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Sarina

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31.05.2004
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Sarina

Mit einem leisen Surren schloss sich die Wohnungstür hinter ihm. Automatisch wurde das dämmrige Licht aufgedimmt und der Eingangsbereich erstrahlte in in diffus hellem, kaltweißem Licht mit blau leuchtenden Farbakzenten an den hellgrauen, glatten Betonwänden. Er verdrehte den Kopf, um seine Nackenwirbel knacken zu lassen und streckte sich sodann. Er seufzte. Wieder ein arbeitsreicher Tag überstanden.
„Mailbox!“, sprach er in den leeren Raum. Mit einem sphärischen Pington erschien eine holografische Liste vor ihm in der Luft. Er zog seine Schuhe aus, stellte sie in den Reinigungsautomaten und tappte auf Strümpfen ins Wohnzimmer, wobei er die holografische Projektion, als hinge sie an einer unsichtbaren Angel vor seinem Gesicht, vor sich her schob. „Spam... Spam... Spam...“, murmelte er.
Hinter ihm wurde es wieder dämmrig im Flur, während sich stattdessen das Wohnzimmer erhellte: Ein weitläufiger Raum, im hinteren Ende über eine Stufe in einen Essbereich übergehend, wie der Rest der fensterlosen Wohnung in kühlen, hellen Grautönen gehalten, mit leuchtenden, blauen Farbakzenten an den ebenfalls hellgrauen Wänden, welche von zwei schmalen, horizontal rings um den Raum verlaufenden, schwarzen Furchen durchzogen wurden. Die spärliche Einrichtung bestand aus funktionalen, schlichten Möbeln, die sich in schwarz oder weiß präsentierten. Vorn rechts befand sich eine Senke, die analog zur erhöhten Essplattform um eine Stufe gegenüber dem silbergrauen Kunststofffußboden vertieft war. Darin stand ein großes Ecksofa mit beigestelltem Sessel und einem transparenten Couchtisch. In die Wand war hier ein schwarz umrahmter, offener Kamin eingelassen, in dem ein blaues, holografisches Feuer loderte.
„Rechnung, Werbung, Rechnung...“, ging er weiter das Postfach durch. Dann lächelte er. Er deutete auf eine eingegangene Nachricht. „Abspielen!“
„Hallo Ton!“ Sarinas sanfte Stimme klang wunderbar weich, als sich ihr Abbild vor ihm aufbaute. Sie war wunderschön, wie immer. Klein und zierlich, mit haselnussbraunem, ellenlangem, leicht gewelltem Haar, das sie heute offen trug, und kastanienbraunen Augen, umrandet von aufreizend langen Wimpern. „Na, wie war's bei der Arbeit? Bald ist ja der große Tag! Ich weiß leider nicht, ob es mir heute Abend reicht. Ich habe einen Termin auf dem Netlife Zentralserver. Aber ich werde schauen, dass ich heute Abend live komme, so gegen acht vielleicht. Wenn die mich nicht gleich löschen!“ Sie zwinkerte neckisch. „Also dann, bis später! Ich lieb dich!“ Sie hauchte ihm einen Kuss zu, dann löste sich ihr Bild auf und an seiner Stelle erschien in leuchtend blauem, rotierendem 3D die von einer synthetischen Stimme vorgelesene Meldung: „Ende der Nachricht.“
Er seufzte erneut. „Zeit?“
„Siebzehn Uhr dreiundzwanzig“, antwortete die Computerstimme.
Noch zweieinhalb Stunden. Was sollte er bis dahin tun? Hungrig war er noch nicht.
Er beschloss, zunächst die Tagesarbeit noch einmal durch zu sehen. Morgen würde er das Abschlussmeeting über die Tests haben, da sollte er besser vorbereitet sein!
Er zog seinen UDA aus der Hosentasche und legte ihn auf das kleine, weiße Beistellschränkchen neben der Wohnzimmertür, das mit elektronischer Stimme verkündete: „Ihr Universal Digital Assistant wird geladen. Bitte achten Sie darauf, dass keine magnetfeldempfindlichen Objekte in den Induktionsstrahl geraten!“
Er ließ sich auf das bequeme, schwarze Sofa aus biosynthetischem Leder fallen, legte noch einmal den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Nachdem er seine Füße bequem auf dem Couchtisch platziert hatte orderte er: „Die Zusammenfassung der Prüfprotokolle für die Abschlusstests von ISA Eurocol One!“
Für eine Sekunde rotierte ein bunter Ball in der Luft über dem Couchtisch, während die Daten von seinem UDA heruntergeladen und geöffnet wurden.
