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Saurer Regen
„Mein Sohn ist kein Mörder.“ Schwär strich mit seinem schwieligen Daumen langsam über den Kaffeebecher auf dem Tisch. Wir waren alleine im Pausenraum des Zuliefererbetriebs, in dem er arbeitete. Die anderen hatten sich verzogen. Schwär hatte mir erklärt, dass Willi nicht länger im Knast bleiben könne. Weil er dort sterben werde. Mehr gab es für ihn nicht zu sagen.
Ich stand auf und griff nach meinem Mantel. „Wir brauchen neue Anhaltspunkte, irgendetwas, dass eine Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigen würde“, versuchte ich es noch einmal.
Schwär nickte, sah mich dabei aber nicht einmal an. Ich glaube, dass er mich gar nicht mehr hörte.
„Mach deine Arbeit“, rief er mir noch hinterher, bevor ich aus der Tür trat.
Ich saß im Auto auf dem Parkplatz der JVA. Die Heizung lief, trotzdem fror ich erbärmlich. Ich las wieder mal die Akte. Das Opfer, eine neunzehnjährige Polin, lebte mit ihrer Familie in einer gemeinsamen Unterkunft in der Adlerstraße. Irgendwann lief sie von zu Hause weg. Danach verlor sich ihre Spur. Bis sie zwei Jahren später wieder auftauchte. Vollgepumpt mit Drogen. Spuren von Gewalt am ganzen Körper. Stranguliert.
Während ich mit den Papieren raschelte, prasselte der Regen auf die Windschutzscheibe und das Dach des Wagens. Ich überlegte. Rauchte eine Zigarette und blickte aus dem Fenster. Dann ging ich rein.
Wir saßen uns gegenüber. Willi, ein Hüne mit Händen, so groß wie Schaufeln, krakelte herum wie ein Fünfjähriger.
„Malen tut er gern“, hatte Schwär mir gesagt. „Ritter, Autos, solche Sachen.“
Also war ich los und hatte Buntstifte und Papier besorgt. Konzentriert betrachtete Willi für einen Moment sein Werk. Legte die Grün weg und griff nach einem blauen Stift.
„Willi, ich möchte mit dir noch mal über diesen Abend sprechen“, begann ich behutsam.
Er antwortete nicht. Nur das Kratzen auf dem Papier war zu hören. Willi hatte die langen roten Haare zu einem Zopf zusammengebunden, sein Bart hing ihm bis über den Kragen seines T-Shirts. Während er das Bild betrachtete, hatte er die Zunge zwischen den Lippen. Sanfter Riese, hätte man wohl gesagt. Wenn man die Akte nicht kannte.
„Läuft nicht mehr rund“, hatte Schwär erklärt und an mir vorbeigeblickt. „Seit St. Peter Ording nicht mehr.“
Ein Verschickungskind der frühen 60er-Jahre. Bis zu sechs Wochen lang steckte man die Kleinen damals zu dreißigst in einen Schlafraum. Löste backsteingroße Butterstücke in riesigen Kakao-Kannen auf, jagte sie am Tag die Deiche hoch und ließ sie am Abend so viele Schwarzbrote essen, bis der erste davon kotzen musste.
„Der war damals schon beinahe so groß wie heute. Nur wiegen tat er nichts.“
Beim dritten Ausflug in das Heim fand man Willi eines Tages alleine im Duschraum. Mit zertrümmertem Schädel lag er da.
„Kam nie raus, was genau passiert ist“, erzählte mir Schwär, während er Zigarette rauchte und aus dem Fenster sah. „Seitdem war er … anders als die anderen Kinder. Langsamer. Nicht mehr richtig im Kopf. Konnte sich die dollsten Sachen merken, aber Sprechen, Schreiben, Umgang mit Menschen … schwierig.“
„Der Abend mit dem Mädchen“, fuhr ich fort. „Du hast mit den Polizisten darüber gesprochen, erinnerst du dich? Hast denen erzählt, wie du Sie gefunden hast.“
Das Kratzen auf dem Papier hörte auf. Willi behielt den Stift in der Hand, den Blick stur auf das Blatt vor sich gerichtet.
„Das Mädchen und du, ihr wart in dieser Gasse bei den Mülltonnen. Und dann? Was war dann?“
Willi hob langsam den Kopf und sah mich an. Zum ersten Mal trafen sich unsere Blicke. Ganz leicht zitterte seine Hand mit dem Stift.
„War da noch wer?“
Vor Gericht war damals nichts aus Willi herauszubekommen gewesen. Erst als sie ihm nach der Urteilsverkündung wieder Handschellen anlegen wollten, hatte er wohl überhaupt verstanden, dass er nicht einfach wieder nach Hause gehen konnte. In den Vernehmungen hatte Willi zu allem, was ihm die Beamten in den Mund legten, Ja und Amen gesagt. Hatte an den richtigen Stellen genickt und die spätere Strategie seines damaligen Verteidigers bereits im Vorfeld höchstselbst zerbröselt.
