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Schallwellen

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26.02.2003
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Schallwellen

Play!
Die Menschen sterben.
Ich sehe ihnen dabei zu.
Niemand von den Leuten dort unten im Nachtclub beachtet mich hier in der Kabine des Dj’s. Niemand kommt hierher. Von hier oben kann ich durch ein großes Glasfenster alles überblicken.
Heute ist es anders als letztes mal. Sie pressen nicht die Hände auf die Ohren. Sie sterben nicht unter Schmerzen. Sie bringen sich gegenseitig um. Auf diese Art wird es schneller zu Ende sein.
Ilya ist mitten unter ihnen. Er winkt mir und macht das Zeichen für: „Fantastisch“. Niemand kümmert sich um ihn. Sie beachten ihn nicht. Sie sind zu beschäftigt damit, sich gegenseitig zu töten.
Ich frage mich, was sie hören.
Ich selbst bin taub, seit meiner Geburt.
Ilya konnte früher hören. Ich fragte ihn wie es war und er antwortete mir: „Du hast nichts versäumt“, aber ich glaube ihm nicht.
Ich möchte wissen wie es ist Musik zu hören. Ich habe davon gelesen, in Büchern. Es muss wunderschön sein.
Manchmal, bei Aufträgen wie diesem mit vielen Menschen, wenn ich die Regler weit aufdrehe und die Vibrationen spüre, glaube ich Worte zu hören. Worte die ich nicht verstehe, da ich nur die Zeichensprache kenne. Ob Ilya sie wohl hören kann? Ob er sie versteht? Ich glaube nicht und ich habe Angst ihn danach zu fragen. Über manche Dinge soll man nicht sprechen.
Unsere Taubheit schützt uns vor dem, das diese Menschen dort umbringt. Deshalb wurden wir ausgewählt. Ich denke nicht viel über den Sinn dessen nach was ich hier tue. Ich lege nur das Band ein und sehe zu was passiert.
Ilya hingegen hat Spaß daran. Er macht Bilder und winkt mir hinunterzukommen und zuzusehen. Ich verneine. Ich bleibe lieber hier und warte bis alles vorbei ist. Es macht mir keine Freude zu töten, aber die Menschen kümmern mich nicht. Warum? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil ich mich nicht als Teil ihrer Gemeinschaft fühle. Meine Behinderung hat mich von Geburt an isoliert. Ich gehöre nicht zu ihnen. Warum sollte ihr Tod mich belasten?
Möglicherweise hasse ich sie. Neid, auf ihre Fähigkeit des Hörens. Ist es das? Ich möchte Musik hören. Ich möchte fähig sein sie zu lieben, wie sie es tun...
Ilya reißt mich aus meinen Gedanken. Er gestikuliert wild mit den Armen ohne etwas zu sagen. Dann sehe ich was ihn so erregt.
Ein Mädchen.
Sie tötet nicht.
Sie stirbt nicht.
Sie tanzt.
Mit geschlossenen Augen wiegt sie ihren Körper zu etwas das mir verschlossen bleibt.
Ich hasse sie.
Warum ist sie immun? Manchmal befinden sich Taubstumme im Saal die das Band nicht beeinflusst. Aber dieses Mädchen ist anders. Sie reagiert untypisch.
Ilya fragt mich, ob er sie erschießen soll. Ich verneine. Ich sage ihm er soll sie durchsuchen, ihre Identität feststellen. Man wird sie holen und herausfinden was an ihr anders ist. Sie lässt sich von seinen Berührungen nicht irritieren. Vielleicht ist sie wahnsinnig?
Egal, fast niemand mehr ist am Leben. Zumindest kämpft keiner mehr. Ilya verteilt Kopfschüsse an auf dem Boden liegende. Ich mag das nicht. Es zerstört die Unberührtheit ihres Todes. Aber ich lasse ihn gewähren. Es liegt immer an mir, Streit zu vermeiden.
„Lass uns gehen“, sage ich zu ihm, als er kurz nach oben blickt. Er nickt.
Ich stelle den Ton ab und nehme das Band. Eine Videokamera hat alles aufgenommen was unten passiert ist. Sie hat kein Mikrophon.
Die Aufnahme ist wichtig. Sie wollen wissen wie das neue Band gewirkt hat.
Ich nehme die Kamera und verlasse die Kabine über die Feuerleiter. Unten wartet bereits Ilya auf mich.
Wir wandern durch die dunklen Gassen der nächtlichen Stadt, ohne auf jemanden zu treffen.
Jeder von uns trägt ein kleines Tonbandgerät in der Tasche, für Notfälle. Ilya spielt damit herum. Er trägt es offen und hält es hoch, wenn wir an beleuchteten Fenstern vorbeigehen. Als ob er es den Menschen darin vorspielen will. Dabei grinst er.
Ich mag diese Scherze nicht und gebe vor ihn nicht zu beachten.
Endlich erreichen wir die Station. In der U-Bahn fühle ich mich sicher vor Überraschungen. Die Wagen sind leicht zu überblicken. Niemand kann sich so unbemerkt an uns heranschleichen.
Ilya schläft. Er schläft immer im Zug. Vielleicht noch ein Grund warum ich den Zug mag.
Ich frage mich was morgen in den Zeitungen stehen wird. Oft werden die Vorfälle vertuscht. In letzter Zeit scheint es eine eigene Abteilung für solche Fälle zu geben. Sie brennen den Nachtclub noch vor dem Morgen nieder und schreiben die Toten dem Feuer zu. Sie wollen die Bevölkerung nicht beunruhigen. Aber immer wenn sie ein Mittel finden, das Geschehene wirksam zu verheimlichen, werden unsere Aufträge größer.
Ich habe Gerüchte gehört. Man spricht von einer Radiostation.
Ich denke an das tanzende Mädchen. Wird sie auch im Feuer sterben? Vielleicht hätte Ilya sie doch erschießen sollen.
Egal, jetzt ist es zu spät.
Als wir zu Hause ankommen treffen wir Klaus und Irina auf einem der Gänge. Ilya deutet ihnen “Dj’s aus der Hölle“ und wir alle lachen. Ich frage mich wie sich Lachen anhört. Ob wohl ein Geräusch aus meinem Mund kommt? Ich entschuldige mich und mache mich auf den Weg nach unten um das Band und die Aufnahmen abzuliefern.
Unterwegs treffe ich auf eine Gruppe von Blinden. Die Blinden machen mich immer nervös. Ich weiß nicht was sie tun, aber Ilya sagt, es ist schlimmer als unsere Aufträge.
Ich glaube er bewundert sie.
Als ich mich unauffällig an ihnen vorbeidrücken will, greift plötzlich einer mein Handgelenk und ich höre ihn in meinem Kopf. Es ist als ob mir eine lang vergessene Erinnerung wieder eingefallen wäre. Aber es kommt nicht aus mir, es kommt von dem Blinden der mich festhält.
„Dein Freund Ilya hat sich seine eigenen Gehörgänge zerstört um diese Arbeit machen zu dürfen“ dann lässt er mich los.
Die Blinden wissen gar nichts.
Ilya ist nicht mein Freund.