Dann versuchte er sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es sah alles ganz gut aus. Eine kleine Phasenvarianz im bipolaren Plasmastrom des dritten Triebwerks, aber das sollte innerhalb von Minuten zu beheben sein. Ein Bug im Computersystem hier und da, eine zu flinke Sicherung dort, aber nichts, was sich nicht bis zum Start in den Griff kriegen ließe. Das erste Kolonistenschiff zum Jupitermond Europa würde pünktlich seine Reise antreten!
So vergingen drei Stunden. Er begann eine Präsentationsdatei, erstellte Diagramme und Schaubilder zur Veranschaulichung von Fakten und speicherte alles wieder auf seinem UDA. „Dauer der Präsentation?“, erfragte er, worauf der Computer - auf Basis von Tons gespeichertem Sprachprofil - eine Berechnung der Vortragsdauer anstellte.
„Eine Stunde und 27 Minuten.“
Nahezu perfekt, eine 90-minütige Präsentation war gefordert.
Während er noch überlegte, wie er den Vortrag um weitere drei Minuten ausdehnen könnte ertönte die Ruftonmelodie, auf die er sich schon den ganzen Tag gefreut hatte. „Anruf annehmen!“, lächelte er.
Wieder erschien ihm Sarinas dreidimensionales, geisterhaftes Abbild in der Luft. Diesmal saß sie jedoch in einem alten, aber augenscheinlich sehr bequemen, braunen Sessel, der direkt auf seinem Wohnzimmertisch zu stehen schien.
„Hallo mein Schatz!“, begrüßte er sie.
„Hi!“ Sie lächelte entschuldigend. „Tut mir Leid, dass es so spät geworden ist. Es ging um meine VAL-Lizenz. Die nächste Jahresrechnung war letzte Woche fällig, aber ich konnte nur einen Teilbetrag zahlen, wegen des Bombenanschlags auf das Rechenzentrum in Koudougou.“
Er nickte. „Ja, diese Anti-Tech-Rebellen. Zentralafrika ist einfach kein sicherer Standort mehr für wichtige Internetknoten!“
„Ja. Jedenfalls hat es Stunden gedauert, bis ich nachweisen konnte, dass mein Geld dabei flöten gegangen ist, und ich erst die Entschädigung aus dem Wirtschaftsfond Burkina Faso abwarten muss. Aber die haben mir gleich mit Löschung meines Accounts gedroht!“
„Ach, das ist doch nur Getöse! Wegen ein bisschen Rückstand werden die dich nicht gleich löschen. Die wissen doch, dass du ohne deinen VAL-Account nicht leben kannst!“
Sie rollte mit den Augen. „Buchstäblich. Aber was soll's, jetzt ist alles geregelt, und für das nächste Jahr ist mein Leben wieder gesichert. Und bei dir? Wie geht’s dem Chefingenieur des ehrgeizigsten Raumschiffprojektes in der Geschichte der internationalen Raumfahrt?“
„Gut, gut! Wie's aussieht bleibt es bei dem Start in zwei Wochen.“ Er grinste und fügte dann, in Anspielung auf ein historisches Medienwerk, hinzu: „Und dann dringe ich in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat!“
„Naja, oder zumindest zu Monden, die nie ein Mensch zuvor betreten hat.“ Sie lachte und er fügte feixend hinzu: „Außer denen, die in den letzten dreißig Jahren immer wieder mal dort zu Besuch waren. Aber wir sind die ersten die bleiben werden!“
Seine Miene wurde jedoch betrübter, als ihm plötzlich etwas einfiel, das er mit ihr besprechen wollte. „Es gibt allerdings ein Problem. Ich werde dich wahrscheinlich nicht mitnehmen können!“
„Was?“ Sie klang schockiert. „Ich dachte, das sei alles kein Problem?“
„Ja, aber offenbar gibt es da einen Rechtsstreit zwischen CGM Communications und Netlife: Netlife wirft CGM Patentverletzung vor, sie hätten deren VAL-Schnittstelle ohne Entrichtung einer Lizenzgebühr ins Kommunikationssystem der Eurocol One implementiert. Die haben eine einstweilige Verfügung erwirkt, wegen der das Raumschiff vorerst keine Verbindungen zum Netlife-Netzwerk herstellen darf; und bis das Urteil in dem Fall gefällt ist sind wir längst beim Jupiter!“
„Ah, verdammter Mist, dass diese Sesselfurzer auch immer meinen, aus jedem Häuflein Hundekot Kapital schlagen zu müssen!“
„Ja, tut mir Leid.“ Er konnte sich jedoch ein Grinsen ob ihrer Ausdrucksweise nicht verkneifen.
