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Schönheit kommt von innen
„Kennst du auch dieses Gefühl, wenn du ganz still dasitzt und die Natur betrachtest? Alle diese herrlichen Dinge um dich her? Als ob dein Herz sich ganz weit öffnet und alle diese kleinen Wunder in sich hineinsaugt? Dies zarte Gefühl, wenn du Blumen auf der Wiese siehst, wie sie stolz ihre Blüten präsentieren? In den schönsten Farben, als ob sie um die Gunst der Sonne wetteifern? Tatsächlich aber buhlen sie um die Bienen und die anderen Insekten, damit sie ihren Blütenstaub weitertragen. Laura, glaub mir. Das ist die wahre Liebe.“
Sie saßen beide auf der Bank im Park.
Es war bereits Oktober und sicher einer der letzten warmen Tage in diesem Jahr. Die Sonne schien durch die Bäume und zauberte ein wunderbares Spiel aus Licht und Schatten auf die Wege. Die späten Blüten in den Sträuchern erfüllten die warme Luft mit ihrem Duft.
Die beiden Frauen kannten sich seit Monaten und waren beste Freundinnen geworden.
Doch sie waren so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können.
Während Laura eine wahre Schönheit war, mit schlanker Figur, langen kastanienbraunen Haaren, großen, ausdrucksvollen Augen und stolzen Gesichtszügen, war Sarah eher unscheinbar.
Sie war einen halben Kopf kleiner als ihre Freundin, von massiger, rundlicher Statur mit tief zwischen den Schultern sitzendem Kopf. Aber sie strahlte eine ruhige Gemütlichkeit aus, und mit ihrem freundlichen Wesen gewann sie Jeden, der mit ihr in Kontakt kam.
„Sarah, ich mache mir Sorgen.“ Laura sah ihre Freundin von der Seite an, deren Blicke über die Wiese mit den Blüten und den Gräsern schweiften, die in der Sonne wie Edelsteine glänzten. Sie schien in einer anderen Welt zu sein.
„Ich liebe ja auch die Natur. Wer tut das nicht? Aber du solltest aufwachen. Es gibt auch noch andere Dinge, und ich meine, du solltest davon auch einmal etwas mitbekommen.“ Der Ton ihrer Stimme hatte fast einen beschwörenden Klang angenommen.
„Welche Dinge?“ Sarah sah ihre Freundin an, als sei sie gerade aus einem Traum erwacht.
„Na, das Leben eben. Alles, was sonst noch Spaß macht. Mal ausgehen, feiern.“ Sie machte eine galante Handbewegung und lächelte. „Und eben auch Männer.“
Dann wurde sie wieder ernst. Laura suchte nach den rechten Worten. “Ich möchte ganz einfach nicht, daß meine beste Freundin als alte Jungfer endet.“
Für einen Moment herrschte Schweigen. Dann lächelte Sarah, hob eine Hand, und als hätte sie ein Kommando gegeben, kam ein Schmetterling von einer Blüte herabgeschwebt und setzte sich auf einen Finger. „Mach dir um mich bitte keine Sorgen. Es ist alles so, wie es sein muß. Die Natur hat Gesetze, denen wir folgen müssen, ob wir wollen oder nicht.“
Sie betrachtete das Tier, hielt ganz still und gleich setzte sich ein zweiter prächtiger Falter dazu.
Sarah schien glücklich, aber Laura war besorgt, vielleicht sogar ängstlich und verunsichert.
In letzter Zeit hatte sich ihre Freundin verändert. Nicht direkt zum Nachteil, aber sie war einfach anders geworden. Sarah war freundlich wie immer aber sie war nachdenklicher und verträumt. Sie schien auch auf eine besondere Art glücklich, ohne daß Laura den Grund dafür kannte.
„Wie machst du das?“ fragte sie und deutete auf die Schmetterlinge.
„Vielleicht sind wir verwandte Seelen. Sie spüren, daß ihnen nichts geschieht.“
Laura nickte nachdenklich und nahm ihre Freundin vorsichtig in den Arm. „O.K. Ich werde dich schon wecken.“ Die Frauen erhoben sich, aber im selben Moment stöhnte Laura auf und riß angewidert eine Hand zurück.
Sie hatte sich von der Bank abgestützt und in ein Gespinst von klebrigen, ungewöhnlich dicken Fäden gegriffen. Sarah wirkte erschrocken, und half ihrer Freundin, sich zu reinigen. „Siehst du? Auch das ist Natur. Egal wie wir empfinden, es hat alles einen Sinn.“
Einige Tage später trafen sie sich wieder.
