öffnen!“ Der Ausdruck des Triumphes in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
„Moment! Was sagst du da? Du hast ihr hinterherspioniert? Bist du noch ganz bei Trost? Das kannst du doch nicht einfach machen!“ Mittlerweile schrie ich meine Mutter an.
„Nicht ich habe ihr hinterherspioniert. Ich habe einen Detektiv beauftragt. Du wolltest mir nicht glauben, also musste ich doch etwas tun. Du bist mein Sohn, ich will dich nur beschützen.“, sagte sie in einer ruhigen Stimmlage.
„Raus!“, sagte ich. Sie blieb sitzen.
„Raus!“, brüllte ich sie nun an. „Ich möchte davon nichts wissen. Das ist nicht wahr! Sie hat keinen anderen!“ Ich nahm die Bilder und knüllte sie zusammen.
„Dann musst du dich selbst davon überzeugen.“ Sie sah mir in die Augen.
„Was? Soll ich ihr nun etwa hinterherspionieren? Auf keinen Fall! Sie ist meine Freundin; sie ist die Frau die ich liebe.“, antwortete ich. „Wieso willst du nicht einsehen, dass du im Unrecht bist und sie lediglich viel zu tun hat momentan. Das kennst du doch von anderen wichtigen Projekten ihrer Arbeit. Nie hast du ihr etwas unterstellt, sondern sogar deine Hilfe für den Haushalt angeboten. Mutter, ich weiß wirklich nicht, was in dich gefahren ist.“
„Bisher wolltest du diese Person auch nicht heiraten. Glaub mir doch einfach, dass ich Recht habe.“ Ihr Blick war so ernst. „Der Detektiv hat mir eine Adresse gegeben, wo sie sich heute Abend aufhält. Du musst nur mit mir mitkommen und dir dein eigenes Bild machen. Falls ich Unrecht habe, werde ich nie wieder ein Wort darüber verlieren.“ Sie sah mich herausfordernd an.
„Na schön, lass uns gehen. Dann siehst du, dass du Unrecht hast und die Sache ist vom Tisch.“ Ich nahm meine Jacke und ging nach draußen. Ich malte mir bereits aus, wie sie sich später bei mir entschuldigen würde.
Wir fuhren zu der Adresse, die meine Mutter von dem Detektiv hatte. Es war ein kleines Hotel. Für mich sah das nicht gerade verdächtig aus, da du öfters Geschäftstermine in Konferenzräumen von Hotels hattest.
Neben der Adresse stand auch die Zimmernummer; Zimmer 186. Diese Nummer hat sich an diesem Abend in mein Gedächtnis gebrannt.
„Lass uns hineingehen und an die Türe klopfen.“
„Nein, lieber nicht. Ich glaube es ist besser, wenn wir erst einmal von draußen schauen."
„Wozu?“, wollte ich wissen.
„Na, falls du Recht haben solltest, hat sie da drinnen gerade einen geschäftlichen Termin. Wie willst du ihr dann erklären, dass du an die Türe geklopft hast?“, gab meine Mutter zu bedenken.
„Du hast Recht. Das macht sich vermutlich nicht so gut. Dann suchen wir das Zimmer eben von außen.“, gab ich nach.
Von unserem Standort aus konnten wir die Beschilderung für die Hotelzimmer an der Rezeption sehen. Zimmer 186 war nach links ausgewiesen. Also liefen wir in diese Richtung.
Auf dieser Seite des Hotels waren nur zwei Fenster im Erdgeschoss beleuchtet, was uns die Suche sehr erleichterte.
Als wir am richtigen Zimmer angekommen waren, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass es sich um ein ganz gewöhnliches Hotelzimmer handelte, nicht um einen Konferenzraum. Dennoch wollte ich meiner Mutter keinen Glauben schenken, bis ich dich sah. Du lagst auf dem Bett. Nackt. Aus dem Badezimmer kam der Mann, den ich zuvor auf den Bildern des Detektives gesehen hatte. Er hatte ebenfalls nichts an.
Mir wurde schlecht; alles drehte sich. Ich wollte nur noch weg.