Beim allerersten Verhör direkt nach seiner Festnahme aber, hatte er ein einziges Mal davon gesprochen, dass er das Mädchen halb nackt zwischen Mülltonnen gefunden hatte. Dass er sich Sorgen gemacht habe, weil es doch so kalt gewesen sei. Also habe er ihr seine Jacke umgelegt. Irgendwann war er dann weggerannt.
„Warum?“, hatten die Beamten ihn gefragt.
„Angst“, hatte er geantwortet.
„Angst?“, hatten die Beamten gefragt. „Weil du ihr was getan hast?“
„Der Mann im Auto“, hatte er geantwortet.
Danach war nie wieder die Rede davon gewesen.
Ich saß alleine am Tisch. Willi hatten Sie wieder weggebracht. Kein Wort über den Mann. Nichts über das Auto. Ich fragte mich, warum ich überhaupt hergekommen war. Müdigkeit überkam mich, als ob sie nur darauf gewartet hatte, mit aller Wucht zuzuschlagen. Ich sah mich um, stellte mir nicht zum ersten Mal vor, wie es wohl wäre, hier eingesperrt zu sein. In eine Welt in Grau. Mit grauen Fluren, grauen Türen, grauen Gesichtern. Morgens Wurst. Mittags was vom Blech. Abends Wurst. Kein Gemüse. Ab und zu vielleicht mal eine matschige Birne, wenn du Glück hast. Dein Tag davon bestimmt, welcher Schließer gerade Dienst tut oder wem du auf dem Flur begegnest. Und im Hof - auf die Fresse. Jeder, der behauptete, dass es draußen auch nicht viel besser sei, wusste einen gottverdammten Scheiß.
Ich sammelte die Stifte ein. Sie hatten nicht erlaubt, dass Willi sie behalten durfte. Griff nach den Bildern und packte alles zusammen in meine Tasche. Draußen setzte ich mich in mein Auto und schloss die Augen. Ich steckte fest.
„Du bist ein lausiger Anwalt.“ Schwär stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch. Holte ein Feuerzeug aus seinem Arbeitsoverall und entzündete eine Zigarette. Mir bot er keine an. Wir schwiegen eine Weile. Irgendwann sagte ich: „Wir telefonieren.“
Schwär nickte und blickte aus dem Fenster. Draußen regnete es noch immer. Tropfen liefen an der Scheibe herunter. Ich stand auf und ging zur Tür.
„Er muss da raus“, sagte Schwär leise.
Ich drehte mich um und schaute ihm ins Gesicht. Er sah ungesund aus, blass, die Augen tief in den Höhlen. Er nahm einen Zug und blickte wieder aus dem Fenster.
„Ich melde mich“, sagte ich lahm und ging.
Im Alt war wenig los, selbst für einen Vormittag. Ich bestellte ein Bier und ging zu dem Mann im hinteren Teil der Kneipe. Klaus hob den Blick, sah mich für einen Augenblick aus kleinen Augen an und wand sich wieder seiner Zeitung zu. Ich setzte mich.
„Saurer Regen schreiben die“, sagte er nach einer Weile. „Henning, die Welt geht vor die Hunde. Jeden Tag ein bisschen. Und noch zu unseren Lebzeiten ist irgendwann alles aus, sag ich dir. Letztes Jahr Caesium-137, Strontium-90 und all das … jetzt saurer Regen.“ Er las weiter. Hustete und schüttelte den Kopf. Ich nahm einen Schluck Bier und schwieg. Irgendwann gab er auf. Faltete die Zeitung zusammen, legte sie neben sich und sah mich an.
„In Ordnung. Was willst du?“
„Willi Schwär“, antwortete ich.
Klaus überlegte, dann schnaubte er. „Der Mongo? Meine Güte, da hab ich dir vor ein paar Wochen doch schon alles zu gesagt.“
Ich schwieg. Griff in meine Tasche und legte einen Briefumschlag auf den Tisch. Er sah mich ernst an. „Henning, lass es sein.“ Dann griff er nach dem Umschlag.
Ich nahm noch einen Schluck Bier und Klaus drehte sich eine Zigarette. Als er fertig war, sagte er: „In der Nacht, als sie das Mädchen fanden, haben sie ein paar Straßen weiter Verkehrskontrollen durchgeführt. Dabei haben sie auch einen Mercedes rausgezogen, der wohl zu schnell unterwegs war. Am Steuer saß Ernst Wichmann.“
„Wichmann?"