 

Schöner, knapper Erzählstil voll mit Methaphern.
Endzeit. Blinde, Taube, anders Verkrüppelte herrschen, erfüllen imaginäre Aufträge imaginärer Auftraggeber.
Angst ist das Thema, Mißtrauen. Die menschliche Rasse ist an ihrer Grenze angelangt. Fast schon Alltag.
Mich hat dieser Text sehr angesprochen.
Tolle Idee, sehr gut umgesetzt, porcupine.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo aqualung

ich bin noch etwas neu hier und muss erst rausfinden wie das alles abläuft, ich habe die eine e-mail geschrieben, aber jetzt hab ich rausgefunden das man direkt bei den beiträgen antworten kann..soll? muss? :rolleyes:

also, danke für das Lob, es freut mich das meine Geschichte dich angesprochen hat

Was mir an deinen bemerkungen auffällt ist, dass du diese Welt drumherum ganz anders siehst als ich selbst. Das ist aber auch das faszinierende am geschriebenen Medium. Die Geschichten sind immer einzigarzig in den Köpfen der Leser.
Mir gibt ein solches Feedback gleich wieder neue Anregungen.

danke nochmal.

 

Moin porcupine :)

Ich musste es zweimal lesen um es zu erfassen... :D

Eine beängstigende Vorstellung die du hier präsentierst.

Genial vor allem wegen dem letzten Satz ....

 

Na, da schreibt aber heute jemand fleissig Kritiken ;)

Vielen Dank auch, freut mich, wenn dir meine Geschichten gefallen :)

Porcupine

 

Wenn ich mal jemanden gefunden haben dessen Stories mir zusagen beisse ich mich an ihm fest *haps*

so, jetzt gehe ich aber erst mal ne Runde in die Flimmerkiste gucken :)

Bis dann :)

( irgendeine Deiner Stories die du mir besonders empfehlen kannst? )

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Porcupine!

Sehr gut, dass Jadzia diese starke Geschichte ausgegraben hat! Gehörlose werden von ihren Auftraggebern ausgesandt und benutzen Schallwellen in Versuchen als Waffe, um Menschen in den Tod zu treiben. Dein Prot. ist nicht glücklich über seinen "Job", doch erhebt ihn seine Behinderung zumindest kurzfristig über die Opfer, die er insgeheim um die Fähigkeit, Musik zu hören beneidet. Ganz anders dagegen sein Partner, der sich aus Vergnügen andere zu quälen, offenbar absichtlich selbst verstümmelte. Was mögen die Blinden wohl für eine Order haben?

