Schatten über dem Frühling
Die folgende Geschichte ist für Heuschnupfen-Geplagte geschrieben. Sie beruht auf realen Tatsachen, Ort, Zeit und Namen sind jedoch verändert. Vielleicht kann der eine oder andere persönlichen Nutzen daraus ziehen.
Es war wieder einmal soweit. Seit ein paar Tagen zog der Frühling durchs Land. Er war nicht spektakulär gekommen, mit Sturm und Getös’, wie sein eisiger Bruder, der Winter, sondern sanft und auf leisen Sohlen. Überall wurden seine Spuren sichtbar: die Wiesen hatten langsam und genießerisch ihr weißes Winterkleid ausgezogen und erste Blumen und frisches Grün lugten aus der feuchten, braunen Erde hervor. Tag für Tag öffneten sich die Knospen der Bäume und Sträucher weiter, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis zarter, grüner Flaum ihre Kronen überziehen würde. Auch die Vögel spürten die Veränderung. Am Morgen, wenn die Sonnenstrahlen den nächtlichen Raureif trockneten, versammelten sich die gefiederten Sängerknaben in der Dachtraufe und stimmten das Hohelied der Liebe an. Doch abends, wenn der sterbende Frost mit seinen eisigen Krallen noch einmal nach ihren Nestern griff, verstummten sie und versteckten ihre Schnäbel tief im Federkleid.
Selbst die Launen der Menschen änderten sich. Allmählich verschwanden die griesgrämigen Wintergesichter in den Mottenkisten, die milde Frühlingssonne zauberte neuen Glanz in die Augen der frierenden Leute. In den milden Mittagsstunden strömten wahre Hundertschaften aus umliegenden Büros und Geschäften und lustwandelten durch die Parkanlagen der Stadt, lachten und flirteten, als ob es eine halbe Ewigkeit Totenstarre nachzuholen gäbe. An windgeschützten Mauern räkelten sich jung und alt auf Parkbänken, dem Sonnengott huldvoll als Opfer dargebracht. Dabei hielt manch junges Mädchen ihre Jacke geöffnet. Unter viel zu kurzen Tops lugte fürwitzig der Bauchnabel hervor, wo Piercings wie Rubine oder Smaragde im Sonnenlicht funkelten.
Unbeachtet von den Menschen deckten draußen vor der Stadt, in den Flussauen der Salzach, Hasel, Erle und Weiden den Bienentisch. Und als der Wind die überschüssigen Pollen mit sich gerissen und übers Land verstreut hatte, begann für Tausende ein Albtraum.
Eva erwischte es am Vormittag, als sie mit dem Zug Richtung Wien zu einem Seminar unterwegs war. Bereits am Morgen hatte sie am Sims ihres Schlafzimmerfensters die verräterischen gelben Spuren entdeckt. Zum Glück war der Wind, von der nächtlichen Arbeit erschöpft, eingeschlafen und so blieb ihr wenigstens noch eine Galgenfrist gegönnt – bis zu diesem Moment. Überall wo nun der feine Staub in ihren Körper eindrang, in Nase, Mund und Ohren, spürte sie dieses grausliche Jucken, das sich mit der Zeit bis zur Unerträglichkeit steigern würde. Die Augen begannen zu brennen. Eva betrachtete ihr Gesicht in einem kleinen Handspiegel und sah, dass die Augenwinkel bereits deutlich gerötet waren. Leise fluchend ließ sie sich in den Sitz des Zugabteils zurückfallen. Der erste Weg in Wien würde sie wohl zu einer Apotheke führen, um ein antiallergisches Medikament zu besorgen. Bis dahin musste eine Hunderterpackung Taschentücher reichen. Eva war froh, dass sie an diesem Morgen ihr Zugabteil für sich allein hatte. So blieb ihr wenigstens die Peinlichkeit erspart, in aller Öffentlichkeit, Schnupfen und Niesen zu müssen.
Tak ... Tak .... Tak.... Das rhythmische Stampfen der Räder nervte die junge Frau, sein Klopfen dröhnte in ihrem Kopf und auch das Licht, das zum Fenster herein strömte, schmerzte sie. Unwirsch zog Eva das Rollo herunter und als ihr das noch zuwenig dunkel schien, setzte sie sich eine überdimensional große Sonnenbrille auf. Gegen das Stampfen war sie jedoch weiter machtlos. Und gerade als sie einen besonders prächtigen Niesanfall erlitt, öffnete sich die Tür.
„Gesundheit!“ eine etwas beleibte, ältere Dame wuchtete schwer atmend zunächst ihre Tasche und dann sich selbst ins Abteil. „Sie hat’s aber erwischt!“
„Danke!“ näselte Eva. „Es ist nichts Ansteckendes, nur Heuschnupfen. Bitte entschuldigen Sie!“
‚Bitte entschuldigen Sie’. Im nachhinein kam Eva diese Floskel überflüssig vor, wie ein Kropf. Wofür sollte sie sich entschuldigen? Etwa dafür, dass sich die fremde Frau ins Abteil gequetscht hatte? Aber wenn es ihr schlecht ging, neigte Eva dazu, alle Schuld der Welt auf sich zu nehmen. Und ihr ging es im Moment reichlich mies.