„Ist nichts zu vermerkt. Kein Name, kein Eintrag. Vermute, dass Wichmann ein bisschen was hat springen lassen, damit er weiterfahren konnte. Zwei Tage später ist er dann brav zur Polizei und hat von sich aus eine Aussage gemacht. Dass er in besagter Nacht zwar in der Nähe war, ihm aber nichts aufgefallen sei. Dass er von einer Vorstands-Party kam und danach direkt nach Haus gefahren ist. Da hatte dein Willi im Übrigen auch schon alles gestanden, mehr oder weniger jedenfalls.“ Klaus machte eine Pause und grinste freudlos.
„Hör mal zu, Henning. Ich glaube ja, dass dieser Mongo das Mädchen umgebracht hat. Ganz einfach. Aber es stimmt, auch Wichmann war in der Nähe. Und zeitlich kommt es wohl auch hin. Jetzt sag ich dir aber mal was. Lass. Es. Glaubst du, so einer wie der lässt sich einfach ans Bein pissen? Meinst du nicht, dass der mit seiner Kohle und seinen ganzen Verbindungen aus gutem Grund dafür gesorgt hat, dass nichts von der Sache an die Öffentlichkeit kommt? Und denkst du, dass der sich jetzt zwei Jahre später in aller Öffentlichkeit mit Scheiße bewerfen lässt? Pass bloß auf, dass ...“
„Dass was?“
"Henning, wie oft warst du jetzt schon beim Schwär im Gefängnis? Drei Mal? Vier Mal? Man wird sich nach dir erkundigt haben. Glaub mir einfach, wenn ich dir sage, dass dieser ganze Fall verloren ist."
Es klingelte, aber Schwär ging nicht dran. Als ich schon auflegen wollte, nahm er ab.
„Ja?“
„Herr Schwär, wir sollten uns treffen. Ich hab neue ...“
„Vergiss es.“
Eine Pause entstand.
„Vergessen? Sie verstehen nicht, ich habe ...“
„Er ist tot. Willi ist tot, hat sich gestern aufgehängt.“
Noch fünf Minuten, nachdem Schwär wieder aufgelegt hatte, stand ich da. Den Hörer immer noch in meiner Hand. Verloren.
Nach der Beerdigung ging ich auf ihn zu. Schwär stand alleine am Grab im Regen. Ich trat neben ihn. Es war ungewohnt, ihn in einem Anzug zu sehen. Die Hände in den Taschen blickte er in Richtung eines Mannes, der sich ein paar Reihen weiter mit einem Fotoapparat herumdrückte.
„Wenn der näher kommt, schlag ich ihm die scheiß Fresse ein“, murmelte er. Dann drehte er sich zu mir. Ich erschrak. Sein Blick war leer. Gar nichts lag mehr darin, außer dumpfer Abwesenheit.
„Mein Beileid“, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
Schwär nickte, griff aber nicht zu. Dann blickte er wieder zu dem Mann hinüber. Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte ich: „Als ich Sie angerufen habe, vor zwei Wochen, … ich habe ...“
Ohne Vorwarnung versetzte mir Schwär einen Stoß. Ich taumelte.
„Jetzt hau schon ab! Es ist vorbei!“, schrie er mich an. „Mein Sohn ist tot, im Gefängnis verreckt.“ Er gab mir noch einen Stoß, ballte die Hände zu Fäusten. Sein Kiefer mit dem Bart zitterte. In seinem Blick lag grenzenlose Verachtung.
Ich saß an meinem Schreibtisch und blickte auf die Zeitung vor mir. Das Telefon klingelte, doch ich ging nicht dran. Handgreiflichkeiten auf Beerdigung von verurteiltem Mörder. Der Artikel sprach unter anderem von Nachforschungen im Fall der ermordeten Ania R. . Mein Name tauchte auf, dazu ein Foto, wie Schwär mich schubste. Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern, dachte ich. Die Sache war vorbei. Keine Nachforschungen mehr. Ich warf sie in den Mülleimer und begann aufzuräumen. Zwischen meinen Papieren fand ich Willis Krakel-Bilder. Ein Ritter auf einem Pferd mit sechs Beinen, eine krumme Rakete, ein Auto mit einem Stern.
Und einem Nummernschild.
Der Mann. Das Auto. Das Nummernschild. Wichmann. Ich trat aus der Tür, wollte einen Spaziergang machen. Den Kopf frei kriegen. Die Wolken hingen noch immer wie vollgesaugte, dunkle Schwämme über der Stadt. Aber der Regen hatte aufgehört. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein Wagen. Die roten Bremslichter spiegelten sich in den Pfützen. Drei Männer mit kurzen Haaren stiegen aus. Ich bog um eine Ecke und richtete meinen Kragen. Im Augenwinkel bemerkte ich, dass die Männer mir folgten. Ich ging ein paar Meter, beschleunigte meine Schritte. Dann rannte ich los.