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Sausester Braus im Angeles National Forest
Ein Blick in den Rückspiegel war nutzlos. Dicke Rußschwaden hingen ihnen im Nacken, der Diesel drohte seinem Röcheln zu erliegen. Die Berg- und Talfahrt im Angeles National Forest war zuviel verlangt vom alten Pickup. Besser war es, den Wagen bei Hidden Springs abzustellen, beschlossen Mick und Lamont. Sie hielten in der Bucht, die dem geschlängelten Highway entsprang, sich am Rand der Straße auftat, dass es den Anschein machte, es sei das Flussbett eines Mäanders, freigelegt von Ebbe. Die kleine Hüttenkonstellation Hidden Springs bot nicht mehr, als die Möglichkeit zur Rast holzfahrender Trucker und einen Laden für Notwendigkeiten. Eichen, Kiefern, Douglasien und Bataillonen von Blumen und Kräutern schienen ein mächtiges Heer gegen unseren feinsten Unrat zu stellen. Die zwei luden ihre kindsgroßen Rucksäcke von der Ladefläche, um die restlichen Meilen zum spontanen Zwischenstopp - Monte Cristo Campground - gehend zurückzulegen. Lief alles glatt, würden sie vor der Dunkelheit das Zelt aufgestellt haben. Über unbefestigten Weg, direkt neben dem Highway, wanderten sie bergauf, bergab, Meile für Meile zum Campingplatz. Der Highway war unbelebt, kaum jede Stunde arbeitete sich ein Truck die Steigung aufwärts, presste die Jungs vom Fahrtwind Schritte nach rechts.
„Schau da, Lamont! Bestimmt ist's der Platz!” Im Dämmerlicht strahlten beleuchtete Räume durch die Baumstämme im nächsten Tal. Doch Lamont, der blickte mit halboffenem Mund, beim Gehen kreisend, in den noch mehr blauen als schwarzen Abendhimmel, er steckte Mick an, beide bogen ihre Hälse gegen die Rucksäcke, als fingen sie Leckerlis. Die Milchstraße, der Große Orionnebel, die Andromedagalaxie, alles war tausendmal mehr, nicht krank und verkümmert, wie es aus der Lichtglocke LAs schien. Der Zeltaufbau hätte sich im bescheidenden Licht ohnehin als lästig entpuppt, also schlenderten sie, grinsten, genossen die Luft, in deren Obhut sie sich wogen. Mick entriss sich zuerst der Faszination des Himmelszelts. Er wurde wachgerüttelt, irgendeine Karre zischte in nächster Nähe vorbei. Die Lichter des Platzes waren bereits erloschen. Sie sollten das Tempo anziehen, dachte er. Lamont war noch immer zu erstaunt für die Welt, „Lamont!” rief Mick, als müsste sein Kumpel noch die Spüle ausräumen, „die Lichter sind schon aus! Gib Gas!” Lamont warf den Blick zurück auf den Teil des Universums, den er nun am wenigsten bereisen wollte und mit schnelleren Schritten bogen sie in die Einfahrt, begutachteten schließlich den Platz - Zelte,die aussahen wie Kuppeln, eine gartenhausähnliche Rezeption und ein weitestgehend freies, gemähtes Stück Wiese, fußballfeldgroß.