Es war immer noch warm und die Sonne schien, aber man spürte, daß der Sommer zu Ende war. Sie hatten sich wieder im Park verabredet und Laura war unbemerkt an ihre Freundin herangetreten und beobachtete.
Sarah saß wieder auf der Bank und wirkte verträumt. Es war eindeutig, daß sie ein besonderes Verhältnis zur Natur hatte. Sie hielt beide Hände leicht von sich gestreckt und auf ihnen saßen fünf Schmetterlinge der unterschiedlichsten Art.
Laura trat nun ganz heran. Als sie bemerkt wurde, schwenkte Sarah die Hände leicht vor und die Tiere flogen davon.
„Wie machst du das, daß die Schmetterlinge so ohne Scheu zu dir kommen?“
„Wie ich schon sagte. Sie sind verwandte Seelen.“
Laura nickte, aber sie verstand nicht.
„Sarah, ich möchte dich einladen! Ich werde am kommenden Wochenende meinen Geburtstag richtig groß feiern. Jede Menge Leute werden da sein, es wird Musik geben, es wird getanzt werden, und wir werden reichlich Spaß haben. Ich bestehe darauf, daß du dabei bist und ich habe mir auch vorgenommen, mit dir vorher einkaufen zu gehen und dich richtig flott herzurichten.“
Sarah schaute lächelnd in die Weite der Parklandschaft und nickte leicht.
„Und noch etwas möchte ich mit dir besprechen.“ Laura klang jetzt ernst und Sarah wurde aufmerksamer.
„Ich möchte, daß du zu einem Arzt gehst.“ „Was soll ich bei einem Arzt? Mir fehlt nichts und ich fühle mich wohl.“
„Das mag schon sein aber ich mache mir Sorgen wegen deiner Figur.“
Sarah hob erstaunt die Augenbrauen und Laura beeilte sich, weiter zu erklären.
„Ich meine es nicht so, wie du es jetzt wohl aufgefaßt hast. Selbstverständlich ist mir deine Figur völlig egal, solange du dich wohl fühlst. Du bist meine Freundin und so etwas spielt dabei wirklich keine Rolle. Aber ich glaube, daß du bei deiner vegetarischen Ernährung schlanker sein müßtest, es sei denn, es hätte medizinische Gründe. Darum möchte ich dich bitten, daß du dich untersuchen läßt.“
Sarah nahm ihre Freundin in den Arm und drückte sie herzlich.
„Was kann mir schon passieren, bei einer so guten Freundin, die aufpaßt und sich sorgt. Aber ich kann dir versichern, daß ich gesund bin.“ Ganz nebenbei zupfte sie eine Blüte von dem Strauch neben sich und kostete von ihrem Aroma. „Ich hab aber auch etwas mit dir zu besprechen.“
Sie schwieg einen Moment, und in ihrem Gesicht war zu lesen, wie auch sie nach den richtigen Worten rang.
Heute werden wir uns für eine Weile zum letzten Mal sehen.“ Laura erschrak. „Warum? Was ist passiert?“
„Es ist gar nichts passiert. Ich werde für eine Weile fort sein.“
„Willst du mir nicht sagen, wohin du gehst?“ Lauras Sorge war nun noch größer geworden. Das seltsame Verhalten ihrer Freundin in der letzten Zeit war merkwürdig genug. Sarah machte den Eindruck eines Menschen, der mit der Welt im Reinen war. Ein Mensch, der allen verzieh und einen unwiderruflichen Entschluß gefaßt hatte. Langsam kroch die Verzweiflung in Laura empor. Sie fühlte sich wie Jemand, der neben einem Freund an der Klippe steht und diesen vom Wert des Lebens zu überzeugen versucht, damit er nicht springt. Einem Verzweifelten kann man vielleicht noch helfen, aber wer so ruhig und entschlossen ist wie Sarah, der hat eine Mauer um sich errichtet, die kaum zu durchdringen ist.
Sarah hatte die Besorgnis ihrer Freundin bemerkt und versuchte, sie zu beruhigen. „Ich werde ja nicht ewig fort sein. Ich verspreche dir, daß ich im Frühling wieder zurück bin.“ Sie drehte die Blüte in ihren Händen, teilte die Blätter und kostete von dem winzigen Film, den sie mit einem Finger zwischen den Pollen aufgenommen hatte. „Ein ganz leichter Geschmack von Wachs, der aber sofort von dem des Nektars verdrängt wird. Du solltest es einmal probieren, es ist noch köstlicher als Honig.“
Lauras Sorge hatte sich nicht gelegt. Sie wußte nicht, was sie denken und was sie empfinden sollte und war völlig verwirrt.
