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Schatten an der Wand

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01.10.2010
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Schatten an der Wand

Valentin erhielt den Bescheid, dass er das Studium der Rechtswissenschaften zum Wintersemester antreten könne. Zunächst freute er sich nach innen, doch je länger er las, desto übler wurde ihm; als er schließlich von einer Kneipentour, an der selbst der Dekan teilnehmen würde, erfuhr, musste er sich übergeben. Geistesgegenwärtig formte er das Papier so, dass weder Mobiliar noch Pakistan-Teppich beschmutzt wurden. In diesem Moment reifte in ihm die Gewissheit heran, dass er inmitten von Schweinen, wie er sie nannte, niemals werde studieren können, dass er die Universität erst dann beträte, wenn sie tatsächlich ein Ort des Lichts und nur des Lichts wäre. Alle Selbstbetäubungs- und Selbstbetrugsmöglichkeiten müssten auf totale, vollständig absolute Weise zerstört und vernichtet werden. Seine Schwester Oxana überredete ihn jedoch nach einer sechsstündigen Abnutzungsschlacht, wenigstens an den Eröffnungsveranstaltungen teilzunehmen. "Bedenke, es geht um deine Zukunft!", sagte sie unter Tränen. "Ich MUSS frei sein; mein Schicksal ist die Freiheit, nicht das Glück!" - mit diesen Worten schloss Valentin die Haustür und mithin die Diskussion hinter sich ab, die ihn um die Nacht gebracht hatte. Dass seine Schwester ihm durch die geschlossene Tür nachrief, er würde in Schubladen denken, hörte er schon nicht mehr. Diesen Vorwurf hätte er ohnehin niemals gelten lassen.

Valentin hatte sich in die erste Reihe gesetzt, um möglichst wenig Schweinegesichter sehen zu müssen. Da er ganz außen saß, konnte er aus dem Fenster schauen. Tatsächlich lag sein Blick vorwiegend auf einer alten Eiche, dem sie umspielenden Laub, den Farben des Himmels und den Liedern der Vögel. So in die Natur - oder was von dieser noch durchschimmerte - versunken, erschien ihm die Rede des Dekans außerordentlich unterdurchschnittlich, künstlich und gestelzt. "Wie ihr bestimmt schon mitbekommen habt, gehört diese Fakultät zu den traditionsreichsten in ganz Deutschland. Dies im Hinterkopf: Was fällt euch besonders auf, wenn ihr durch diese Räumlichkeiten, etwa den Johann-Wolfgang-von, ich betone: von-Goethe-Raum, geht?" Das neben Valentin sitzende, vor Aufregung nach Luft schnappende und offenbar überkompensierende Mädchen riss sofort den Arm hoch, als ginge es bereits um credit points: "Die Stuckdecken!" Noch während das unvermeindliche Gelächter im Saal, dessen Gegenstand das Mädchen, nicht des Mädchens natürlich korrekte Äußerung gewesen war, abflaute, stand Valentin auf, packte den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und zertrümmerte ihn auf dem Holzparkettboden. Er kochte. "Dies ist eine Gedankendressuranstalt! 'Was fällt euch besonders auf?' Verdammt, wer so fragt, will auf eine längst feststehende Antwort, in diesem Fall auf ein einziges Wort hinaus. Mir wäre die Stuckdecke nicht aufgefallen, schon gar nicht als etwas Besonderes. Ihr Bildungsschweine dressiert Gehirne, bis sie euch nicht mehr gefährlich werden können, bis sie gar nichts anders mehr denken können, als was ihr von ihnen hören wollt. Wenn diese Gemeinde höriger und dressierter Gehirne dann im Chor ausschreit: HERR DEKAN, DIE STUCKDECKE! DIE STUCKDECKE IM JOHANN-WOLFGANG-VON, WIR BETONEN: VON-GOETHE RAUM FÄLLT UNS BESONDERS AUF!, habt ihr euer Gedankenvernichtungsziel erreicht."

Gegen neun lag Valentin, wie schon den Abend zuvor, in seinem Bett, und dachte nach. Seine geruch- und weltlose, keimfreie und erfahrungsbereinigte, von einem jeder Aufgabe entbundenen Intellekt schattenlos ausgeleuchtete, totale und total absolute, sich in säkularen und intelligiblen Geisterwelten um sich selbst in die Ewigkeit hineindrehende Freiheit hatte er wieder erlangt - und starrte das Weiß der Wand an.