Am Rande des Platzes war das Zelt bald aufgestellt, an der Grenze zum Wald pinkelte es sich besser, dachten sie. In der Nacht, nach wenigen Stunden Schlaf, pressten Autoscheinwerfer ihr Licht durchs Nylon der Zeltwand, was weiter geschah, konnten sie nicht erfahren, Regenschauer prasselten jedes Geräusch zunichte. Vielleicht waren es Nachzügler, vielleicht, scherzten die frisch Erwachten, war es Jason Voorhees. Noch finster, begannen Waldbewohner bereits ihre Symphonie. Während Lamont seiner Neugierde nicht widerstand, er zu den Wagen schlich, weckte der Wald sich selbst. Der Lichtkegel, der nur knapp ihr Zelt erreichte, erlosch, und Lamont steuerte blind vor Finsternis weiter auf den Parkplatz zu, von dem das Licht gekommen war. Mick, dem war Schlaf wohl wichtiger, als ein guter Trip, von dem es sich zu erzählen lohnte. Oder der Schisser in ihm hatte sich seiner angenommen, dachte Lamont. Er hoffte auf nervenkitzelnde Entschädigung, denn umsonst den warmen Schlafsack zurückgelassen zu haben, wäre 'ne Pleite gewesen. Hinter einem der PKWs kauernd, auf Höhe der Kotflügel, war er im Sichtschutz. Lamont konnte, mit gewagten flüchtigen Blicken, ein erstes Bild bekommen. Die Gangster, die Autos knackten, gingen vor, wie Chirurgen, deren Patient nicht mehr lange betäubt sei, hasteten von Griff zu Griff, waren nicht lauter als der Wald. Lamont war beeindruckt, aber auch sicher, die Erfahrung hatte jeden der Diebe eine Geschichte von Rauben gekostet, das Pokern war von einem gedrehtem Ding zum nächsten höher geworden. Für sie gab es zu viel zu verlieren, Lamont hätten sie nicht zu den Cops rennen lassen, sondern direkt in den Wald gebracht. Er löste den Knopf der Messerscheide. Von dem Blech des Kotflügels lief das Kondenswasser seines Atems, ihm wurd's zu viel. Schon war sein Kopf vom Geschehen abgewandt. Das Zelt anpeilend, warf er einen letzten, sich absichernden Blick über die im Mondlicht schimmernde Motorhaube. Doch die Räuber vergingen sich nun an der Familienkutsche, nur eine Parklücke entfernt. Keine Chance. Er konnte nicht rennen ohne entdeckt zu werden. Mit dem Bauch flach in dem kalten Tau badend, zog er sich unter das Auto, lauschte dem Knacken und Wühlen, atmete fürs bei Bewusstsein Bleiben gerade genug. Da begann ein Radio zu plärren und noch eins und danach noch eins.
Der Parkplatz war eine flammende Diskussion zwischen Wetterreportern, Staurundfunk und dem Radio-Morgenprogramm. Die Diebe zischten einander an wie eine Mutter, die ihr Kind ausschimpfte, auf eine Art, die dem Supermarkt nicht offenbarte, welch Glucke sie doch war. Einer, dessen tiefe Stimme stellenweise durch sein Flüstern brach, beschuldigte in die Runde: „Ich reiß' euch die Ärsche auf, Nichtsnutze. Lasst uns hier rauskommen und ich reiß' eure dummen Ärsche auf!“ Aus dem Versteck hörte Lamont einen der Schwarzgekleideten die Radios stummdrehen. Währenddessen zankten sich die anderen: „Bist du ganz und gar von Sinnen?“, ihm rutschte vor Wut ein Name raus, „Garret, das hier ist kein scheiß Kindergeburtstag!“ Lamont hörte das dumpfe Klatschen von Fäusten, die in der Manier des Steakklopfens Kiefer und Jochbeine bearbeiteten. Hatten sie begonnen wie Chirurgen bei einer Herztransplantation, waren sie jetzt nicht züchtiger als Hooligans. Dann schmiss sich Mick zu Lamont unters Auto. Wäre er doch fast vor Schreck unter dem Chassis rausgerollt, den raufenden Dieben in die Arme, blieb er nur ruhig, da er nahezu amüsiert war. „Fast hätt' ich dich erstochen, du Dumpfbacke!“, flüsterte Lamont überheblich. „Hättste nicht! Guck mal, willst du auch? Zwar kein Popcorn, aber das, was wir im Rucksack hatten.“ Sie lagen lang unter dem Auto, mit dem Kopf in Richtung der Gangster, die Füße ragten unter der Beifahrertür hervor. „Ich dachte, du hättest die Hose voll, bliebest lieber im Zelt.“ Micks sagte: „Hab' beobachtet, wie du alles unter Kontrolle hattest.“ Nachdem die Räuber von Wetterfröschen und Charts nicht vertrieben worden waren, nahmen sie die Beine in die Hand, sobald die Karren von Geisterhand das Hupen anfingen.
