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Schatten an der Wand
Valentin erhielt den Bescheid, dass er das Studium der Rechtswissenschaften zum Wintersemester antreten könne. Zunächst freute er sich nach innen, doch je länger er las, desto übler wurde ihm; als er schließlich von einer Kneipentour, an der selbst der Dekan teilnehmen würde, erfuhr, musste er sich übergeben. Geistesgegenwärtig formte er das Papier so, dass weder Mobiliar noch Pakistan-Teppich beschmutzt wurden. In diesem Moment reifte in ihm die Gewissheit heran, dass er inmitten von Schweinen, wie er sie nannte, niemals werde studieren können, dass er die Universität erst dann beträte, wenn sie tatsächlich ein Ort des Lichts und nur des Lichts wäre. Alle Selbstbetäubungs- und Selbstbetrugsmöglichkeiten müssten auf totale, vollständig absolute Weise zerstört und vernichtet werden. Seine Schwester Oxana überredete ihn jedoch nach einer sechsstündigen Abnutzungsschlacht, wenigstens an den Eröffnungsveranstaltungen teilzunehmen. "Bedenke, es geht um deine Zukunft!", sagte sie unter Tränen. "Ich MUSS frei sein; mein Schicksal ist die Freiheit, nicht das Glück!" - mit diesen Worten schloss Valentin die Haustür und mithin die Diskussion hinter sich ab, die ihn um die Nacht gebracht hatte. Dass seine Schwester ihm durch die geschlossene Tür nachrief, er würde in Schubladen denken, hörte er schon nicht mehr. Diesen Vorwurf hätte er ohnehin niemals gelten lassen.
Valentin hatte sich in die erste Reihe gesetzt, um möglichst wenig Schweinegesichter sehen zu müssen. Da er ganz außen saß, konnte er aus dem Fenster schauen. Tatsächlich lag sein Blick vorwiegend auf einer alten Eiche, dem sie umspielenden Laub, den Farben des Himmels und den Liedern der Vögel. So in die Natur - oder was von dieser noch durchschimmerte - versunken, erschien ihm die Rede des Dekans außerordentlich unterdurchschnittlich, künstlich und gestelzt. "Wie ihr bestimmt schon mitbekommen habt, gehört diese Fakultät zu den traditionsreichsten in ganz Deutschland. Dies im Hinterkopf: Was fällt euch besonders auf, wenn ihr durch diese Räumlichkeiten, etwa den Johann-Wolfgang-von, ich betone: von-Goethe-Raum, geht?" Das neben Valentin sitzende, vor Aufregung nach Luft schnappende und offenbar überkompensierende Mädchen riss sofort den Arm hoch, als ginge es bereits um credit points: "Die Stuckdecken!" Noch während das unvermeindliche Gelächter im Saal, dessen Gegenstand das Mädchen, nicht des Mädchens natürlich korrekte Äußerung gewesen war, abflaute, stand Valentin auf, packte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und zertrümmerte ihn auf dem Holzparkettboden. Er kochte. "Dies ist eine Gedankendressuranstalt! 'Was fällt euch besonders auf?' Verdammt, wer so fragt, will auf eine längst feststehende Antwort, in diesem Fall auf ein einziges Wort hinaus. Mir wäre die Stuckdecke nicht aufgefallen, schon gar nicht als etwas Besonderes. Ihr Bildungsschweine dressiert Gehirne, bis sie euch nicht mehr gefährlich werden können, bis sie gar nichts anders mehr denken können, als was ihr von ihnen hören wollt. Wenn diese Gemeinde höriger und dressierter Gehirne dann im Chor ausschreit: HERR DEKAN, DIE STUCKDECKE! DIE STUCKDECKE IM JOHANN-WOLFGANG-VON, WIR BETONEN: VON-GOETHE RAUM FÄLLT UNS BESONDERS AUF!, habt ihr euer Gedankenvernichtungsziel erreicht."
Gegen neun lag Valentin, wie schon den Abend zuvor, in seinem Bett, und dachte nach. Seine geruch- und weltlose, keimfreie und erfahrungsbereinigte, von einem jeder Aufgabe entbundenen Intellekt schattenlos ausgeleuchtete, totale und total absolute, sich in säkularen und intelligiblen Geisterwelten um sich selbst in die Ewigkeit hineindrehende Freiheit hatte er wieder erlangt - und starrte das Weiß der Wand an.