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Scharlachrot

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18.09.2002
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Scharlachrot

Ich habe sie gefunden. Sie lag nackt in der Wanne, ihr Körper gerade vom Wasser bedeckt. Ihr Gesichtsausdruck war entspannt, zufrieden. So hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Sie sah aus wie eine Wassernymphe. Das Haar klebte ihr nass an den Schläfen... es schimmerte dunkel und erinnerte mich an poliertes Ebenholz.

Die Wassertropfen an ihrem Körper reflektierten das Licht von sechs Kerzen, die um die Wanne herum aufgestellt waren und gaben dem ganzen Bild einen Hauch von Unwirklichkeit. Die Flammen flackerten leicht, als ich mich der Wanne näherte. Als ich es sah, erschrak ich nicht. Ich schrie auch nicht auf. Ich stand einfach nur da und starrte auf sie hinab.
Das Wasser um sie herum hatte sich rot verfärbt. Das diffuse Licht der Kerzen verschleierte die Wirklichkeit, warf einen nebelhaften Schleier über die nackte Realität. Das alles machte es nicht ungeschehen, aber es wirkte fast ein bisschen tröstlich.

Erst jetzt bemerkte ich die verstreuten Rosenblätter auf dem Boden. Fast war ich versucht zu lächeln. Sie hatte an alles gedacht, hatte ihren Tod bis ins kleinste Detail geplant. Alles war da, die Kerzen, die Rosenblätter, und ich war mir sicher, dass sie auch an den Badezusatz gedacht hatte.

Als ich ihr wieder ins Gesicht sah, bemerkte ich, dass sie sich auch geschminkt hatte. Wassertropfen hatten ihre Wimperntusche verwischt, schwarze Bahnen zogen sich ihre Wnagen hinab. Ihre Nägel hatte sie schwarz lackiert, auch die Fußnägel hatte sie nicht vergessen.
Am liebsten hätte ich sie aus der Wanne gezogen, in ein Handtuch gewickelt und einfach nur gehalten. So wie ich es eigentlich nie wirklich getan hatte...
Warum ich nicht sofort die Rettung gerufen habe? Oh, das habe ich. Diese ganzen Eindrücke strömten innerhalb von wenigen Sekunden auf mich ein, und obwohl ich wie festgenagelt dort stand und sie einfach nur anstarren konnte, zwang ich mich, zum Telefon zu gehen und die Rettung anzurufen, obwohl ich sicher war, dass es bereits zu spät war.

Als ich wieder ins Badezimmer kam, schob ich meine Ärmel nach oben und griff in die Wanne, um sie herauszuheben. Ihre Arme fielen schlaff an ihrer Seite herab und jetzt sah ich die Wunden, sah das klaffende Fleisch.

Normalerweise kann ich einiges vertragen, doch bei diesem Anblick spürte selbst ich eine leichte Übelkeit aufsteigen. Ich zwang mich, wegzusehen, und legte sie, nackt wie sie war, auf den Boden. Ich griff nach einem weißen, großen Badetuch, und hob sie an, um sie darin einzuwickeln, dann zog ich sie einfach in meine Arme.
So saß ich also auf den kalten Fliesen und hielt sie in meinen Armen. Als ich sie ansah, spürte ich, wie sich etwas in meiner Brust zusammenzog. Ich strich ihr die Haarsträhnen aus der Stirn und betrachtete ihr Gesicht - ihre wunderschönen Augen über den elegant geschwungenen Augenbrauen, die nie mehr "lächeln" konnten, ihre Nase, ihren Mund... sie war blaß, ihre Lippen waren blutleer. Sie war... tot.