Der Wald gewann seine Friedfertigkeit zurück und die zwei lachten, ohne sich erklären zu können, was geschehen war. Mick sagte: „Das glaubt uns keiner. Komm, wir verschwinden!“ Lamont holte Luft, um Mick von all den Kleinigkeiten zu erzählen, die er verpasst hatte. Sie krochen beinahe schon unter dem Auto hervor, da tauchten die Hinterläufe eines Lamms vor ihren Augen auf. Behaart und mit Hufen, durchgestreckt und stolz. Der Rest der Erscheinung war für die Kumpels nicht zu sehen, die Karosserie über ihren Köpfen machte das Blickfeld winzig. Da beugte sich das Etwas so weit vor, ein Koboldkopf blickte durch die Hinterläufe, die die seinen waren. Hals über Kopf tauchte es die hängenden Ohren in Tau und fragte mit einer Rabenstimme, die seiner Größe hervorragend stand: „Habt ihr Brot?“ Nein, das mochte keiner der beiden gesehen haben. Das Geschöpf bemächtigte sich ihres Atems und nahm die Gesichtsfarbe gleich mit. Steif und erschrocken, jeder für sich überzeugt, Opfer einer Wahnvorstellung geworden zu sein, krochen sie unter dem PKW hervor, überließen jeden Krümel dem Wesen, machten peinlich berührt den Weg zum Zelt und schliefen, bis der Tag die Zeltluft schneidbar machte.
Gegen Mittag hatte das Zelt bereits eine Weile an dem Ast einer knorrigen Kiefer gehangen, die Sonne trocknete die Tropfen des nächtlichen Schauers, während die Kumpels für ihren Schlafplatz zahlten. Später steckten Lamont und Mick die Zeltstangen zusammen. In Gedanken und wie gesteuert machten sie den Anschein von Billigarbeitern aus Asien. Knickten die Stangen, bündelten sie, knickten sie wieder. Erst, als die letzten Camper mit Sauerstoffmangel aus ihren Zelten gewankt waren, die Empörung über ihre geknackten Autos geäußert hatten, hellte ihr Gemüt auf und die Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit verflüchtigten sich. Die scheußlichen Baked Beans brodelten und Lamont packte die Rucksäcke. Sie schlugen den nächstbesten Pfad ein, der schmaler und schmaler wurde. Lamont ging vor. Ein Schild für Reißverschlussverfahren wäre angebracht gewesen. Der weiche Waldboden federte unter ihren Wanderschuhen. Kleine Insekten hatten etwas von Staub, den die Sonnenstrahlen sichtbar machten, aus der Natur stach manchmal Silbriges, das war meistens Kaugummipapier oder eine funkelnde Dose. Mick zog sein Butterfly aus der Tasche und es tanzen zu lassen, kostete all seine Aufmerksamkeit, um diese hatte der Wald den Kampf verloren. Lamont war begeistert und sog alles mit funkelnden Augen auf, fast war ihm das Gehen zu schnell und so warf er den Kopf von einer Seite auf die andere, um ja kein Stück Natur unbeachtet zu lassen. Er atmete gierig die Waldluft, füllte die Lunge bis zum Anschlag, ganz so, wie ihm seine Wangen fast gerissen waren, beim letzten All You Can Eat. Mick versteht das hier gar nicht, versucht nur, sich nicht die Finger zu schälen, dachte Lamont. Einen guten Kilometer brachten sie so zu. Der eine war verrückt nach seiner Umgebung, der andere war nicht mal wirklich da.