Im Auto angekommen, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. In dem Moment, als ich dich dort gesehen habe, ist eine Welt für mich zusammengebrochen.
„Es tut mir so leid, mein Sohn. Aber ich musste es dir sagen. Ich verstehe, dass es weh tut, aber es wäre schlimmer gewesen, wenn du sie wirklich gehei…“
„Bitte hör auf zu reden. Bring mich einfach nur nach Hause.“, unterbrach ich meine Mutter kleinlaut.
Wäre ich nicht so am Boden zerstört gewesen, hätte ich vermutlich nachgefragt, woher sie überhaupt von dem Kerl wusste und warum sie nicht früher etwas gesagt hatte. Aber ich tat es nicht. Leider.
Meine Mutter setzte mich zu Hause ab. Ich packte meine Klamotten zusammen und rief mir ein Taxi. Ich wollte weg; so weit wie möglich.
Mit dem Taxi fuhr ich zum Flughafen und kaufte ein Ticket für den nächstmöglichen Flug. Mich hat nichts mehr gehalten. Du hattest scheinbar eine Affäre, meine Mutter hat mich hintergangen und mein Arbeitsvertrag wäre wenige Wochen später ausgelaufen.
Weg hier. Das war mein einziger Gedanke, als ich in den Flieger nach Kanada stieg. Ich wollte dort in einer kleinen Hütte meines Onkels erst einmal für mich sein.
* * * * * * * * * *
Mir wurde schlecht, als ich seine Erzählung hörte. Er war da, aber er konnte mir nicht helfen.
„Was ist denn los? Du bist auf einmal so blass. Sollen wir eine Pause machen?“, fragte er mich sichtlich besorgt.
„Nein, es geht schon. Ich kann mich an diesen Abend sehr genau erinnern. Als ich in diesem Hotelzimmer auf dem Bett lag, nackt, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als von dir gerettet zu werden.“ Ich musste schwer schlucken. „Es war so bizarr. Am Nachmittag habe ich einen Anruf von einem angeblichen Projektpartner erhalten, der unbedingt noch an diesem Abend ein Treffen wollte. Da ich es für wichtig hielt und diesen Partner schon am Vortag getroffen hatte, sagte ich zu. Treffpunkt war dieses Hotel. Doch als ich dort ankam, wurde ich von diesem Mann bedroht.“ Bei der Erinnerung an dieses Erlebnis, fing ich an zu zittern. „Er hielt mir den Mund zu und sagte, ich solle mich ruhig verhalten, ansonsten würde ich dich nie wieder sehen. Ich hatte Angst und so tat ich, was er wollte. Er warf mich auf das Bett und fesselte mich. Danach zog er uns beide aus. In diesem Moment hatte ich schon mit dem Schlimmsten gerechnet, doch er tat nichts. Er nahm sein Handy und verschwand im Badezimmer. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zurück und legte sich für einen kurzen Moment neben mich. Irgendwann bekam er eine SMS. Er stand auf, zog sich an und löste die Fesseln. Er sagte, dass ich nach Hause gehen könne, wir wären fertig. Damit verließ er das Zimmer. Ich war verwirrt und ich hatte Angst mich zu bewegen. Keine Ahnung, wie lange ich dort lag, aber es fühlte sich an wie Stunden.“ Ich sah ihm in die Augen. Sie waren voller Wut, Mitleid und Verzweiflung.