Auch der fremden Frau war die Situation unangenehm. Sie hatte sich in dieses Abteil gesetzt, nicht weil sie aufdringlich sein wollte, sondern ganz einfach weil es dasjenige war, das von allen Abteilen am wenigsten belegt war. Sie hatte erst verstanden, als sie schon Platz genommen hatte. Und dann hatte sie keine Lust mehr verspürt ihre Leibesfülle und das schwere Gepäck woandershin zu packeln. Und so zog sie sich hinter eine Zeitschrift zurück und begann zu lesen. Für eine Weile herrschte Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichem Schniefen und Niesen.
Als endlich die fremde Frau das stumme Leiden nicht mehr mit anschauen wollte, ergriff sie wieder das Wort: „Sie sind ja wirklich schlimm dran. Darf ich sie etwas fragen?“ und ohne eine Antwort anzuwarten: „Gegen was sind sie allergisch?“
Eva, inzwischen an die Anwesenheit der fremden Frau gewöhnt, blickte über den Rand ihrer Sonnenbrille. Es war ja schließlich nicht die Schuld ihrer Mitreisenden, dass Eva zu blöd gewesen war, rechtzeitig Medikamente zu besorgen. Vielleicht würde ein bisschen Tratsch ganz gut tun. Also setzte sie die Sonnebrille ganz ab und erklärte: „Gegen Bäume und Gräser und auch gegen bestimmte Nahrungsmittel. Nahrungsmittel meide ich so gut es geht, doch wenn Pollen fliegen, helfen nur Medikamente.“ Und etwas selbstkritisch fügte sie hinzu: „Ich hätte bereits am Morgen welche in der Apotheke besorgen sollen.“
„Seien sie nicht zu hart zu sich.“ Der Frau waren Evas Selbstvorwürfe nicht verborgen geblieben. „Und wenn ich zu neugierig sein sollte, sagen sie’s, aber haben sie schon etwas anderes als Medikamente probiert?“
„Aber sicher! Vor drei Jahren, bekam ich von der Krankenkasse eine Hypo...“
„Eine Hypo?“ unterbrach sie die fremde Frau.
„Eine Hyposensibilisierung. Das ist so eine Spritzenkur. Dabei wird versucht den Körper an die Reizstoffe zu gewöhnen.“ Eva zeigte auf eine Stelle an ihrem Oberarm. „Hier: Drei Jahre lang – zwei Mal die Woche. Spritzen.“
„Aber bei Ihnen scheint die Behandlung nicht recht angeschlagen zu haben.“
„Das einzige, woran ich mich gewöhnt habe, war regelmäßig Spritzen geben.“ meinte Eva lakonisch. „Das wurde für mich so normal wie täglich Zähne putzen. Doch am Ende schwammen mehr Antikörper im Blut als je zuvor.“ resignierend zuckte Eva mit den Schultern. „Die Allergie war schlimmer geworden.“
„Mhm! Ich möchte nicht schulmeistern, aber ...“, die fremde Frau reichte Eva ein Kärtchen, „aber vielleicht möchten Sie es einmal mit Akupunktur versuchen?“
Eva betrachtete das Kärtchen. Sie las Dr. med. univ., gefolgt von einem exotisch klingenden Namen, in der nächsten Zeile: alle Kassen. Der Visitenkarte nach musste es sich um einen praktischen Arzt handeln, der in einem kleinen Kaff in Oberösterreich ordinierte.
„Woher haben sie die Karte? Kennen sie den Mann persönlich?“ wollte Eva wissen.
„Ich war schon ein paar Mal bei ihm. Sie müssen wissen, ich selbst bin zwar glücklicherweise von Allergien oder dergleichen verschont geblieben. Toi, Toi, Toi!“ dabei klopfte die Frau dreimal auf die kleine hölzerne Ablage am Fenster. „Aber meine Tochter hat es schlimm erwischt. Zu Anfang schien alles ganz harmlos...“
Und dann erzählte die fremde Frau die Leidensgeschichte ihrer Tochter. Sie ließ nichts aus, von den ersten Rötungen auf der Haut, bis zum Tiefpunkt der Entwicklung, einem Lungenasthma; und wie sie später von Heilpraktiker zu Heilpraktiker gezogen waren, Rat bei Pendlerinnen und Wünschelrutengängern gesucht hatten, all das erzählte sie.
„... und dann begegnete mir diese Frau. Und die gab mir den Tipp mit der Akupunktur. Meine Tochter hat zwar den Heuschnupfen nie wirklich besiegen können, aber sie kommt seither ohne Asthmamittel aus und braucht auch ganz selten noch Medikamente. Wenn’s bei Ihnen nicht ganz so weit fehlt, vielleicht hilft’s überhaupt?“
„Nächster Halt – Linz. Next Stopp – Linz!“ tönte es aus dem Lautsprecher. Die fremde Frau, die Eva später als ihren Engel in Gestalt einer Babuschka bezeichnen sollte, packte ihr Gepäck zusammen und schob schwer atmend zur Tür hinaus. Nicht ohne „Gute Besserung“ zu wünschen.
Wieder allein betrachtete Eva das Kärtchen nachdenklich und als der Zug aus dem Bahnhof rollte, tippte sie bereits eine Telefonnummer in ihr Handy. Ja sie würde einen Versuch wagen.