„Mir tut es Leid!“, erregte sie sich. „Hätte ich nur damals den Mehrpreis bezahlt, als meine Krankenversicherung den Unterhalt für meinen kranken Körper nicht mehr übernehmen wollte! Ein virtuelles Leben hat zwar was für sich – man ist lokal ungebunden, altert nicht, kann aussehen wie man will und unterliegt keinen körperlichen Einschränkungen, die man nicht selbst definiert - aber manchmal ist es ein echter Nachteil!“
„Nun, hättest du deinen Körper damals richten lassen, hättest du gar nicht mit gekonnt! Du bist schließlich kein Crew-Mitglied, und du wärst zu alt gewesen, um als Kolonistin angenommen zu werden.“
„Ja, aber ich vermisse die Zeiten, als man einfach ins Badezimmer ging, die Türverriegelungstaste drückte, und schon hatte man Privatsphäre. Neulich schau ich mir das Album an, das du mir zum Jahrestag gemacht hast, und auf einmal seh ich, dass mich da eine fremde IP-Adresse beobachtet! Irgend so ein pickelgesichtiger, 15-jähriger Spanner hat sich da doch glatt durch meine Firewall gehackt!“
„Dem gehören mal auf die gute alte Weise ordentlich ein paar hinter die Löffel!“, entrüstete sich Ton.
„Tja, so ist das halt! Im Internet kann man nie für Privatsphäre garantieren.“
Ton schnaubte. „Ja, das war schon zu Uropas Jugendzeiten so, als man Computer noch mit quietschenden Modems über Kupferdrähte vernetzte.“
Sie lachte wieder. „Ja, das müssen noch Zeiten gewesen sein! Damals hätte ich wohl Jahre gebraucht, um mal kurz von einem Server zum Anderen zu reisen.“
Ton lachte ob dieser naiven Einschätzung. „Sorry Süße, ich will ja nicht sagen, dass du fett bist, aber ich glaube, damals hättest du auf allen Servern der Welt zusammengenommen keinen Platz gehabt!“
„Hey, vorsicht junger Mann!“, rief sie in gespielter Empörung. „Etwas mehr Respekt vor dem Alter! Ich bin immerhin stolze 111 Jahre alt. Werden Sie erstmal so alt, und dann sehen wir weiter!“
„Moment, die 34 Jahre als Programm zählen nicht! Du warst erst 77, als du gestorben bist. Aber gut, selbst da warst du schon ne alte Schachtel.“ Er schnitt ihr eine Grimasse.
„Tja, aber du Kindskopf stehst wohl drauf!“ Dann wurde sie kurz etwas ernster. „Gestorben... das klingt so endgültig! Ich meine ja, mein Körper wurde eingeschläfert, nachdem mein Bewusstsein digitalisiert worden war, aber ich bin höchst lebendig! Ich muss zwar seit zwanzig Jahren meine Hostinggebühren selber bezahlen, weil die Kasse sie nur bis zu nem Alter von 90 Jahren übernimmt, aber so lange ich noch meinen Job hab und dafür aufkommen kann bin ich nicht tot!“
„Entschuldige, war ja auch nicht so gemeint!“, beschwichtigte sie Ton. „Naja, es ist halt so, dass wir uns eben einige Monate nicht werden sehen können. Du weißt ja selbst, wie lange das Gericht für solche Sachen braucht. Immerhin arbeitest du in der EDV von einem.“
„Hm, ja...“ Dann leuchteten ihre Augen plötzlich auf. „Und was, wenn ich ganz mit dir käme?“
„Du meinst...“
„Ja! Downloade mich einfach auf eine Speicherkarte und nimm mich mit!“
„Aber... dann wärst du Jahre lang im Weltall gefangen, in ein und dem selben Computer, mit der selben Hand voll Menschen. Und würdest die meiste Zeit verschlafen, weil ich dich nur nachts oder so laufen lassen könnte, wenn Computerkapazität frei ist. Die ist halt begrenzt auf einem Raumschiff, und bis der Internetbackbone der Jupiterkolonie online ist, und wir mit den übrigen Welten vernetzt sind wird es eine Weile dauern!“
„Das ist schon in Ordnung.“ Sie verschränkte die Arme; ihre Stimme klang noch immer sanft aber bestimmt. „Ich habe nach einem langen Leben als Mensch 34 Jahre im Computer verbracht, und werde weiter leben, so lange ich das will und es bezahlen kann. Da kommt es mir auf ein paar Jahre nicht an. Und ich liebe dich! Ich will diese Zeit auf jeden Fall mit dir verbringen.“
„Ich will aber nicht, dass du...“ Er klang besorgt, als sie ihn unterbrach.