Das Butterfly wirbelte und wirbelte, so schnell, es war ein Fächer für Mick. Kein guter Zeitpunkt war's, auf Lamonts Aufgeregtheit zu antworten: „Siehst du's auch, Mick? Da hinten, wenn du hier durch die Bäume guckst, da ist 'n Bach und 'ne ganze Menge Hirsche! Jetzt guck schon!“ Fünf Meter weiter verlor Mick ein „Mh?“ aus seiner Kehle. Er fuchtelte nun noch schneller, bis zum Stolpern. Der Rucksack schob ihn im Fall und er versuchte noch, das Messer aus der Hand zu werfen. Das Gepäck drückte ihn gegen seine stützenden Arme mit der Brust bis zum Boden. Dann spürte er Wärme, die seine Nackenhaare ins Shirt piksen ließ. Mit großen Augen rollte er sich auf die Seite, atmete aus und raffte, was für ein knappes Ding das war, fast hatte er sich selbst erstochen. Noch bevor sich Lamont über Micks Befinden erkundigen konnte, war da wieder die Rabenstimme: „Menschling, guck doch mal, wo du hinläufst. Kann ja wohl nicht angehen. Dreistigkeit! Nichts als dreist!“ Da war das Etwas! Hüfthoch stand es dort, genau vor ihren Augen, schüttelte die hängenden, dreieckigen Ohren und klopfte sich den beharrten Körper ab, der eine kahle Stelle freigab, deren Mittelpunkt ein Bauchnabel markierte und stampfte mit den Ziegenbeinen auf dem Waldboden herum. Als dem Kobold unter Schnauben genug Nadeln aus dem struppigen Haar gefallen waren, sah er sich die zwei an. Mick, aufgerichtet, stand Lamont gegenüber, zwischen ihnen der Kobold. Zu Stein geworden und fahl wie Kalk, waren sie nur einen Tropfen Blut weniger im Kopf von Ohnmacht entfernt. „Ach nee... Euch kenn' ich doch!“ den Zeigefinger zog der Kobold aus der Hüfte, als wäre es ein Revolver gewesen. Er wackelte den kurzen Finger und sagte, „ihr seid es, die Bengelburschen vom Monte Cristo Campground! Den Räuberlingen hab' ich's so richtig gezeigt. Ach, danke für das Brot! Was treibt meine Freundlinge hierher?“ Für das Luftholen schossen zu viele Worte aus dem kleinen Mündchen. Mit dem ganzen Körper gestikulierte der Kobold, schlug sogar Pirouetten. „Irgendjemand muss schließlich der Wächterling sein. Und wenn von uns einer aufpasst, dann ich, der einzigwahrige Buckles. Meine Ohren sind überall und flink bin ich, darauf kannste' wetten! Mal bin ich hier und schwuppdiwupp, nun bin ich hier!“ Tatsächlich lehnte Buckles plötzlich an einer Tanne. Seine walnussgroßen Augen waren zugeschlagen und er machte es sich so bequem, wie es nur ging, wollte man stehen. Er sprach zu niemandem außer sich selbst und das mit größter Freude. Mick und Lamont besannen sich und flohen so schnell jemand gehen konnte ohne zu rennen. „He! Wo wollt ihr hin, Bengelburschen?“ Wieder glaubte keiner von ihnen den eigenen Augen und wieder wollte sich der eine nicht dem anderen öffnen, die Verrücktheit preisgeben. Ihre Gesichter strahlten in weißer Nichtfarbe im bunten Wald und unter blauem Himmel. Sie schwiegen eine ganze Weile und peinlich berührt. Lamonts Blick war starr auf Micks Hinterkopf und Mick, der wollte rein gar nichts mehr anschauen mit solch einem Paar Lügenbeutel in den Augenhöhlen. Buckles hatten sie abgehängt. Sie liefen und liefen, solange ihre Starre anhielt. Der Weg schien bald ein Ende zu nehmen, auf eine Lichtung zu führen. Die Sonne hatte längst ihren Höhepunkt erreicht. Ein erfrischender Wind. Findlinge links und rechts. Ein Schritt vor den anderen. Fester Boden. Leere.
