Schönes Leben..
Sie geht durch die Straßen ihrer mehr als tausend Jahre alten Stadt, Fachwerkhäuser, die sie so liebt, und die alten Kirchen, deren Glocken sie morgens wecken, links und rechts von ihr, und schaut traurig in die Schaufenster der tristen Altstadt. Vorbei am Museum, in dem sie nun schon seit einigen Jahren nicht mehr war, vorbei am neuen Spielzeugladen, welchen sie schon sehr oft betreten und sich in ihm umgeschaut hat, hier gibt es soviel Holzspielzeug, naturbelassen und an ihre frühe Kindheit erinnernd. In den Jahren abgetretenes, schmutzstarrendes Kopfsteinpflaster, von Hunden verunreinigt, und die Straßenbahn, welche sich durch die enge alte Straße quält, läßt sie an dieser Stelle vorsichtig gehen.
Auf dem Weg zur Arbeit, geht sie jeden Morgen diesen Weg, viel hat sich hier in letzten Jahren nicht verändert. Eintönigkeit bestimmt das Gesamtbild. Über eine große Brücke führt ihr täglicher Weg, Enten und Schwäne schaukeln gemütlich auf dem sich leicht wellenden Wasser des großen Flusses, der mitten durch ihre Stadt führt. An seinen Ufern finden alljährlich Sommerfeste statt, dann regt sich hier überall das Leben, Ausflügler legen hier zur Dampferfahrt ab, ansonsten wirkt es hier wie ausgestorben.
Die Sonne schaut zaghaft zwischen den dicken, regenbeladenen Wolken hervor. Noch ist der Winter nicht besiegt, er hat noch einmal gezeigt, daß er nicht vergessen ist. Das Hochwasser reicht in diesem Jahr bis an die hölzernen Parkbänke heran, die sonst zum Verweilen und Ausruhen einladen.
Als Kind ist sie oft mit Tüten voll altbackenem Brot, welches sie zu Hause in mühevoller Arbeit mit ihren kleinen Händen in schnabelgerechte Stücke schnitt, hierher gekommen, um die Enten und Schwäne zu füttern. Auch als ihre Kinder klein waren, fand sie regelmäßig mit ihnen den Weg hierher, um bei schönem Wetter an den Nachmittagen viele Stunden in der Sonne zu verbringen und dem Spiel des Wassers mit dem Wind zu zu schauen.
Das allmorgendliche Bild, das sich der Betrachterin bietet, wirkt an diesem jungen Tag erstickend auf sie. Nach einer nicht enden wollenden, schlaflosen Nacht voll Verzweiflung und unendlicher Trauer, ist sie nun erschöpft, kraftlos und ausgelaugt, dabei muss sie gleich wieder mit freundlicher Stimme netten, übellaunigen oder auch arroganten körperlosen Individuen ein ums andere Mal ihre Botschaft vermitteln und ihrem täglichen Geschäft nachgehen.
Sie bleibt kurz stehen, um etwas nach zu denken, über ihr Leben, über ihre Träume und Hoffnungen.
Sie hat alles erreicht, was sie sich in ihrer Jugend vorgenommen hat, viel hatte sie ohnehin nicht erwartet, nur ein wenig Glück und Zufriedenheit, hat viele Tiefschläge einstecken müssen, beruflich wie privat, ist jetzt an einem Punkt angelangt, an dem sie mit sich und dem Erreichten zufrieden sein könnte.
Ihre Kinder hat sie heute wie immer mit Liebe und Freundlichkeit aus dem Haus zur Schule geschickt, ihr Ehemann das Haus bereits vor Stunden verlassen. Im Bad hat sie lange in den Spielgel geschaut. Was sie dort sieht ist das Bild einer Mittdreißigerin, erste Fältchen in ihrem Gesicht, vom Lachen, Weinen, Glücklich- und Traurigsein, von Leben an sich. Gedanken schwirren ihr durch den, sich heute schwer und dumpf anfühlenden, Kopf: –Reiß sich zusammen, du schaffst das schon, wie jeden Tag. Auch wenn niemand deinen Schmerz sieht, er ist da, nur musst du allein damit fertig werden, kannst dich nicht gehen lassen und den Kopf in den Sand stecken.- So beginnt ein weiterer Tag und der nächste steht schon bereit.
Wie lange noch kann sie dieses ewige Spiel ertragen, kann den Menschen denen sie begegnet freundlich ins Gesicht schauen, den Kollegen mit Höflichkeit und gespielter Heiterkeit, ein glückliches Dasein vorgaukeln. In ihr sieht es doch ganz anders aus, sie kann die schweren Schatten nicht vergessen, die sich vor langer Zeit auf ihre Seele legten.
Sie wendet sich rasch ab um den täglichen Ablauf zu wiederholen, geht über die Brücke, eine Straßenbahn überholt sie erneut, und schaut bei ihrem Lieblingsbäcker vorbei, um sich die 2 Kürbiskernbrötchen, ihr Frühstück und Mittagessen, abzuholen und einige Worte mit der, ihr seit langem bekannten, Verkäuferin zu wechseln. Nach einem netten Abschiedswort und einem guten Wunsch für den Tag, nun versorgt mit dem Nötigsten, geht sie schnellen Schrittes durch die Innenstadt, läßt die Bank, die Apotheke, die Boutique, Fleischerei und andere kleine Geschäfte rechts an sich vorbeiziehen und betritt dann, mit mulmigem Gefühl im Bauch, den Platz an der Kirche, hier ist ihr unheimlich zumute, der Platz wirkt im Schatten des imposanten Baus so düster und erdrückend. Also weiter, raus auf den großen freien Platz, welcher zwar immer noch an die Kirche grenzt aber nun viel freundlicher ist, weil nicht umbaut, mehr Licht anzieht.
Noch über die Straße an der Drogerie vorbei, in der sie für kurze Zeit beschäftigt war, um die Ecke und sie betritt dieses Gebäude, um mit dem Fahrstuhl in die 3. Etage zu fahren.
Von jetzt an lächelt sie, zeigt keine wahren Gefühle, hier funktioniert sie nur, folgt Anweisungen und gibt ihre volle Leistung. Die Menschen um sie herum, tun‘s ihr nach, jeder für sich, jeder allein, allein, allein im Team.
Kummer, Leid, Tränen, Glück, Frohsinn, Trauer, Schmerz, Krankheit gar - niemand interessiert sich dafür, und wenn doch, dann nur aus Egoismus, sich am Misserfolg der anderen weiden, nur selbst nichts offenbaren. Welch verlogene Welt.
Nach 6 Stunden geht sie wieder den Weg zurück, diesmal schaut sie in einige Geschäfte, bummelt und bleibt stehen, lässt sich viel Zeit, trinkt vielleicht im Kaffee mit einer Freundin einen Capuccino, isst ein Eis, geht später wieder zu ihrem Bäcker um fürs Abendessen Brot zu holen, und denkt sich, geschafft, der Tag ist fast rum.
Zu Hause angekommen, begrüßt sie ihre Lieben, fragt nach dem Wohlergehen, nach Neuigkeiten in der Schule, auf der Arbeit, setzt sich und erzählt selbst von belanglosen Dingen. Irgendwann macht sie das Abendessen, die Familie setzt sich zusammen, soweit alle im Haus sind, lässt den Abend mit einem Buch oder auch beim Fernsehen ausklingen. Im Bett ist sie dann wieder mit ihren Gedanken allein, schläft unruhig und wartet auf den nächsten Tag.
Alles auf Anfang. Klappe, die Zweite...
Das nenn ich: schönes Leben!