„Aber ich will es. Es ist meine Entscheidung! Das heißt, wenn du mich dabei haben willst.“
Typisch Frau, dachte er. „Natürlich will ich das!“
„Na also.“ Sie entspannte sich und faltete zufrieden die Hände in ihrem Schoß. „Dann sieh zu, dass du die Runtime Environment auf dem Bordrechner installierst, und dann steht dem nichts mehr im Wege!“
„Naja, außer dass die Software 2000 ICs kostet, und du weitere 400 als Auslöse für deine Kündigung bei Netlife zahlen musst.“
„Das ist es mir wert! Und zweieinhalb tausend International Credits werde ich schon noch aufbringen.“
„Das lass ich dich auf keinen Fall allein zahlen!“ Den männlichen Stolz hatten die Menschen auch im 22. Jahrhundert noch nicht überwunden.
„Lass das nur meine Sorge sein!“, meinte sie. „Kümmer du dich nur darum, dass die von der ISA das Framework installieren, und sich als VAL-Host zertifizieren lassen! Sonst wird meine Lizenz nicht umgeschrieben, und wie du weißt erhält man als Digitalisierter ohne anerkannten Wohnsitz keine Zulassung zum Virtual After Life. Ich kann also nicht bei Netlife kündigen, ehe du das mit dem Schiffscomputer festgemacht hast! Hab nur wenig Lust im Datennirvana zu verschwinden...“ Das mulmige Gefühl das sie beschlich war ihrer Stimme deutlich anzuhören.
„Okay, ich werd's gleich morgen erledigen!“ Er schmunzelte. „Die von Netlife werden sich wundern, wenn sie die nächste Marktanalyse machen und sehen, dass als scheinbarer neuer Konkurrent die International Space Administration eine Lizenz hat das Virtual After Life zu hosten.“
„Ja, da werden wir die Geldsäcke wohl etwas durcheinander bringen!“ Ihr bezauberndes Lächeln kehrte zurück, als sie das Thema wechselte. „Also, was sollen wir heute Abend noch machen?“
Er überlegte kurz. „Ich hätte mal wieder Lust eine Runde Ski zu fahren!“
„Brr, nee, zu kalt!“ Sarina schüttelte sich. „Ich wäre für was, wobei man schwitzt und sich richtig bei abreagieren kann.“
„Okay, wie wäre es dann mit...“ Er scrollte durch die Liste, die er soeben aufgerufen hatte. „Squash?“
„Au ja, das haben wir schon ne Weile nicht gespielt!“, freute sie sich.
Need!“, rief er. Sofort erhob sich ein silbernes, helmartiges Gestell aus einer Halterung an der Wand und schwebte zu ihm herüber. Als es ihn erreichte und er danach griff schaltete der Computer die zielgerichteten, supraleitenden Magnete aus. Ton setzte die Neural Interface Device, kurz NID oder umgangssprachlich Need, auf seinen Kopf und klappte den Nackentransmitter hinunter, sodass sich dieser Bügel an seine Halswirbelsäule schmiegte. „Login!“, befahl er.
Im nächsten Moment befand er sich in einem dunklen, völlig leeren Raum, in dem sich lediglich Sarina, er selbst und die in der Luft schwebende Liste von Unterhaltungsprogrammen befanden. Er ging zu seiner Freundin hinüber, umarmte sie und sie küssten sich.
„Also, wie willst du's haben?“, fragte er sie.