Die vermeintliche Lichtung war ein Hang und Mick, der Geistesabwesende, trat schnurstracks in die Tiefe. Zuletzt verschwanden seine Arme aus Lamonts Blickfeld. Bis der zu sich kam, verstand, war er selbst nur einen Schritt von dem Tod eines Lemmings entfernt. Er hielt inne. Den Blick senkte er vom Himmel über weit entfernte Bergkuppen, deren Waldgrenzen, bis zu Tannenspitzen, die wie Wellen im Tannenmeer waren und in Wurfweite, die aber verdammt weit unten lagen und zuletzt auf seine Fußspitzen, die gen Abgrund zeigten. Alle Luft presste Lamont aus. Er setzte sich und seine Beine baumelten an der Felswand. Einer Träne oder zwei genehmigte er, auf dem warmen Stein einen Fleck von Salz zu hinterlassen. Er dachte, dass sicher noch mehr Tränen vergossen würden, genau hier, die dann mit den seinen der Regen hinunter spüle und tief unten auf einem Kompost von welken Blumen der Andacht landen würden und auch auf einem Berg von Erde, zu dem die ganz alten Blumen schon geworden waren. Jetzt heulte er leidenschaftlich, schluchzte, wollte beinahe hinterherhüpfen. „Wenn es doch nur den Kobold gäbe!“ Er konnte nicht mehr vernünftig sprechen, so stark japste er. Er rief: „Buck...Buckles!“, gefolgt von Winseln. Wenn das Etwas auf so mysteriöse Weise mit den Gangstern fertig wurde, dann würde Micks Wiederbelebung vielleicht nicht außerhalb des Möglichen liegen, dachte er. Und überhaupt, was war schon Reinkarnation gegen einen echten Kobold? „Du hast ihn auch gesehen?“, rief jemand. Lamont drehte sich um, da war niemand, sah in die Baumwipfel, durch den Wald, nirgends ein Mensch, auch kein Buckles. Jetzt war es soweit. Er war verrückt. Das Weinen pausierte. „Lamont!“, schien es aus dem Äther zu rufen, „Lamont! Du hast ihn auch gesehen?“ Ein Pfiff schallte aus dem Abgrund und zwischen seinen Beinen, in gut zwei Meter Tiefe, winkte Mick hysterisch mit den Armen, er rief: „Du verdammte Heulsuse. Ich bin hier unten. Jetzt hol mich endlich hoch!“
Tatsächlich. Auf einem Vorsprung hatte Mick die ganze Zeit gestanden und wie es aussah, völlig unversehrt. Scheiße, war das peinlich. „Äh, ja. Na klar hol ich dich rauf. Lass mich nur, lass mich nur kurz...“ Womit konnte er seinen Kumpel hochholen? Er sah sich nach einer provisorischen Leiter um. Lamont wollte just zum Campground rennen, da hörte er wieder eine Stimme aus dem Nichts, die Rabenstimme: „Ich kann dir helfen, mein Freundling.“ „Nun komm raus, Buckles! Ich bin nicht verrückt, außer, wir - Mick und ich - ticken beide nicht mehr rund. Wo zum Teufel bist du?“ „Ich bin hier oben!“ Der Kobold sang den Satz. Lamont schaute an einer Douglasie empor und auf einem hohen Ast saß die genetische Wundertüte. Aus seiner Hand rollte eine Strickleiter aus, deren letzte Sprosse sanft die Nadeln des Waldbodens umherwirbelte. „Mein lieber Burschling, du willst deinen Freund retten, nicht wahr? Ich bin ja so klüglich und gewitzt bin ich auch. Ein Kobold, der gibt nichts umsonst. Du kannst sie haben, die Leiter, aber du musst Buckles helfen!“ Die Ziegenbeinchen baumelten und er fuchtelte die Arme wie bei Theateraufwärmübungen. Sogar ein kleines Schwänzchen hatte er. „Na dann, schieß los, schlauster Koboldling!“ Lamont stützte die Arme in die Hüfte und zog seine Augenbrauen hoch. Buckles rollte die Leiter wieder auf, klemmte sie unter den knochigen Arm und kraxelte durch das Geäst. Den letzten Meter hüpfte der Kobold hinab und sagte: „Ich bin ein Retterling. Viele habe ich schon gerettet. Doof, doof, doof. Doof seid ihr Menschlinge, verlauft euch ständig in diesem Wäldchen. Erstmal holen wir deinen Freundling hoch, dann nehm' ich euch mit und ihr werdet sehen. Ihr werdet staunen, wir leben in sausestem Braus! Ganz schön. Wirklich ganz, ganz schön.