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Scarlett
Scarlett
Sie war jünger als ich, viel jünger, vielleicht Anfang 20 und als alter Kerl, der ich für sie war, fühlte ich mich schon geschmeichelt, als sie mich fragte, ob sie sich zu mir an den Tisch setzen dürfe. Es wären noch genug andere Tische frei gewesen in dem kleinen Pariser Straßencafé.
Ich war geschäftlich in der Stadt, wenn man so will. Eigentlich komme ich aus Berlin. Mein Name spielt keine Rolle, ebenso wie mein Alter. Mein Sternzeichen ist Löwe, wobei ich kein typischer Löwe bin. Mein Geld verdiene ich mit dem Zeichnen von Comicheften. Ich bin Raucher aus Gewohnheit, nicht aus Abhängigkeit, wobei das wohl das Gleiche ist. Und bis vor kurzem war ich ein ziemlich bodenständiger Mensch.
Es war ein warmer Apriltag in der Stadt der Liebe. Ich hatte meine Geschäftsbesuche in den Verlagshäusern erledigt und hing meinen Gedanken nach, während vor mir auf dem Tisch der Kaffee abkühlte.
„Verzeihung.“
Es kostete Kraft, meinen Blick, der zwar ins Leere ging, dort aber etwas zu fixieren schien, in meine Gewalt zu bekommen und ihn auf das Mädchen zu richten, die mich mit der Hand am Arm berührte.
„Ja.“
Sie war hübsch. Ihr schwarzes Haar glänzte in der noch schwachen Frühlingssonne. Das sie Französin war, hätte ich auch erraten, wäre ich ihr an einem beliebigen anderen Ort auf dieser Welt begegnet.
„Darf ich mich vielleicht zu Ihnen setzen?“
„Selbstverständlich - ich meine - natürlich.“
In einer fließenden Bewegung zog sie den freien Stuhl vom Tisch weg und nahm Platz.
Überhaupt hatten alle ihre Bewegungen etwas harmonisches an sich, beinahe unnatürlich flüssig.
Ich bot ihr eine Zigarette und Feuer an. Sie nahm dankend an.
Wir plauderten ein wenig, wobei ich gestehen muss, dass mein Französisch nicht das beste ist. Sie bestellte einen Kaffe und ein Glas Wasser.
„Und was machen Sie so?“
Sie lächelte.
„Du kannst zu einem hübschen Mädchen ruhig Du sagen. Es sei denn, ich gefalle dir nicht.“
„Nein, nein. Ich dachte nur -“
„Schon gut. Was ich mache willst du wissen. Also im Augenblick sitze ich hier und rede mit dir, oder?“
„Und sonst. Ich meine studierst du?“
„Nein.“
Ich gab es auf. Sie wollte offensichtlich nichts von sich erzählen und so saßen wir eine Weile schweigend da.
„Komm mit.“, sagte sie plötzlich und stand auf.
„Mitkommen? Wohin denn?“
„Wirst du schon sehen. Bezahl einfach und komm.“
Ich legte ein paar Franc auf den Tisch und folgte ihr, denn sie war schon vorgelaufen.
Sie hatte mich bei der Hand gefasst und zog mich das Seineufer entlang in Richtung Notre Dame. Vorbei an kleinen Ständen, an denen Künstler ihre kleinen, kitschigen Aquarelle verkauften, vorbei an den Brücken die alle 500 Meter Bögen über den Fluss schlugen und vorbei an den hupenden Wagen die das Stadtbild hier mehr als sonst irgendwo prägen.
Vor einem merkwürdigen Laden, der nicht so recht hierher zu gehören schien hielt sie an. „Shakespeare and Company“, ein Geschäft für nichtfranzösische Literatur.
Wortlos zog sie mich hinein.
Mich immer noch an der Hand haltend, suchte sie mit der anderen in einem Regal herum.
Sie zog ein kleines, abgewetztes Buch heraus und hielt es mir unter die Nase.
Hermann Hesse - Der Steppenwolf.