Mein Daumen streichelte über ihre Wange, ich konnte einfach nicht anders. Ich musste sie berühren, fühlen, wie kalt sie war, um mir zu beweisen, dass sie wirklich tot war. Ich beugte mich über sie und gab ihr einen letzten Kuss auf die Lippen. Unbewusst hatte ich die Augen geschlossen, wollte sie mit allen Sinnen ein letztes Mal fühlen, wollte nicht vergessen, wie es gewesen war - und wie es noch hätte sein können.
Fast widerwillig löste ich mich von ihr. Auf ihrer Wange schimmerte es feucht, langsam rann eine Träne über ihre schneeweiße Haut. Ich weinte. Körperliche Schmerzen haben mir nie etwas ausgemacht. Ich habe sie stets widerspruchslos ertragen. Seelische Schmerzen wurden einfach ignoriert und verdrängt. Diese Situation hingegen war anders; genauso wie sie anders gewesen war als alle anderen. Sie verloren zu haben, tat schon fast körperlich weh, und was das sonst noch in mir auslöste, vermag ich nicht zu beschreiben.
Es war, als hätte ich erst jetzt begriffen, richtig begriffen, was sie wirklich für mich war. Erinnerungen brachen über mich wie eine Flut herein und verdrängten den Nebel in meinem Kopf, der sich dort breitgemacht hatte. Ich sah ihr Lächeln, konnte sie hören, meinte sogar, sie warm und lebendig in meinen Armen fühlen zu können.

Und während all diese Gedanken auf mich einströmten, weinte ich. Ich weinte und weinte und konnte nicht aufhören. Kein Laut kam aus meinem Mund, kein Schluchzen oder ähnliches, doch die Tränen liefen über meine Wangen und hinterließen einen feuchten Fleck auf meinem Pullover.

Als es an der Tür klingelte, wollte ich gar nicht öffnen, denn dann würde ich sie loslassen. sie für immer gehen lassen müssen. Ich sah auf den leblosen Körper in meinen Armen. "Ich liebe dich", sagte ich. "Ich liebe dich." Ich hatte es nie zu ihr gesagt, als sie noch lebte. Ich hatte es mir nicht eingestehen können. Nur jetzt, wo es zu spät war...

Langsam erhob ich mich und nahm sie erneut in die Arme. Ihr Kopf ruhte an meiner Schulter, ihr nasses Haar hinterließ weitere Flecken auf meinem Pullover. Es muss komisch ausgesehen haben, wie ich da so stand, sie in den Armen, mein Gesicht tränenverschmiert.
Die Rettungsleute nahmen sie mir weg, bedrängten mich mit Fragen, die ich nicht beantworten konnte und wollte und versuchten das Sinnlose. "Es ist zu spät", haben sie dann gesagt und sie mitgenommen.

Mittlerweile habe ich ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung am Hals und meinen Job verloren. Meine einzige Beschäftigung ist es, zuhause zu sitzen und daran zu denken, was ich verloren habe. Sie hat einmal gesagt, mein Leben wäre leer, so ganz ohne Liebe. Sie hatte unrecht. Jetzt ist es leer. Ohne sie.

 

Hallo soecky!

Du schreibst flüssig und mit vielen guten, simmungsvollen Beschreibungen. Eine stille Geschichte, voll stummen Gefühlen, voller Beschreibungen. Du hast die Atmosphäre gut rübergebracht.

Zwei besonders starke Stellen in meinen Augen:

"Am liebsten hätte ich sie aus der Wanne gezogen, in ein Handtuch gewickelt und einfach nur gehalten. So wie ich es eigentlich nie wirklich getan hatte..." -Verlust. Erst jetzt kann er erkennen, was sie ihm bedeutete... soviel ungetan, ungesagt...

"Sie hat einmal gesagt, mein Leben wäre leer, so ganz ohne Liebe. Sie hatte unrecht. Jetzt ist es leer. Ohne sie"

Am Schluss die Stelle mit unterlassener Hilfeleistung... ich bin mir nicht sicher, aber so schnell wird einem da doch kein Verfahren angehängt... gerade, wenn es sich um eine derartige Schocksituation handelt. Dass er die Rettung gerufen hat, ist ja schon die erste aller Hilfen.

Ansonsten sehr stimmige Geschichte, gern gelesen.

schöne Grüße, Anne

 

Danke für das Lob, hat mich sehr gefreut. :)

Wie das mit dem Verfahren ist - ich denke, so etwas ist möglich, aber genau weiß ich es leider auch nicht, wie ich gestehen muss... :hmm:

Sollte mich das nächste Mal ein bisschen besser erkundigen.

Liebe Grüße,
söcky

 

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