“ Er war nach vorne gebeugt, als er mit schnellen Schritten zur Klippe hastete. Während Buckles noch so einiges erzählte, warf dieser wahllos und in hohem Bogen die Leiter in den Abgrund und wickelte sie mit schnellen Griffen um einen Baum. Mick bekletterte die schwingende Strickleiter. Er wuchtete sich samt Rucksack auf den Vorsprung, musterte Buckles und Lamont, dann brach er aus heiterem Himmel in Gelächter aus, grölte, dass Vögel sich aus dem Staub machten. Kurz schlossen sich die Menschen in die Arme, zum Mitlachen war Lamont nur nicht zumute. Kurz stellten sie einander vor. Buckles nahm wieder Fahrt auf: „Na, nun kommt erstmal mit. Folgt mir, folgt mir!“ Im Schlepptau stapften die zwei dem Kobold hinterher, mitten durch den Wald. Unbekümmert tauchte Buckles die Ziegenbeine in Farnenfelder und manchmal schimmerte er bläulich, wenn die Sonne ihn traf, sie zwischen langen Schatten einen Weg zum Waldboden fand. „Wir Koboldlinge sind seit fünf Generationen in diesem Wald. Irgendwann, da kamen unsere Vorfahren hierher, wer weiß, wie diese Allerklüglichsten es über den Atlantik schafften. Schwimmen können wir jedenfalls nicht. Und auch nicht fliegen, dafür sind wir aber die Flinkigsten, falls ihr das vergessen habt. Wir fragen uns immer wieder, wieder, wieder, was euch hierher treibt. Was treibt euch her? Ach, lasst mich raten, ich bin nämlich der beste Errater zwischen allen Täler-und Berglingen. Ihr kommt her, weil...Wie war dein Name nochmal, Rick, Dick, Mick?“ Buckles watete rückwärts durch einen zärtlichen Bach, in dem nur knapp seine Hufen versenkt waren. „Mick bin ich, M, I, C, K. Mick. Bringst du uns eigentlich zurück, Buckles?“ „Mick, achja, genauestens. Der Weg ist ganz, ganz einfach, ihr geht nur hier, dann dort entlang und da vorne, da ist ein Baum, dessen Nordseite ist von Moos bewachsen, da müsst ihr rechts abbiegen. Aber nicht links, da wohnt eine trächtige Schwarzbärin, grimmigstens! Wo war ich stehen geblieben? Meine Freundlinge, hier kommt ihr raus, ich stehe euch zur Seite, Buckles, keiner ist ein besserer Auskenner in diesen Wäldern.“
Mick war das schließlich alles fremd genug, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Hatte er sich auch manchmal von Spinnennetzen zu befreien, gefiel ihm das Gegenstück zum LA-Dschungel. Für Lamont fühlte sich die Haut an wie frisch gewaschen und hier duftete es so wunderbar, von Blumen und Sträuchern, denen man leicht die irdene Herkunft absprechen konnte. Der Nachmittag kam zum Ende und es wurde frisch. „Meine Freundlinge, darf ich bitten?“ So hoch das kleine Wesen greifen konnte, umfasste Buckles die Sträucher einer großgewachsenen Myrte und streifte einen Weg frei. Einladender konnte eine Geste kaum sein. Mick und Lamont tauschten Blicke, Lamont war der Vortritt gewährt. Zögerliche Schritte beförderten ihn in den sausesten Braus, von dem Buckles gesprochen hatte. Bevor er anwurzelte, hatte er sein Blut verpuffen gespürt. Ein Kobold war schon genug, aber hier war ein Dutzend. Er steckte in einer Sage. Es wuselte regelrecht von Bucklesgleichen. Auf dieser Lichtung tummelten sich die spitzohrigen Kobolde und schienen das reinste Partyleben zu pflegen. Einige saßen um ein Feuer, das Lamont schon einen Waldbrand auslösen sah. Sie wirbelten in heiterem Überschwang Becher aus Holz umher, deren Inhalt auf Gesprächspartnern landete. Und keiner von ihnen war weniger sabbelig als Buckles, so wirkte es, dass jeder einen Auftritt zum Besten gab. Manche standen auf Tischen, warben um Augenpaare und für kurze Zeit Aufmerksamkeit. Einer stampfte trällernd in einem Fass Beeren zu Saft und andere grillten. Aus dem Geäst riefen noch mehr Rabenstimmen und an Seilen kletterten sie auf und ab. Gegen brennende Sonne wurden rote und blaue Tücher zwischen die Baumwipfel über die Lichtung gespannt. Manche schaukelten, manche lagen bloß da, andere machten miteinander rum und alles untermalt vom Gezeter eines Kindergartens. Mick platzte gleich nach ihm durch den Busch, stolperte in die fremde Welt und auch er war gebannt. Buckles, der stellte sich stolz neben die zwei. Er präsentierte seine Heimat wie Menschlinge einen Sportwagen und fasste die Sprachlosigkeit der Freunde als Staunen auf. Buckles schien zum ersten Mal zu schweigen, den Moment auf sich wirken zu lassen, dann räusperte er sich und sagte: „Da wären wir. Ich führe euch gleich direkt sofort mal rum. Ist es nicht schön hier? Ach, ist das schön hier! Und dann verrate ich euch, wofür's eure Menschlinglichkeit braucht!