„Siehst du, das ist mein Lieblingsdeutscher. Du bist doch auch Deutscher. Magst du ihn?“
„Na ja, ich weiß nicht. Ich les‘ nicht so viel.“
„Richtig so! Ich auch nicht, aber das hier solltest du lesen.“
Sie überredete mich das Büchlein zu kaufen und ich musste ihr versprechen es zu lesen, sobald ich wieder zu Hause sei.
Als wir den Laden wieder verließen, stand die Sonne bereits blutrot über den Dächern von Paris und es war kühl geworden.
„Also ich glaub ich muss langsam ins Hotel. Danke -“
Mir viel auf, dass ich den Namen des Mädchens nicht kannte.
„- wie heißt du eigentlich?“
„Das fällt dir jetzt ein. Scarlett. Nicht besonders französisch, ich weiß, aber mir war gerade so.“
„Ich heiße -“
„Das will ich gar nicht wissen. Ich nenn dich Adam.“
„Na schön. Also danke Scarlett.“
„Du willst mich allein lassen? Das ist aber nicht besonders nett von dir.“
Sie schaute mich auf einmal mit einem Blick an, der etwas von Trauer, verführerischem Spiel, aber auch von einer unendlichen Kälte hatte.
„Wir können ja noch etwas essen.“, sagte ich verlegen.
„Nein, wir gehen jetzt zu mir. Du kannst da was essen, wenn du magst.“
Und wieder packte sie meine Hand und zog mich fort. Wir rannte beinahe durch die engen Nebengassen. Links und rechts von mir zogen Farbschlieren vorbei. Katzen jammerten auf den Dächern. Der Mond war aufgegangen.
Endlich hielten wir vor der Tür eines Altbaus. Sie schloss auf. Dann zog sie mich die Treppen, die sich um einen, aus schmiedeeisernem Gitter gefertigten, Fahrstuhlschacht schlängelten, hinauf.
Wieder war mir eine kurze Pause vergönnt, dann standen wir in der riesigen Wohnung.
Ein großer Raum mit Dielenfußboden, der bis auf ein breites Sofa, eine Stereoanlage, aus der psychedelische Gitarrenlaute jaulten und ein paar Palmentöpfen leer war, stellte das Wohnzimmer von dem aus weite, weiße Flügeltüren in die anderen Räume führten.
„Mach‘s dir bequem.“, sagte sie grinsend und verschwand.
Ich nahm auf dem roten Samtdivan Platz und versuchte fieberhaft einen Plan zu entwickeln von hier zu verschwinden, da tauchte Scarlett auch schon wieder auf.
Sie hatte sich, bis auf ein weites, schwarzes Hemd, welches ihr knapp bis zu den Oberschenkeln reichte, ihrer Kleidung entledigt und in den Händen hielt sie zwei gefüllte Weingläser.
Ich sprag auf.
„Okay. Ich muss jetzt wirklich, wirklich los.“, sagte ich und versuchte nachdrücklich zu klingen.
Scarlett schien dem keine Beachtung zu schenken und setzte sich in der Mitte des Zimmers auf den Fußboden.
„Setz dich zu mir. Keine Angst ich tu dir schon nichts. Nur ein Glas.“
Ich fügte mich in mein Schicksal und ließ mich, ihr gegenüber, nieder.
„Hast du dir je die Karten legen lassen?“, wollte sie wissen und zog einen Stapel hervor.
Ich nahm einen Schluck von dem Wein, der angenehm süß schmeckte. Sie sprach leise. Ich wandte mich in Richtung der Anlage um, aus der die ungeordneten Missklänge immer lauter zu dröhnen schienen.
„Magst du Hendrix nicht?“
Mehr als je zuvor wirkten ihre Bewegungen fließend, indem sie die Karten mischte. Verspielt und zugleich herausfordernd funkelten mich ihre hypnotischen Augen an und sie grinste, wie eine Katze, die gerade einen Kanarienvogel verspeist hatte.
„Zieh.“
Ich zog eine Karte und legte sie vor mir auf den Boden.
Die Prinzessin der Kelche.
„Und was bedeutet das jetzt?“
Sie forderte mich auf weitere Karten zu ziehen, die ich im Halbkreis vor mich legen sollte.
Es gesellten sich noch Der Narr, Der Mond, Die 9 Schwerter, so wie Das Universum und schließlich Der Tod, der Prinzessin hinzu.