„Das tut mir so leid!“, sagte er leise. „Hätte ich gewusst, was dort vor sich ging, hätte ich anders reagiert.“
„Als ich spät in der Nacht nach Hause kam, wollte ich einfach nur von dir getröstet werden. Aber du warst nicht da. All deine Kleidung war weg. Einfach so, ohne ein Wort. Zuerst dachte ich, dass dir wirklich jemand etwas angetan hat, doch warum hätten sie deine Kleidung mitnehmen sollen?“ Ich zuckte mit den Schultern. „In dieser Nacht versuchte ich dich unzählige Male auf dem Handy zu erreichen, aber es ging immer nur die Mailbox ran. Am nächsten Tag rief mir deine Mutter an. Ich fragte sie, ob sie wüsste, wo du seist, aber ihre Antwort ließ mir das Blut in den Adern gefrieren.“ Allein bei dem Gedanken an dieses Telefonat bekam ich Gänsehaut. „Im ersten Moment hoffte ich, sie würde scherzen. Aber, als ich ihr Schluchzen am Telefon hörte, wusste ich, dass sie die Wahrheit sagte.“ Nachdem ich tief einatmete sah ich ihm direkt in die Augen. „Sie sagte, du wärst nach Korsika gegangen und dort hättest du einen Unfall mit einem kleinen Motorboot gehabt.“ Schnell wischte ich mir die aufsteigenden Tränen aus den Augen. „Gerade als ich fragen wollte, warum du auf Korsika bist und ob es dir gut geht, sagte sie mir leise, dass du es nicht geschafft hast. Mehr konnte ich in diesem Moment nicht ertragen und legte auf. Ich wollte einfach nur noch für mich sein.“ Nun konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und ließ ihnen freien Lauf. „Deine Mutter meldete sich nochmal bei mir und teilte mir mit, dass sie keine Trauerfeier ausrichten möchte, da der Schmerz zu tief sitzt. Das kam mir sehr gelegen, denn ich hätte es nicht ertragen, all unsere Freunde dort zu sehen. Außerdem belastete mich zusätzlich, dass du mich offenbar einfach so verlassen hattest und dass ich plötzlich die Kündigung für die Wohnung bekommen habe. Im Prinzip blieb mir von dir nur die Kopie eines Formulars, das deinen Tod bescheinigte. Bevor ich umzog, ließ deine Mutter sie mir zukommen.“
In dieser Sekunde durchzuckte mich ein Geistesblitz. Geschockt sah ich ihn an und sagte: „Deine Mutter! Das war deine Mutter!“ Ich fand den Gedanken absurd, aber es war in diesem Moment die einzig logische Erklärung für mich. Fragend sah ich ihn an.
Er nickte. „Ja, es war meine Mutter. Es tut mir leid!“ Er senkte den Blick.
Ich hörte und ich sah, wie er die Worte aussprach, aber sie wollten mir nicht in den Kopf. Seine Mutter wiederholte ich immer und immer wieder in meinem Gedanken.
„Weshalb?“, fragte ich ihn erschüttert. „Und wie …“ Ich konnte den Satz nicht vollenden.
„Meine Mutter liegt im Sterben, deshalb bin ich wieder zurückgekommen. Als ich sie besucht habe, hat sie mir alles erzählt …“
* * * * * * * * * *
„Mein Junge! Wie schön, dass du hier bist.“, begrüßte mich meine Mutter, als ich ihr Zimmer betrat.
„Hallo Mutter. Wie geht es dir?“, fragte ich anstandshalber. Es war das erste Mal nach all den Jahren, dass ich sie wieder gesehen habe. Sie schien mir fremd.
„Mein Junge, bitte setz dich doch.“ Sie zeigte auf den Stuhl neben ihrem Bett.
Ich setzte mich und sie fuhr fort: „Es tut mir so leid, was damals geschehen ist. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen. Ehrlich!“ Sie hustete, denn sie bekam nur schwer Luft.
„Ganz ruhig, Mutter. Es war ja nicht deine Schuld, dass sie mich betrogen hat. Ich werfe dir lediglich die Art vor, wie du es mir mitgeteilt hast. Natürlich auch, dass du es mir nicht früher gesagt hast.“, sagte ich ruhig.
„Oh doch, es war meine Schuld. Ganz allein meine Schuld!“ Wieder wurde sie von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen.