“ Er zog Mick am Shirtsaum, der noch immer und schon wieder gelähmt war und schleppte beide durch die Lichtung. Jedem Quälgeist, den sie passierten, schneiderte Buckles eine Geschichte und quatschte und quatschte, dass die erwachten Jungs längst die Muttertaubheit um Koboldtaubheit ergänzt hatten. Ohnehin konnten sich Mick und Lamont nicht satt sehen. Könnten sie klar denken, wäre ihr größter Wunsch ein Fotoapparat gewesen. Das fröhliche Treiben ließ sich nicht unterbrechen, auch nicht von kreidebleichen Menschlingen, die ein Geheimnis vorgeführt bekamen, die mit der doppelten Koboldgröße vorbeigeschneit waren. Abseits des Trubels führte sie Buckles einen fußbreiten Pfad entlang. Rückwärts gehend sprach er mit fuchtelnden Armen: „Aber nicht, dass ihr euch erschreckt, meine Freundlinge! Ihr kennt, was ich euch zeigen will. Ich hab's erbeutet, ich ganz allein, ganz allein! Oh, wie jeder Kobold aus der Wäsche geguckt hat, da hab' ich einen Fang gemacht, das glaubt ihr gar nicht. Aber jetzt weiß ich nicht, wohin damit, doch der gewitzteste Buckles, der hat einen genialsten Plan! Am besten wär's nämlichstens, ihr kümmert euch darum, ich hab' einen von euch schließlich gerettet. Schaut her!“ Ein Würfel war von brauner Decke verhüllt. Halb so hoch wie Mick und so lang und breit, auf ihren Pickup hätte der Würfel gepasst. Die verdächtige Form ließ die Jungs Vermutungen anstellen.
Buckles kündigte feierlich an, dass er nun das Geheimnis lüften würde. An einer Ecke zog er, die Decke verschwand, als wäre sie Haut und Fleisch eines Körpers gewesen und brachte ein Skelett hervor, das ein Käfig war. Ganz entspannt blieben die Jungs, hatten sie doch eigentlich mit einem kleinen Drachen gerechnet, mit einem Troll oder dem verdammten gestiefelten Kater, waren, eingesperrt in den Käfig aus stabilen Holzstreben, die drei Räuber verknotet. Demütigend wurden sie positioniert und ihre Nudelgliedmaßen in den schwarzen Cargohosen und Sweatern lagen so, dass weder Mick noch Lamont erkennen konnte, wem welcher Arm oder welches Bein gehörte. „Alter, müssen die schwitzen!“, brachte Mick in Erfahrung. Lamont war nahezu amüsiert und fragte Buckles, was er denn von ihnen wolle. „Bringt sie weg, ja, irgendwo hin. Richtung Highway, das wäre bestestens. Wir konnten die Räuberlinge ja nicht einfach freilassen, die hätten sich noch wohlgefühlt bei uns! Wären geblieben! Menschlinge fressen uns die wenigen Haarlinge vom Kopf, die wir haben!“ Während Lamont und Buckles verhandelten, begutachtete Mick die geschundenen Räuber, zog dem einen durch die Gitterstäbe seine Sturmmaske ab, von der er sich nicht befreien konnte und er wurde angekeift in der Manier eines aufgebrachten Papageien, der nur zu gern einen Finger erwischt hätte. Dunkles Haar und der passende Schnurrbart dazu war unter der Mütze hervorgewallt. Aufgebrachtes mexikanisches Spanisch beschimpfte Mick, er hörte „Pendejo!“ und „La Mierda!“ und ließ den Haufen links liegen. „Buckles sagt, die könn' wir hinter uns herziehen. Er will den Käfig auf ein Chassis setzen. Lang wird unser Campingtrip zwar nicht mehr, aber wir haben ja mehr gesehen, als uns lieb ist.“ Mick stimmte zu.