Toll beschriebene, düstere Atmosphäre, die an Kälte an die frostigen Temperaturen in meinem Gefrierschrank heranreicht.

Und: Die letzten zwei Sätze sind hammermäßig! :thumbsup:


Ciao
Antonia

 

hallo Antonia

freut mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Das war meine erste Geschichte auf KG.de und eine der wenigen die mir sozusagen "aus den fingern geschlüpft" ist, ich habe sie in einem Zug niedergeschrieben.

ah, nostalgie *träneimaugezerdrück* ;)

Heli

 

Gesamt betrachtet eine gute Story, weil schön düster und endzeitmäßig. Leider erfährt man nichts über Auftraggeber und sonstige Hintergründe. Gerade das macht die Story so grausam gut. Die Figur Ilya ist (wie die meisten "bösen" Figuren) die beste. Er, der um seiner Mordlust nachkommen zu können, sich selbst verstümmelt - zum Behinderten macht. Sehr real. "Verstümmeln" wir uns nicht oft selbst, um etwas zu erreichen, sei es beruflich oder im privaten?Flüssig geschriebene Story mit Pointe.

 

porcu: Damit bist du für mich der Beweis das nicht jede Story von Grund auf tagelang geplant werden muss :)

 

Hallo Porcupine!

Das war Deine erste Geschichte auf kg.de? Kompliment! Ich wünschte, meine Ideen würden sich ebenfalls so genial ihre Bahn ins Forum brechen. *neid*

Apropos Verstümmeln: t-k-k erwähnt einen sehr nachdenkenswerten Aspekt: Richtig, wir verstümmeln/reduzieren uns tatsächlich oft selbst, um Ziele zu erreichen. Um welchen Preis?


LG
Antonia

 

Hallo Porcupine!

Das ist die absolut erste SF-Story, die ich gelesen habe und die Welt hat es dir zu verdanken, wenn ich in Zukunft öfters in dieser Rubrik herumtreibe!

Nein, weg mit der Arroganz, deine Geschichte war schlichtwegs gut, ich bin ein bisschen spät dran, so bleibt mir nicht viel mehr übrig, als mich einfach den anderen anzuschliessen.
Ich glaube viele auf dieser Seite könnten neidisch werden, wenn sie diese, deine erste kg auf kg.de lesen. So angefangen hätte ich auch gerne...

Ich mag deine knappen, schroffen und doch vielsagenden Sätze, das baut schön Spannung auf.

Einzig fehlen tut mir vielleicht ein bisschen Begründung, wie es dazu gekommen ist, dass plötzlich die Blinden und Tauben führen.
Aber ich irgendwozu habe ich ja auch meine Phantasie.

Wenn ich diese Story nun am 26.02.2003 gelesen hätte, würde ich sagen: Mach weiter so!, aber unterdessen hast du ja bekanntlich schon so(oder noch besser) weitergemacht...:)

MfG,

Van

 

Hallo Van Horebeke

Das ist ja schon zu viel des Lobes. Auch, wenn ich die Geschichte für eine meiner gelungensten halte. Warum? ich weiß nicht, wahrscheinlich weil ich sie geschrieben habe ohne stunden und tagelang daran zu arbeiten.

Porcupine

 

Zuviel des Lobes? What?
Nein, ich habe keine Mühe damit mal ne schlechte Kritik zu schreiben, wenn mir etwas nicht gefällt. Aber irgendwie triffst du mit deinem Stil (der vielleicht gar nicht jedermanns sache ist, andere mögen lange, ausführliche (Thomas Mann-)Sätze) einfach meinen Geschmack. Ich kann so einfach schnell durch Geschichten lesen, auch wenn meine Anfangskonzentration nicht genial ist und trotzdem bekomme ich alles mit.
Genau so wie du sie geschrieben hast lässt sie sich auch lesen.

Bei mir ist das Problem, wenn ich einfach so niederschreibe, dass ich gleichzeitig auch einfach so Fehler niederschreibe... aber das wird sich hoffentlich ändern...

Van H

 

Hallo porcupine,

es ist geschickt gemacht: Das Geschehen ist ziemlich absurd, auch weil die Protagonisten neutral dargestellt werden. Keine ausgeklügelte Rache treibt sie, keine Angst vor Konsequenzen, wenn sie ihre `Arbeit´ nicht tun. Aber man weiß trotz aller Irrationalität: Der Mensch hat das Vermögen, so zu handeln. Dies lässt die Story bedrohlich wirken, und zu wahr, als dass man sich nicht lieber auf das Absurde konzentrieren wollte…
Der Schluß macht aber damit Schluß…

Tschüß… Woltochinon

 

hallo Woltochinon :)

freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat

...das hat sie doch, oder? :susp:

 

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