„Vielleicht kann man es als eine Art Kur bezeichnen, die ich machen werde. Ich sollte mich danach wie neu geboren fühlen.“
„Du hast dich doch nicht einer dieser obskuren Gruppen angeschlossen, die alle möglichen Versprechungen machen, um letztlich nur an das Geld der Leute zu kommen?“ fuhr Laura auf.
Sarah legt ihrer Freundin besänftigend eine Hand auf den Arm. „So leichtgläubig bin ich nicht. Es hat nichts mit diesen Dingen zu tun.“ Sarah zog aus ihrer Handtasche einen Schlüssel hervor und hielt ihn ihrer Freundin hin. „Dies ist der Schlüssel zu meiner Wohnung. Du bist meine beste Freundin und ich wüßte nicht, wen ich sonst darum bitten sollte. Wenn ich mich bis zum ersten Mai des kommenden Jahres nicht bei dir gemeldet habe, dann geh bitte in die Wohnung. Ich werde dir dort eine Nachricht hinterlassen und ich bitte dich, dann genau den Anweisungen zu folgen.“
Laura nahm den Schlüssel entgegen. „Aber, warum sagst du mir nicht jetzt, was du vorhast?“
„Du würdest es nicht verstehen und es würde dich nur ängstigen. Aber du kannst sicher sein, es gibt keinen Grund dafür.“
Den Rest des Tages verbrachten die Freundinnen gemeinsam. Laura hoffte, noch Näheres zu erfahren aber Sarah wurde nicht deutlicher.
Auch in den folgenden Tagen legte sich Lauras Unruhe nicht. Sie versuchte sich selbst davon zu überzeugen, daß Sarah entweder zur Kur gefahren, oder daß sie für einige Monate ausgestiegen war und unter südlicher Sonne das Leben genoß. Das war aber Unsinn und sie wußte das. Sarah war nicht der Typ, der so etwas tat. Hinzu kamen all die seltsamen Andeutungen und dann die Bitte, im Frühling nach ihrer Wohnung zu sehen. Es klang so, als ob etwas passieren könnte, wenn sie es nicht täte. Sie hatte das Versprechen geben müssen, sich nicht vorher darum zu kümmern. Aber was war, wenn Sarah wirklich eine Dummheit machte? Was war, wenn sie in die Wohnung kam und Hilfe leisten mußte, ohne darauf vorbereitet zu sein?
Vorsichtig schob sie den Schlüssel in das Schloß. Das Schnappen der Verriegelung klang ungewöhnlich laut und Laura erschrak. Sie fühlte sich schlecht. Sie hatte ihr Versprechen gebrochen. Zwar aus Sorge aber dadurch ging es ihr nicht besser. Sie befand sich in einer Situation, in der man nur falsch handeln konnte, je nachdem, aus welcher Perspektive man es betrachtete.
Die Wohnungstür schwang ohne jeden Laut auf.
Laura trat ein, schloß die Tür hinter sich und blieb stehen. Durch die Glasfüllung der gegenüberliegenden Wohnzimmertür fiel diffuses Licht in den Flur. Sie war schon öfter in der Wohnung gewesen und kannte die Anordnung der Räume genau. Trotzdem kostete es Überwindung, weiterzugehen. Sie setzte jeden Schritt bewußt und leise, so daß trotz des Holzfußbodens kaum ein Geräusch zu hören war. Eigentlich bestand dazu kein Grund aber irgendwo im Unterbewußtsein gab es einen Befehl, der sie dazu zwang. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt, und schwang nach einem sanften Stoß mit leisem Knarren auf. Sarah war sehr ordentlich. Hier war alles an seinem Platz. Die Herbstsonne schien durch die Fenster und malte goldene Konturen auf den Boden. Nur das beständige Rauschen des Straßenverkehrs untermalte die Stille. Den Brief entdeckte Laura erst, als sie schon mitten im Zimmer stand. Auf dem Couchtisch lag ein weißer Umschlag mit Lauras Namen in großer Schrift darauf. Das Kuvert war zugeklebt, und sie war gerade im Begriff es aufzureißen, als sie es sich anders überlegte. Bisher konnte sie nichts Ungewöhnliches feststellen und wie sollte sie den geöffneten Umschlag erklären, wenn Sarah zurückkam. Also legte sie ihn wieder auf seinen Platz zurück. Im Wohnzimmer war alles in Ordnung und so wandte sie sich dem Schlafzimmer zu, das direkt von diesem Raum aus zu erreichen war.
Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, fiel ihr doch etwas Ungewöhnliches auf.
Der Geruch.
Sie hatte ihn bisher nicht bemerkt, weil er sehr dezent war. Es roch nicht nach Parfüm oder überhaupt irgend einem künstlichen Aroma. Es war ein ganz leichter, kaum wahrnehmbarer Blütenduft, dem aber die künstliche Strenge fehlte. Laura sah sich noch einmal im Wohnzimmer um, entdeckte aber keine einzige Pflanze.
Sie wandte sich wieder der Schlafzimmertür zu, griff nach der Klinke und hielt abermals inne. Aus dem permanenten Rauschen und Poltern des Straßenverkehrs filterte sie noch etwas heraus. Es war ein leises, rhythmisches Schaben. Es klang ganz ruhig und irgendwie mechanisch.
Ganz langsam und leise drückte Laura den Türgriff herunter.
Der Raum lag in dunklem Zwielicht. Die Vorhänge waren zugezogen. Nur zwischen den wenigen Spalten der heruntergelassenen Jalousien verirrte sich ein wenig Tageslicht.
Das schabende Geräusch war jetzt deutlicher zu hören.
Laura trat einen Schritt in den Raum und tastete nach dem Schalter.
Mit dem Aufflammen des Lichts brach das Grauen ohne Vorwarnung über sie herein.
In der Sekunde, in der sie wie gelähmt dastand, brannte sich das Bild in ihr Unterbewußtsein.
Ihr Mund öffnete sich zu einem tonlosen Schrei.
Der Raum begann sich zu drehen, sie verlor das Gleichgewicht, stürzte, stemmte sich wieder auf die Beine und rannte.
Sie rannte die Treppe hinunter, aus dem Haus und auf die Straße.
Das Schimpfen der Passanten, die von ihr angerempelt wurden, drang genausowenig zu ihrem Bewußtsein vor, wie das Hupen der Autos, als sie auf die Straße rannte und wie durch ein Wunder die gegenüberliegende Seite erreichte.
Laura lief ohne Ziel.
Als endlich die Erschöpfung einsetzte und sie wieder einigermaßen zur Besinnung kam, fand sie sich im Park wieder.
Ausgepumpt ließ sie sich auf eine Bank fallen und versuchte, Körper und Geist wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Sie hätte jetzt zur Polizei gehen können, aber die Umgebung des Parks, in dem sie so oft mit Sarah gewesen war, ließ die Erinnerung an die Worte ihrer Freundin aufkommen:
„Du würdest es nicht verstehen und es würde dich nur ängstigen. Aber es gibt keinen Grund dafür.“
Der Herbst war da und die angenehm, frische Luft wirkte auf Laura beruhigend. Die Sonnenstrahlen ließen den noch regennassen Weg wie mit Edelsteinen besetzt glitzern. Es waren kaum Menschen da, und die Stille war friedlich.
Nach und nach glaubte sie, Sarahs Veränderung trotz der eigentlichen Unfaßbarkeit zu verstehen.
Es dauerte eine Weile, dann wurde ihr klar, daß sie in die Wohnung zurück mußte.
Die Tür stand noch offen.
Es war nicht direkt Angst, die sie empfand. Es war eher eine Unsicherheit vor dem Unbekannten.
Laura betrat leise das Wohnzimmer, nahm den Brief vom Tisch und las.
Mit vorsichtigen Schritten ging sie weiter zur Schlafzimmertür, zögerte einen Moment und atmete tief durch, bevor sie den Raum betrat.
Es lag auf dem Bett und durch die matt glänzende Chitinhaut schimmerten schwach und verzerrt menschliche Umrisse.
Das schabende Geräusch wurde von aneinanderreibenden Teilen der Hülle erzeugt und wirkte wie eine leise Atmung.
Laura betrachtete den Kokon jetzt mit anderen Augen.
Vielleicht war sie die einzige Zeugin eines Wunders.
Sie würde hier öfter nach dem Rechten sehen, und wenn es nötig war, wußte sie was sie im Frühling zu tun hatte.