„Hart und dreckig, du kennst mich doch!“, entgegnete sie augenzwinkernd.
„Gutes Kind!“, grinste er. „Bedingungen wie immer?“
„Nee.“ Sie rieb sich mit der Hand den rechten Oberarm. „Letztes Mal hab ich mir die Schulter ausgekugelt. Die hohen Sprünge krieg ich einfach nicht so hin. Heute lieber was mit mehr Schwerkraft!“
„Also kein Moon Squash. Dann nach Marsbedingungen?“
„Machen wir's doch einfach mal wie auf Mutter Erde, in einer kleinen, niedrigen Halle mit einem ganzen G Schwerkraft!“, schlug sie vor.
„Also gut.“ Er tippte die entsprechenden Menüicons an. „Squashhalle nach irdischer Norm, Gravitationsbeschleunigung 9,81 Meter pro Quadratsekunde, Luftdruck 1013 Hektopascal, Athmosphärenzusammensetzung 'Standard Erde'...“
„Mach uns aber stärker!“, wandte sie ein. „Unsere Körper sind nicht für so hohes Gewicht trainiert!“
„Ja... sagen wir Kraftfaktor 2,5 und Fitnesswert 20% über real bei mir, beziehungsweise über Trainingsreferenzwert bei dir!“
„Machen wir's so!“
Er bestätigte die Eingaben und um sie herum erschien in Sekundenschnelle eine Squashhalle mit bereit liegendem Ball und Schlägern. Ersteren hob Ton auf und reichte ihn Sarina. „Alter vor Schönheit!“
„Boah, das wirst du bereuen!“ Sie riss ihm den Ball aus der Hand, schnappte sich ihren Schläger und das Spiel begann.

Nach neunzig Minuten keuchten beide schwer und waren verschwitzt aber glücklich. Ton überraschte Sarina daraufhin mit einem neuen Programm, das er erstellt hatte: ein Liebesnest für die beiden. Und so wurde der Sport in die Horizontale verlagert.
Noch später lagen beide nebeneinander kuschelnd im Bett.
„Ton sag mal...“, begann Sarina.
„Ja?“
„Warum fliegen wir eigentlich nach Europa?“
„Weil Europa der einzige verbliebene Himmelskörper in diesem Sonnensystem ist, auf dem sich noch Menschen neu ansiedeln können! Alle anderen sind zu nah an der Sonne oder zu weit weg davon, oder sie haben zu viel oder zu wenig Schwerkraft.“
„Ja, das ist mir klar. Was ich meine ist: warum wollen wir uns da überhaupt ansiedeln?“
„Tja... diese Frage ist sicher schon älter als die Raumfahrt! Warum sind vor fast tausend Jahren die großen europäischen Entdecker zur See gefahren?“
„Das Entdeckertum liegt wohl in der menschlichen Natur.“
„So ist es... Und bei mir in der Familie.“
Sie lächelte in das warme Zwielicht des virtuellen Schlafzimmers hinein. „Ja, stimmt.“
Er fuhr fort: „Für meine Großeltern war es noch das große Abenteuer, den Mars zu besiedeln. Damals waren sie Pioniere, das alles hier noch eine staubige, rote Einöde, auf der kein menschliches Leben möglich war. Aber guck dich hier heute um! Durch das Terraformingprogramm lebt es sich hier inzwischen fast wie auf der Erde, abgesehen von der niedrigeren Schwerkraft. Hier wohnt inzwischen über eine Milliarde leiblicher Menschen, und in zwanzig Jahren werden es doppelt so viele sein. Die Zivilisation hat uns eingeholt. Wie vor siebzig Jahren die ersten Siedler auf dem Mond, mit den heute 50 Millionen Leuten in den Kuppelstädten auf der hellen Seite des Erdtrabanten. Abenteuer gibt es dort nur noch in den dunklen Minenkolonien auf der erdabgewandten Halbkugel. Der Flug zum Jupiter, und die Besiedlung seines Mondes Europa, ist wohl das letzte große Raumfahrtabenteuer in unserem Sonnensystem, und für lange Zeit der letzte neue Lebensraum, den wir bevölkern werden.“
„Ja. Damit wird Geschichte geschrieben werden. Und wir werden die ersten sein... Glaubst du, dass unsere Enkel irgendwann auch mal so über uns nachdenken werden?“, sinnierte sie.