„Und was heißt das jetzt?“
Sie zog grinsend die Augenbrauen hoch.
Langsam begann ich die Wirkung des Weins zu spüren oder zumindest schrieb ich das, was mit mir passierte dem Wein zu, wenn auch die Symptome nicht die, dem Alkohol typischen, waren. Alle Konturen schienen schärfer. Der Farbkontrast höher und mein Körper fühlte sich nahezu massenlos an.
„Küss mich“, befahl Scarlett und ich gehorchte.
Als ich die Augen schloss intensivierte sich das Gefühl der Schwerelosigkeit noch. Die eben noch kakophonisch anmutenden Stromgitarrenklänge, die aus der Anlage klangen waren jetzt klare und herrlich brillante Kristallflüsse, die mich hinfortrissen. Alles pulsierte.
Als ich die Augen öffnete sah ich, dass die Wände zitterten und hier und dort Risse bekamen.
„Was ist los mit mir? Was hast du getan?“, schrie ich das Mädchen an, die jetzt langsam das Hemd aufzuknöpfen begann.
Was jetzt passierte mag lächerlich erscheinen und vermutlich denken Sie, dass ich einfach unter irgendwelchen Drogen stand, aber für mich ist es real. Es fühlte sich einfach zu echt an.
Die Figuren der Tarotkarten hatten sich aus ihren zweidimensionalen Gefängnissen befreit und waren zu beachtlicher Größe herangewachsen. Sie begannen in wilden Tänzen weite Kreise um uns zu ziehen.
Die Wände des Zimmers waren zerfallen und hatten den Blick auf das, uns umgebene, Weltall freigegeben. Wie Schiffbrüchige auf einer Planke durchs Meer, so trieben wir mit dem Zimmer durchs Universum.
Scarlett stand nackt vor mir und lächelte, während die gezeichneten Gestalten um uns herum ein schauerliches Schauspiel aufführten.
Der gehörnte Narr hüpfte fröhlich der Prinzessin hinterher, bis ihn die Anubis-Zwilinge, die bis eben noch als Wächter des Mondes ihren Dienst getan hatten, sich ihm in den Weg stellten. Jetzt trat der schwarze Knochenmann mit der Sense hinzu.
Unter kranken Zuckungen, denen er unterworfen war, knackten seine onixfarbenen Gebeine. Schon wollte er den lachenden Tor enthaupten, da wurde der von der goldenen Frau, um deren nackten Leib sich eine Schlange wund, bei der Hand gefasst und weggezogen.
Immer wilder wurde das bizarre Figurenspiel.
Urtümliche Klänge erfüllten den Raum, sie schienen seit Äonen dem Universum eigen und ihr Takt gab den Rhythmus für Scarletts Bewegungen vor, die sich dem arkanen Reigen angeschlossen hatte.
Immer enger zogen die Tanzenden den Kreis um mich. Oder verdichtete sich der Raum?
Dann trat Scarlett an mich heran und umarmte mich und ich hatte das Gefühl wir würden verschmelzen. Immer enger wurde unsere Verbindung und ich glaubte zu verschwinden.
Alles in mir schien sich nach dieser Selbstauflösung zu sehnen. Es war, als würde aller Schmerz des Ich-Seins verschwinden.
Aber als ich mein Bewusstsein fast verloren hatte, stieß sie mich plötzlich von sich.
Sie lachte schrecklich und ihr Gesicht verzog sich zu einer grausamen Fratze.
Tiefe Abscheu und Ekel stiegen in mir auf gegen die, die mir das Paradies versagen wollte.
Von blindem Hass getrieben zog ich eines der 9 Schwerte aus der Karte und trieb es ihr durch den Leib. Das Blut spritzte, als ich die Klinge in die weiße Haut trieb.
Doch als ihr schwarzer Lebenssaft das rote Metall herabfloss, da sah ich, dass sie immer noch wunderschön war. Schöner noch als vorher und als ich in ihr Gesicht schaute, da sah ich in das Gesicht eines Knaben. Es war mein eigenes.
Erschrocken ließ ich das Heft los und stürzte aus dem Raum, die Treppen hinunter, aus dem Haus und in die Pariser Nacht.