Ganz in der Nähe der Koboldmeute schlugen die Jungs ihr Zelt auf. Bis die Kopfschmerzen vor lauter Rabenstimmen nach Aspirin verlangten, hatten sie es sich nicht nehmen lassen, sich unter die Nervensägen zu mischen und in Wunder zu schmiegen. Verklemmt ungläubig wurden ihnen Geschichten der Allerklüglichsten aufgetischt, manchmal drei oder vier gleichzeitig. Und keiner von ihnen hatte sich mit weniger als gesteigerten Superlativen im Bezug auf sich selbst zufrieden gegeben. Der Ort stand unter einem Zauber, der ihm Frieden und maßlose Heiterkeit aufdrückte. Der Morgen brach herein und der Wald kam zur Sprache. Vogelgezwitscher löste die Kobolde ab, die sich solange gegen Müdigkeit gewehrt hatten, bis sie an Ort und Stelle eingeschlafen waren. Einige übereinander, andere mussten von den Bänken gekippt sein. Die Jungs balancierten durch schnarchende Kobolde, um Buckles zu wecken, dessen Wegbeschreibung dringend nötig war. Schon während Buckles sich die Augen rieb, untermalte seine Stimme das Wachwerden. Schlaftrunken taumelte er den fußbreiten Pfad entlang, stolperte nahezu über die eigenen Hufen. Mick und Lamont war schon gewahr geworden, dass der Wagen leer war, den Buckles mit wieder geschlossenen Augen an der Deichsel packte und zu ziehen versuchte. „Huch!“, sagte Buckles über den Wagen, „Ja, bin ich denn stärkiger geworden?“ „Der ist leer, Buckles!“, Mick zerrte prüfend an einer Strebe der Konstruktion, die ihm dann entgegenfiel, „Und nun? Was steht jetzt an?“, fragte er. „Ach, das ist halb so wild. Überhaupt gar nicht schlimm. Immerhin sind sie davon, verschwunden, nicht mehr da, das ist die Hauptsache. Kommt mit, ich bring' euch hier weg.“ Mehr und mehr kam er zu sich, führte die Jungs aus der Lichtung, durch die Myrte, vorbei an der Schwarzbärin und zurück zum Abhang. „Es war mir die ehrenvolligste Ehre, euch, meine Freundlinge, zu unserem sausestem Braus zu führen.“ Buckles machte einen Knicks und verschwand fröhlich pfeifend zwischen Douglasien.
„Abgefahren“, Mick setzte sich eine Weile. „Wartest du auch aufs Aufwachen?“, fragte Lamont, „'ne fette PTBS bring' ich mit nach Hause. Mein Dad schickt mich in Therapie, wenn ich das erzähl'!“ Verstört brachten sie den Rückweg hinter sich, versuchten gegenseitige Psychotherapie. Die vergangenen Meilen waren die Jungs so geschlendert, dass es fast dunkelte. In der Ferne, etwa beim Monte Cristo Campground, flackerte Blaulicht, das sich im Wald zerstreute. „Was ist denn da los?“, fragte Lamont. „Vielleicht haben sich Vampire über Camper hergemacht, oder Xenomorphs im L.A. Forest. Ich bin auf alles gefasst, Alter!“ Inmitten des knöchelhohen Rasens standen die zwei verloren observierend, bis sie drei Cops mit Taschenlampen blind machten. „Wo kommt ihr denn her, Jungs?“, fragte der Bulligere von ihnen. „Wandern, wir waren wandern!“, die Antwort stotterte Lamont fast. Dann hatte man sie bereits gebeten, keine Anstände zu machen und mitzukommen. Sie konnten tagelang marschieren und keinen Menschen treffen, wenn sie gewollt hätten. Sie waren tatsächlich so frei, Dinge zu glauben und zu sehen, die sie sich selbst verboten hatten. Aus dieser Freiheit verfrachteten die Cops die Jungs in einen Wagen der LAPD. Um sie herum überall Gitter. Mick riss an der verschlossenen Tür, hatte bald gegen die Scheiben getreten. Gezeter. So lange, bis sie unter feuchter Aussprache eines in den Fahrersitz gestiegenen Beamten zurechtgewiesen worden. Ein zweiter nahm auf dem Beifahrersitz Platz und mit der Frage, was sie denn an den geknackten Autos zu suchen gehabt hatten und ob ihnen ihre Mexikanerkollegen, die ein Bär äußerst zugerichtet hatte nicht leid täten, schauten sich Mick und Lamont in die Augen, die aus fahlen Gesichtern leuchteten und hinter denen eine Lampe zu leuchten beginnen musste, so stark, dass selbst der Wolframkopf schmolz.