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Sauhund
Er bemerkte erst, dass er zu Boden fiel, als sein Kopf auch schon auf den Steinboden knallte. Gedämpfte Aufschreie drangen an sein Ohr und sofort wuselten dutzende Leute um ihn herum. Er schloss die Augen, mehr aus Demütigung als aus Schmerz, und hoffte wieder einmal, sein letztes Stündchen habe endlich geschlagen. Leider war nichts daraus geworden, denn zu seinem großen Pech hörte er sie noch immer sprechen.
"Komm, wir stellen dich wieder auf.“ Er konnte damit leben, wenn man ihn wie ein Ding behandelte.
"Herr Hofer, geht es Ihnen gut?" Er hasste es hingegen, wenn er in der Höflichkeitsform angesprochen wurde. Als wäre er noch immer das, was er früher einmal war.
Unzählige Augenpaare waren auf ihn gerichtet, hunderte vermutlich. Er hatte sich auch den besten Tag ausgesucht, um zu stürzen. Er spürte viele Hände an seinem Körper, wobei er diese an seinen Beinen eher sehen als fühlen konnte. Es entstand ein regelrechtes Gerangel, wer mit anpacken durfte und gemeinsam hievten sie ihn zurück in den Rollstuhl. Er sparte sich ein Dankeschön, sollte das doch der hinter ihm machen. Dieser griff ihm an den Kopf, fuhr unsanft über die Stelle, die den Boden berührt hatte und ließ dann mit den Worten "alles in Ordnung" wieder von ihm ab. Alles nur für ihr Publikum. Die Menge verlief sich wieder. Es gab nichts mehr zu sehen. Da wartete er sehnsüchtig auf den Tod und schaffte es nicht einmal zu einer Platzwunde.
"Was machst du da?", fragte sein Vater verwundert und mit einem Anflug von Verärgerung in der Stimme, denn es war offensichtlich, was Ralph hier tat.
"Ich ziehe meine Bergschuhe an?", erwiderte Ralph.
"Ja, das sehe ich auch, aber warum?". Die Empörung war nun unüberhörbar.
"Hast du heute schon mal rausgeschaut? Dieses Wetter! Ich muss auf den Berg!"
Sein Vater zwang sich, ruhig zu bleiben.
"Und da bist du in einer Stunde zurück? Das muss dann aber wohl ein sehr kleiner Hügel sein, wie?"
"Warum? Ich gehe auf den Schwarzkopf."
"Bist du verrückt? Wir müssen doch heute das Holz für den Maier hobeln."
"Ach so. Ja, das macht der Opa.“
Mit der Beherrschung seines Vaters war es nun vorbei. "Machst du Witze?“ Als sollte seine Frage untermauert werden, hörten sie in diesem Moment die Holztreppe knarren und unter der Decke erschienen Stoffpantoffeln, die schlurfend und im Zeitlupentempo die einzelnen Stufen herabstiegen. Langsam rückte auch der restliche Körper in das Bild. Die schwarze Stoffhose mit der Bügelfalte, die schlaff um die Beine baumelte. Die Metallschnallen der Hosenträger am Bund. Ein unordentlich hineingestecktes Baumwollhemd. Ein Hemdkragen, dessen rechte Seite nach oben geknickt war. Das faltige Gesicht mit den vielen Altersflecken und der breiten Nase, auf der eine riesige Brille saß. Die weißen Haare, dort, wo sie noch vorhanden waren.
„Und wie bitte soll mir der jetzt helfen? Sieh ihn dir an, der kann ja kaum noch gerade stehen. Da kann ich in spätestens einer Stunde den Notarzt rufen, wenn seine Hand in der Maschine steckt. Du bleibst hier!“
„Ich beeil mich, in Ordnung?“
„Du gehst gar nicht. Du bleibst hier und hilfst mir, so wie wir das ausgemacht haben!“
"Ach Martin, jetzt lass ihn doch gehen“, fiel ihm Rudolf ins Wort, der endlich das Ende der Treppe erreicht hatte.
