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Schallwellen
Play!
Die Menschen sterben.
Ich sehe ihnen dabei zu.
Niemand von den Leuten dort unten im Nachtclub beachtet mich hier in der Kabine des Dj’s. Niemand kommt hierher. Von hier oben kann ich durch ein großes Glasfenster alles überblicken.
Heute ist es anders als letztes mal. Sie pressen nicht die Hände auf die Ohren. Sie sterben nicht unter Schmerzen. Sie bringen sich gegenseitig um. Auf diese Art wird es schneller zu Ende sein.
Ilya ist mitten unter ihnen. Er winkt mir und macht das Zeichen für: „Fantastisch“. Niemand kümmert sich um ihn. Sie beachten ihn nicht. Sie sind zu beschäftigt damit, sich gegenseitig zu töten.
Ich frage mich, was sie hören.
Ich selbst bin taub, seit meiner Geburt.
Ilya konnte früher hören. Ich fragte ihn wie es war und er antwortete mir: „Du hast nichts versäumt“, aber ich glaube ihm nicht.
Ich möchte wissen wie es ist Musik zu hören. Ich habe davon gelesen, in Büchern. Es muss wunderschön sein.
Manchmal, bei Aufträgen wie diesem mit vielen Menschen, wenn ich die Regler weit aufdrehe und die Vibrationen spüre, glaube ich Worte zu hören. Worte die ich nicht verstehe, da ich nur die Zeichensprache kenne. Ob Ilya sie wohl hören kann? Ob er sie versteht? Ich glaube nicht und ich habe Angst ihn danach zu fragen. Über manche Dinge soll man nicht sprechen.
Unsere Taubheit schützt uns vor dem, das diese Menschen dort umbringt. Deshalb wurden wir ausgewählt. Ich denke nicht viel über den Sinn dessen nach was ich hier tue. Ich lege nur das Band ein und sehe zu was passiert.
Ilya hingegen hat Spaß daran. Er macht Bilder und winkt mir hinunterzukommen und zuzusehen. Ich verneine. Ich bleibe lieber hier und warte bis alles vorbei ist. Es macht mir keine Freude zu töten, aber die Menschen kümmern mich nicht. Warum? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich, weil ich mich nicht als Teil ihrer Gemeinschaft fühle. Meine Behinderung hat mich von Geburt an isoliert. Ich gehöre nicht zu ihnen. Warum sollte ihr Tod mich belasten?
Möglicherweise hasse ich sie. Neid, auf ihre Fähigkeit des Hörens. Ist es das? Ich möchte Musik hören. Ich möchte fähig sein sie zu lieben, wie sie es tun...
Ilya reißt mich aus meinen Gedanken. Er gestikuliert wild mit den Armen ohne etwas zu sagen. Dann sehe ich was ihn so erregt.
Ein Mädchen.
Sie tötet nicht.
Sie stirbt nicht.
Sie tanzt.
Mit geschlossenen Augen wiegt sie ihren Körper zu etwas das mir verschlossen bleibt.
Ich hasse sie.
Warum ist sie immun? Manchmal befinden sich Taubstumme im Saal die das Band nicht beeinflusst. Aber dieses Mädchen ist anders. Sie reagiert untypisch.
Ilya fragt mich, ob er sie erschießen soll. Ich verneine. Ich sage ihm er soll sie durchsuchen, ihre Identität feststellen. Man wird sie holen und herausfinden was an ihr anders ist. Sie lässt sich von seinen Berührungen nicht irritieren. Vielleicht ist sie wahnsinnig?
Egal, fast niemand mehr ist am Leben. Zumindest kämpft keiner mehr. Ilya verteilt Kopfschüsse an auf dem Boden liegende. Ich mag das nicht. Es zerstört die Unberührtheit ihres Todes. Aber ich lasse ihn gewähren. Es liegt immer an mir, Streit zu vermeiden.
„Lass uns gehen“, sage ich zu ihm, als er kurz nach oben blickt. Er nickt.
Ich stelle den Ton ab und nehme das Band. Eine Videokamera hat alles aufgenommen was unten passiert ist. Sie hat kein Mikrophon.
Die Aufnahme ist wichtig. Sie wollen wissen wie das neue Band gewirkt hat.
Ich nehme die Kamera und verlasse die Kabine über die Feuerleiter. Unten wartet bereits Ilya auf mich.
Wir wandern durch die dunklen Gassen der nächtlichen Stadt, ohne auf jemanden zu treffen.
Jeder von uns trägt ein kleines Tonbandgerät in der Tasche, für Notfälle. Ilya spielt damit herum. Er trägt es offen und hält es hoch, wenn wir an beleuchteten Fenstern vorbeigehen. Als ob er es den Menschen darin vorspielen will. Dabei grinst er.
Ich mag diese Scherze nicht und gebe vor ihn nicht zu beachten.
Endlich erreichen wir die Station. In der U-Bahn fühle ich mich sicher vor Überraschungen. Die Wagen sind leicht zu überblicken. Niemand kann sich so unbemerkt an uns heranschleichen.
Ilya schläft. Er schläft immer im Zug. Vielleicht noch ein Grund warum ich den Zug mag.
Ich frage mich was morgen in den Zeitungen stehen wird. Oft werden die Vorfälle vertuscht. In letzter Zeit scheint es eine eigene Abteilung für solche Fälle zu geben. Sie brennen den Nachtclub noch vor dem Morgen nieder und schreiben die Toten dem Feuer zu. Sie wollen die Bevölkerung nicht beunruhigen. Aber immer wenn sie ein Mittel finden, das Geschehene wirksam zu verheimlichen, werden unsere Aufträge größer.
Ich habe Gerüchte gehört. Man spricht von einer Radiostation.
Ich denke an das tanzende Mädchen. Wird sie auch im Feuer sterben? Vielleicht hätte Ilya sie doch erschießen sollen.
Egal, jetzt ist es zu spät.
Als wir zu Hause ankommen treffen wir Klaus und Irina auf einem der Gänge. Ilya deutet ihnen “Dj’s aus der Hölle“ und wir alle lachen. Ich frage mich wie sich Lachen anhört. Ob wohl ein Geräusch aus meinem Mund kommt? Ich entschuldige mich und mache mich auf den Weg nach unten um das Band und die Aufnahmen abzuliefern.
Unterwegs treffe ich auf eine Gruppe von Blinden. Die Blinden machen mich immer nervös. Ich weiß nicht was sie tun, aber Ilya sagt, es ist schlimmer als unsere Aufträge.
Ich glaube er bewundert sie.
Als ich mich unauffällig an ihnen vorbeidrücken will, greift plötzlich einer mein Handgelenk und ich höre ihn in meinem Kopf. Es ist als ob mir eine lang vergessene Erinnerung wieder eingefallen wäre. Aber es kommt nicht aus mir, es kommt von dem Blinden der mich festhält.
„Dein Freund Ilya hat sich seine eigenen Gehörgänge zerstört um diese Arbeit machen zu dürfen“ dann lässt er mich los.
Die Blinden wissen gar nichts.
Ilya ist nicht mein Freund.