„Was redest du denn da? Du hast sie doch nicht zum Fremdgehen angestiftet. Aber lassen wir das, wir müssen das Thema nicht wieder aufwärmen. Was vorbei ist, ist vorbei.“ Ich versuchte sie anzulächeln. Ihr Blick war traurig. Sie nahm meine Hand. „Bitte, hör mir zu. Was ich dir nun zu erzählen habe, ist nicht schön. Aber ich möchte nicht gehen, ohne dir die Wahrheit erzählt zu haben.“
Diese Worte klangen sehr verwirrend für mich, aber meine Mutter schien bei klarem Verstand zu sein. Umso neugieriger wurde ich auf das, was sie mir zu sagen hatte …
* * * * * * * * * *
„Als dein Vater starb, habe ich nach und nach den Überblick über die Finanzen verloren. Ich kannte mich damit nicht aus. So kam es, dass ich mich immer mehr verschuldet hatte. Zuerst dachte ich, das sei alles kein Problem, denn ich wusste, dass noch irgendwo Geld vorhanden war. Mehrere Hunderttausend. Es sollte ausbezahlt werden, sobald du 35 wirst. Diese Klausel im Testament deines Vater habe ich zwar nicht verstanden, aber ich war froh, dass es diese Geldreserve gab.“ Sie schüttelte beschämt den Kopf.
„Davon wusste ich überhaupt nichts. Das hast du mir nie erzählt.“, sagte ich verblüfft.
„Dein Vater wollte nicht, dass du vor deinem 35. Geburtstag etwas davon erfährst. Es sollte quasi eine unvorhergesehene finanzielle Unterstützung sein.“ Sie räusperte sich. „Kurz nach deinem 34. Geburtstag fing die Bank an Druck zu machen, dass ich die fälligen Raten für noch ausstehende Kredite begleichen soll. Da ich das Geld jedoch nicht hatte und ich dich nicht danach fragen wollte, vereinbarte ich einen Termin bei dem Notar, der das Testament verwahrte. Ich wollte wissen, ob es irgendeine Möglichkeit gäbe, das Geld schon vorzeitig zu erhalten. Doch was der Notar mir mitteilte, war niederschmetternd. Er sagte, dass mein Vater die Klausel kurz vor seinem Tod so abgeändert hat, dass du das Geld alleine bekommst, wenn du an deinem 35. Geburtstag verheiratet bist.“ Sie sah mich nun direkt an. „Du weißt ja, dass dein Vater ein Familienmensch war.“, sie musste sich wohl an ihn erinnert haben, denn sie hatte ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht.
„Und wenn ich bis dahin nicht verheiratet gewesen wäre?“, wollte ich wissen.
„Falls du nicht verheiratet gewesen wärst, hätte jeder von uns die Hälfte erhalten. Deshalb war es für mich nicht möglich, vorzeitig das Geld zu bekommen. Der Notar plante nämlich ein, dass du am Tag vor deinem Geburtstag noch hättest heiraten können und somit die Klausel erfüllen.“ Sie beobachtete mich. Da ich jedoch keinerlei Reaktion zeigte, fuhr sie fort: „Mit dieser Information ging ich zu meiner Bank. Mein Sachbearbeiter war ein junger Mann, der Sohn einer Nachbarin, der gerade frisch bei der Bank angefangen hatte. Wir kannten uns flüchtig. Ich versicherte ihm, dass ich ganz sicher die Hälfte des Betrages ausbezahlt bekommen werde, da du keinerlei Absichten hast zu heiraten. Er …“ In diesem Moment fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
„Stopp! Ich glaube, ich komme gerade nicht ganz mit.“ Ich stand auf und lief zum Fenster. Ich schaute hinaus, doch ich nahm nichts wahr. In meinem Kopf überschlugen sich die Informationen. „Du hast mir eingeredet, dass meine damalige Freundin eine Affäre hatte, als ich dir erzählte, dass ich sie noch vor meinem 35. Geburtstag heiraten möchte“, sagte ich erschüttert und vorwurfsvoll zugleich, als ich mich langsam zu meiner Mutter umdrehte. Ihr Gesicht war weiß wie Schnee. „Du bist völlig ausgerastet, als ich dir sagte, dass ich ihr einen Antrag machen möchte!“ Meine Wut nahm rapide zu.
„Ja, mein Junge. So ist es.“ Tränen liefen über ihr Gesicht. „So ist es“, wiederholte sie fast lautlos. „Ich weiß, dass ich es nicht mehr gutmachen kann, aber zumindest kann ich dir die Wahrheit erzählen.