"Halt du dich da gefälligst raus! Dir hab ich es immerhin zu verdanken, dass es der feine Herr wieder einmal vorzieht, seine Zeit lieber irgendwo da oben zu verschwenden, als mir bei der Arbeit zur Hand zu gehen." Martin fuchtelte mit dem Arm über seinem Kopf herum. "Du hast ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Du mit deinen scheiß Bergen!" Die letzten Worte spie Martin regelrecht aus.
"Sei doch froh, dass er keine anderen Dummheiten anstellt. Nur weil du dich nie für die Berge interessiert hast."
„Er ist jetzt dann bald dreißig und soll endlich Verantwortung übernehmen. Wenn ich so viel in den Bergen herumgelaufen wäre wie ihr beide, dann würden wir heute ohne Dach über dem Kopf dastehen.“
„Red doch keinen Unsinn!“
„Kommt ihr jetzt endlich frühstücken?“, ertönte eine genervte Stimme aus der Küche. Martin starrte seinen Vater an. Die Erwiderung, die ihm auf den Lippen lag wanderte zur Stirn empor, wo sie als pochende Ader keiner weiteren Worte mehr bedurfte. Martin wandte sich abrupt ab und verschwand in der Küche. Rudolf schlurfte hinterher. Ralph war schon längst nach draußen verschwunden.
Ralph lehnte am dicken Holzpfosten des Gipfelkreuzes, den Rucksack im Rücken und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er genoss den Blick in die Ferne. Die weißen Gipfel der Dreitausender strahlten ihm entgegen. Vor ein paar Tagen erst hatte es geschneit, ein kurzer Wintereinbruch mitten im Sommer. Die Unberechenbarkeit der Berge faszinierte ihn immer wieder aufs Neue. Ralph schloss seine Augen. Nahm die Natur mit seinen anderen Sinnen wahr. Er spürte den frischen Wind auf seiner Haut. Sog die Luft ein, als hätte seine Lunge noch nie so etwas Kostbares aufgenommen. Ewig könnte er hier liegen bleiben. Ein Gespräch, das er vor kurzem mit seinem Großvater geführt hatte, fiel ihm dabei wieder ein.
„Es war so schön damals. Was hätte ich nur gegeben, wenn mich die Berge damals geholt hätten.“
„Opa, fang nicht schon wieder damit an.“
„Erfroren, abgestürzt, oder von mir aus ein Herzinfarkt. Ja, das wäre wohl das Schönste gewesen. Dahingerafft von einem Herzinfarkt, schnell und lautlos zusammengesunken mit dem letzten Blick auf die Felswände. Ich hätte in meiner letzten Minute gelacht vor Glück.“
„Opa, du sprichst immer vom Sterben.“
„Ja, und? Sieh mich an. Mitte Siebzig und nichts mehr kann ich anfangen mit mir. Nirgends mehr komme ich alleine hin, gerade, dass ich es noch über die Treppen schaffe. Würdest du dir das wünschen?“
Ralph schwieg.
„Na, siehst du? Du willst auch nicht so enden wie ich!“
„Ach, was. Jetzt hör doch endlich auf. Es gibt wohl wirklich welche, die schlimmer dran sind als du. Du hast doch uns. Du bist geistig noch fit. Du …“
„Ha, hör mir doch auf. Du wirst dich noch anschauen! Irgendwann wirst du schon am eigenen Leib erfahren, was ich gemeint habe.“
Ralph lächelte, als er daran zurückdachte. Er mochte seinen Großvater. Auch wenn das Alter ihn zu einem griesgrämigen Greis gemacht hatte.
Ralph zuckte zusammen, als ein Gegenstand auf seinem Bauch landete. Grinsend griff er nach dem in grauen Stoff eingenähten Flachmann, auf dem ein aufgesticktes, rotes M prangte.
„Der Tag wird ja immer besser“, meinte Ralph, prostete seinem Freund mit einem „Bergheil“ zu und nahm einen tiefen Zug aus der Flasche. Der Vogelbeerschnaps brannte in seiner Kehle und Ralph fühlte sich, als würden alle seine Sinne erneut erwachen.“
„Hey, lass mir auch noch was drin!“, bat Max lachend, nahm den Flachmann und gönnte sich selber noch einen großen Schluck. Die beiden unterhielten sich kurz über ihre letzte Bergtour.