 

...

Hi Salamander,
zwar hatte ich mir vorgenommen zunächst keine Geschichten zu bewerten, da ich mir diese Kompetenz ja nicht einmal bei meinen eigenen Werken zutraue, aber deine Story (der Gedankenfluss deines Prots), kam mir (als Student) so bekannt vor, dass ich mehr als einmal schmunzeln musste und somit zumindest einen Kommentar hinterlassen möchte.
Zunächst sei gesagt, dass sich deine "Geschichte", wie ich finde, sehr schön lesen lässt. Sind einige Passagen drin, die mir besonders gefallen; darunter die Dekan-Mädchen-Goethe-Raum-Passage und der folgende "Ausraster" des Protagonisten.
Genial finde ich auch den letzten Satz, der einen, ob seiner verschlungenen Formulierung, geradezu in Trance zu wiegen vermag. Ich stehe auf solche Wortspielereien und Satzmäandern.
Darüber hinaus regt die ganze Sache zum Nachdenken an, da sich der "Sinn" nicht gleich auf den ersten Blick offenbart, wozu besonders der letzte Satz beiträgt!
Werde mir in nächster Zeit noch ein paar deiner andern Stories gönnen.

Liebste Grüße,
FKugel

 

Tjaa...der Mensch ist eben zum Nachdenken verdammt...mehr fällt mir dazu nicht ein ;)

 

FKugel, ist es nicht naturgemäß schwieriger, Eigenes zu bewerten, weil die Distanz fehlt?

Freut mich, dass dir mein Text gefallen hat. Der Satzmäanders, wie du ihn nennst, ist hier gewissermaßen als Ballon angelegt, der anschwillt, bis eine Nadel - hier in Form eines Gedankenstriches - in ihn hineinsticht und somit der Spaß (oder Spuk?) vorbei ist. Ohne das "Weiß an der Wand" würde die Botschaft nicht deutlich werden.

@Hegel

So schließt sich der imaginäre Kreis. Hegel wollte ich immer schon mal treffen^^

 
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hallo Salamander,
wer Jura studiert, wird entweder sehr staatstreu oder sehr staatskritisch, Mittelwege sind wohl schwieriger zu begehen. Warum schreibt man sich da ein, wo man Schweine fürchtet? Ich denke, hier ist jemand mit sich selbst nicht klar. Für eine kritische Verarbeitung der Verhältnisse fehlt diese Klarheit, hier ließe sich ansetzen, etwa mit einem Bericht über den Juraprofessor, der die Einführungsvorlesung für Erstsemester in das Burschenschaftshaus verlegt, oder ähnlichen Ausfällen der heutigen Universitätslandschaft. Das wäre eine andere Geschichte, eine von einem, der schon weiß, wo er steht. So bleibt es eine Innenschau mitten in einem Prozess, von dem man nur hoffen kann, daß er weiterführt.
Der letzte Satz ist wirklich schön; er übernimmt die akademische Form des Versteckspiels, ungelöste Fragen hinter Satzungeheuern zu verstecken, und führt den Exkurs ins Nichts - wo viele akademische Fragen enden.

Gern gelesen,

Gruß Set

 

Hi Salamander,

ich mag die Geschichte und freue mich hier mal was anderes zu lesen, als über Selbstmord und ausgelutschte Weisheiten. So Durchdrehmomente sind vielleicht wahrhaftiger als alles andere, was man sich sonst so schön und schlüssig zusammenreimt.

Sprachlich würd ich 1-2 Sachen ankreiden:

"nach innen freuen" - Freude entsteht im Inneren und hat keine Richtung. Wenn sie nicht ganz echt ist, heißt es "sich nach außen freuen", aber das Gegenteil davon ist einfach nur "sich freuen".

Was ist mit "überkompensierend" gemeint? *grübel - hyperventilierend?

"totale und total absolute" - wenn dein Erzähler sich selbst sprachlich treu bleiben will, darf er nie, nie, niemals sowas wie "total absolut" sagen! - total absolut hammer krass schräg, hey ... ;)

Gern gelesen!
Gruß
Kasimir

PS: Wenn du willst, ändere ich den Titel, aber ich möchte für die Schatten plädieren - gerade das Gegenteil erzeugt semantische Spannung ;)

 

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