„Die Wahrheit?“ Ich schnaubte. „Weißt du eigentlich, was du uns mit dieser Lüge angetan hast? Du hast unsere Beziehung zerstört! Sie war die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe!“ Ich stockte. „Die Affäre …“, stammelte ich. „Was ist mit der Affäre? Die muss doch echt gewesen sein! Immerhin habe ich sie doch in dem Hotelzimmer gesehen, mit diesem schmierigen Typen.“, fragend sah ich meine Mutter an.
„Das war keine Affäre. Der Mann war mein Sachbearbeiter. An dem Abend, als du mir von deinen Plänen erzählt hast, schob ich Panik. Ihr eine Affäre anzudichten war in dem Moment das einzige, was mir einfiel. Am nächsten Tag bin ich zur Bank gegangen. Mein Sachbearbeiter hatte wegen den Krediten Mitleid mit mir gehabt und hat mir verbotenerweise Aufschub mit den Zahlungen bis nach deinem Geburtstag gegeben. Wenn du nun also geheiratet hättest, dann hätte ich kein Geld bekommen und er wäre aufgeflogen. Das hätte ihn den Job gekostet. Zusammen haben wir uns einen Plan überlegt, wie wir es schaffen können, dass du nicht heiratest. Zumindest eben nicht vor deinem Geburtstag. Dass ich dir von einer Affäre erzählt habe, kam uns dabei sehr gelegen. Da ich ja wusste, dass deine Freundin auf der Arbeit immer wieder kurzfristige Termine hatte, inszenierten wir die Geschäftstermine, um Beweisfotos machen zu können. Ich weiß nicht, wie der Kerl das hinbekommen hat, aber sie hatte keine Zweifel an der Echtheit der Termine. So hat er es mir jedenfalls erzählt.“ Sie senkte ihre Stimme. „Die Sache mit dem Hotel sollte eigentlich anders ablaufen. Du solltest die Beiden lediglich im Hotelzimmer sehen. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, dass sie tatsächlich nackt auf dem Bett lag. Es hat mir das Herz gebrochen, als ich dich so traurig und geschockt gesehen habe. Ich habe die beiden zwar auch im Hotelzimmer gesehen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas miteinander hatten. Sie hat dich so sehr geliebt. Nie im Leben hätte sie dich betrogen! Mein Plan war es, dass ihr nur ein wenig Streit habt, sodass die Hochzeit erst viel später stattfinden würde.“ Sie begann zu weinen.
„Hörst du dir eigentlich zu beim Reden? Statt mich um Geld zu bitten ruinierst du lieber mein Leben? Sogar noch schlimmer! Du hast auch ihr Leben ruiniert! Wie kann man nur so egoistisch sein?“, schrie ich meine Mutter an. Sie heulte immer stärker und beteuerte immer wieder, wie sehr es ihr leid tue.
„Soll ich dir was sagen? Diese Aktion kann und werde ich dir nicht verzeihen! Wie heißt dieser Sachbearbeiter?“, fragte ich drohend.
Sie nannte mir den Namen und ohne noch ein Wort zu sagen, verließ ich das Zimmer.
* * * * * * * * * *
„Wutentbrannt machte ich mich auf den Weg zur Bank. An der Information fragte ich nach besagtem Sachbearbeiter. Da er gerade mit Kunden beschäftigt war, fragte mich die Dame am Empfang, ob ich zu einem anderen Sachbearbeiter gehen möchte. Ich sagte, dass ich gegen später noch einmal vorbeikommen würde und ging nach draußen. Neben dem Mitarbeiterparkplatz setzte ich mich auf eine Bank und wartete, bis er aus der Bank kam. Als ich ihn sah, sprang ich auf und ging zu ihm. Er wurde blass, als ich ihm erzählte, wer ich bin. Ich drohte ihm damit seine damalige Aktion auffliegen zu lassen, wenn er mir nicht die Wahrheit über das Hotelzimmer erzählen würde. Während er erzählte, dass er dich bedrohte und dass alles nur fake war, wurde er ganz rot im Gesicht. Irgendwie war ich erleichtert zu sehen, dass ihm die ganze Situation peinlich war. Das zeigte mir, dass er doch so etwas wie ein Gewissen hatte.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf. „Hätte ich nicht diesen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen, dann weiß ich nicht, wozu ich in diesem Moment fähig gewesen wäre“ Beschämt schaute er auf den Boden.