„Ich muss dann wieder runter. Die Arbeit wartet auf mich“, sagte Ralph schließlich.
„Du armes Schwein. Viel Spaß! Ich bleib lieber noch ein wenig hier“
„Na vielen Dank auch!“
Beim Abstieg blieb Ralph noch einmal stehen und blickte zurück zum Gipfel. Auf die Felswand darunter. Dort blieb sein Blick hängen, während sich ein Kribbeln in seinem Körper breitmachte. „Scheiß auf die halbe Stunde“, dachte er. Er brauchte noch etwas, um diesen Tag perfekt zu machen. Er stieg in die Wand ein und hangelte sich daran entlang. Der Vorsprung war an manchen Stellen so schmal, dass er nur mit seinen Zehenspitzen festen Grund berührte. Er mochte diese Momente, wenn jede einzelne Faser seiner Muskeln angespannt war und jeder Fehltritt einen Absturz zur Folge haben konnte. Unter ihm ging es ungefähr fünfzehn Meter in die Tiefe, bevor der Fels wieder auf eine steil abfallende Geröllhalde traf. Nach kurzer Zeit hatte er das Ende des Felsvorsprungs erreicht und entdeckte darüber einen Edelweißstock. Er streckte sich danach. Anita würde sich darüber bestimmt freuen. Oder sein Opa. Dieser würde die Blume zwar mürrisch und ohne Dank entgegennehmen, aber dann, wenn er sich unbeobachtet fühlte, verträumt über die flauschigen Blüten streichen. Ralph lächelte, riss ein Stück aus dem Polster. Als er sich ein zweites Mal nach dem Edelweiß streckte, rutschte sein rechter Fuß ab.
Die Reifen des Rollstuhls glitten über die Steinplatten und fraßen sich nach der Abzweigung in die feuchte Erde, die von verwelktem Gras bedeckt war. Sie drängten sich an unzähligen Menschen vorbei, die sie alle anstarrten. Manche mit unverhohlener Neugier, andere mitleidig. Als wären seit dem Unglück nicht schon Jahre vergangen. Er senkte seinen Kopf, bis sie an ihrem Platz angekommen waren. Just wurde er so hinplatziert, dass er ihm direkt ins Gesicht blicken musste. Auge in Auge. Er hatte kein Problem damit, dieser Anblick war so ziemlich das einzige, das seine Lippen noch zu einem unmerklichen Grinsen verziehen ließ. Sein Gegenüber lächelte zurück. So, wie es das immer tat, wenn sie sich begegneten. Der Lautsprecher knackte und sein Blick glitt auf die Schrift. Die Schrift unter dem lächelnden Gesicht.
Ralph Hofer
*01.09.1979 - +14.08.2009
Es war das dritte Allerheiligen nach seinem Tod.
Max stand in der Stube und räusperte sich leise. Ein krächzendes "Opa" drang aus seiner Kehle. Es blieb ungehört.
"Opa!" Rudolf schreckte aus seiner Starre hoch. Teilnahmslos sah er dem Freund seines Enkels in die Augen.
"Der Ralph ...", Max' Stimme versagte. Nach sekundenlanger Stille versuchte er es erneut. "Weißt du, der Ralph. Als ich ihn fand ..." Schweigen. Schlucken. "Er hat. Der Ralph, er hat gelächelt."
Rudolf blieb reglos sitzen. Es war still. So still, dass sich die mechanischen Pendelbewegungen der Küchenuhr anhörten wie Peitschenschläge und Max hastig das Weite suchte. Er bekam nicht mehr mit, dass sich auf Rudolfs Lippen langsam ein Lächeln abzeichnete, das immer breiter wurde, bis schließlich ein lautes Lachen aus seiner Kehle drang und er begann, mit der flachen Hand auf den Tisch zu schlagen. Immer und immer wieder. Rudolf lachte und lachte, bis sich Tränen in sein Lachen mischten und seine Hand ein letztes Mal auf die Tischplatte hinabfuhr.
"Du Sauhund", flüsterte er.