Was hatte er mir da gerade alles erzählt? Ist es wirklich so gewesen? Oder hat er sich das alles ausgedacht? Immer und immer wieder dachte ich darüber nach. Jedes Mal entdeckte ich dabei ein neues Puzzlestück, das plötzlich irgendwo hineinpasste.
„Wie kam deine Mutter dazu, mir zu sagen, dass du tot seist? Das kann ich nicht verstehen!“, fragte ich ihn nachdenklich.
„Mein Onkel hat bei ihr angerufen und Bescheid gegeben, dass ich dort bin. Warum sie dir erzählte, dass ich tot bin, kann ich mir nur so erklären, dass sie eine Suchaktion deinerseits verhindern wollte. Du hättest doch bestimmt von ihr wissen wollen, wo ich war und warum ich gegangen bin. An ihrer Stelle hätte ich dieser Situation auch aus dem Weg gehen wollen. Trotzdem kann ich immer noch nicht fassen, dass sie dir eiskalt erzählt hat, dass ich tot sei.“ Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, was damals in ihr vorging.“
„Ich glaube, das hatte sie aus einem ihrer Krimis, die sie so gerne gelesen hat.“, gab ich von mir.
„Das ist doch keine Erklärung. Ich meine, sie musste doch immer damit rechnen, dass sie auffliegt. Die Aussage, dass ich tot sei, war sehr riskant. Was wäre gewesen, wenn ich in Kanada keinen Job gefunden hätte? Dann wäre ich doch vermutlich wieder zurückgekommen.“, gab er zu bedenken.
„Daran hat sie vermutlich nicht gedacht. Manchmal handelt man eben nicht rational. Sie hatte auf jeden Fall verdammt viel Glück.“ All die Informationen musste ich erst einmal verarbeiten.
„Lass uns bitte vorerst nicht weiter darüber reden. Ich muss das erst verdauen.“, sagte ich ihm zurückhaltend.
„Gerne. Ich kann sehr gut verstehen, wie du dich fühlen musst. So ging es mir auch.“
„Eines noch: wie kommt es eigentlich, dass du in dieser Wohnung wohnst? Das ist doch wirklich ein großer Zufall.“, wunderte ich mich.
„Einige Tage nach dem Gespräch mit meiner Mutter wollte ich herausfinden, was es mit dem Erbe meines Vaters auf sich hatte. Ich rief bei mehreren Notaren an, bis ich den Richtigen gefunden habe. Er gab mir kurzfristig einen Termin. Dort erfuhr ich, dass meine Mutter Recht hatte, was das Erbe anging. Ihr Anteil wurde bereits an sie ausbezahlt, aber da ich nicht aufzufinden war, wurde mein Anteil vom Notar verwaltet. Er überreichte mir einen Scheck über mehrere Hunderttausend. Als ich seine Kanzlei gerade verlassen wollte, sah ich einen Aushang, der diese Wohnung zum Verkauf auswies. Diese Wohnung hatte mir schon immer sehr gut gefallen und ich hatte eine wunderschöne Zeit hier. Ich zögerte also nicht lange und kaufte mir mit dem Geld meines Vaters diese Wohnung. Du hast Recht, es war echt ein riesen Zufall.“ Er sah sich um und lächelte.
„Ich kann es immer noch nicht fassen: vor wenigen Wochen saß ich in meiner Wohnung und habe zum fünften Jahrestag um dich getrauert. Nun sitzt du hier und alles stellt sich als böses Märchen heraus. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“, sagte ich ehrlich.
„Keine Sorge, das verstehe ich! Nimm dir alle Zeit der Welt!“, antwortete er verständnisvoll. „Du kannst dir sicher sein, dass ich dich nicht noch einmal aufgeben werde! Du warst mein Leben und wirst es auch immer sein.“ Er setzte sich neben mich und nahm mich in die Arme.
„Ich möchte keinen Tag mehr ohne dich sein.“, sagte ich weinend.
Er schaute mich an und sagte: „Dafür liebe ich dich viel zu sehr, mein Engel!“