„Unsere Enkel...“
Er sprach es nicht aus, doch ihre Züge entgleisten als sie bemerkte: „Ja... stimmt. Das hatte ich nicht bedacht. Egal wie oft wir uns in diesem Raum treffen, es wird nie etwas dabei heraus kommen!“
„So würde ich das nicht sagen!“ Er streichelte sanft und beruhigend über ihre Seite und ihren Hals. „Soll ich dir das Gegenteil beweisen?“ Er küsste sie in den Nacken.
Ihre Betrübnis wich allmählich einem schelmischen Grinsen. „Dazu bist du doch gar nicht mehr fähig!“
„Ach ja?“ Er kam über sie. „Das wollen wir doch mal sehen...“

Zwei Tage später kehrte er von der Arbeit nach Hause zurück und seufzte: „Wochenende!“
Wieder versank er in den Polstern seines Wohnzimmersofas, als er seine Mailbox abrief. Dann kniff er plötzlich die Augen zusammen: Vor einer eingegangenen Mail rotierte ein silbernes Wappen auf blauem Untergrund. Er deutete darauf. „Aufrufen!“
Eine elektronische Stimme ertönte: „Polizeiliche Benachrichtung für Herrn Dr. Ing. Ton Jeremias Venlow, geboren am 11. Juni 2072. Bitte identifizieren Sie sich durch Fingerabdruck und Netzhautmuster!“
Er drückte seinen rechten Daumen auf das Sensorfeld an der Tischkante und blickte starr auf einen holografisch in die Luft projizierten Markierungspunkt, als seine Netzhaut gescannt wurde.
„Identität bestätigt. Verbindung wird hergestellt.“
Ein Rufzeichen ertönte und der Schriftzug „Verbindung wird hergestellt“ schwebte in silbern umrandeter, blauer Leuchtschrift über dem gläsernen Couchtisch. Dann erschien an seiner Stelle das Abbild eines uniformierten Beamten.
„Guten Abend!“, wurde Ton begrüßt.
„Guten... Morgen?“, fragte er unsicher.
„Hier in Vancouver haben wir fünfzehn Uhr zwei.“, merkte der Polizist an. Erst jetzt registrierte Ton den Bilduntertitel, der den Mann als Commissioner Robert Shelby vorstellte.
„Nun, was möchten Sie denn von mir?“ Ton war sich keiner Schuld bewusst, dennoch machte ihn dieser Anruf vom Nachbarplaneten etwas nervös.
„Kennen Sie eine Sarina Marie Weinmann, geboren am 14. April 2003?“ Die Frage wurde offensichtlich nur pro Forma gestellt.
„Ja, das ist meine Lebensgefährtin. Seit über vier Jahren.“, erwiderte Ton.
„Das deckt sich mit den von Frau Weinmann hinterlegten Angaben, die Sie als zu kontaktierende Person aufführen, sollte ihr etwas zustoßen.“ Der Polizist faltete die Hände. „Es tut mir sehr Leid, Sie vom Tod Ihrer Lebensgefährtin in Kenntnis setzen zu müssen.“
Ton schluckte. Es war, als hätte man ihm eine Faust in die Eingeweide gerammt und würde nun gewaltsam versuchen, seine Därme durch die Bauchdecke hindurch heraus zu reißen. Er verspürte einen dicken Klos im Hals und schluckte mühsam. „Aber wie...“
„Sagt Ihnen die Gruppierung Deus Est etwas?“
Ton nickte schwach. „Ja. Das ist eine Zelle von Anti-Tech-Terroristen. Religiöse Fanatiker.“
Commissioner Shelby nickte seinerseits. „Christen, um genau zu sein. Ihre Taten richten sich insbesondere gegen das VAL-System, da es ihrer Ansicht nach nur ein Leben nach dem Tod geben sollte.“
„Und was haben die...“ Seine Stimme versagte.
„Sie haben ein Computervirus in einen Netlife Server eingeschleust.“, erklärte der Beamte. „Jenes hat die Paritätsdaten der Zuordnungstabellen für die Processingthreads des Servers so verändert, dass das System getäuscht wurde und die realen Informationen für beschädigte Daten hielt, die es anhand der gefälschten Paritätsdaten rekonstruieren wollte und dadurch erst unbrauchbar machte.“
„Und was genau bedeutet das?“ Ton hob seine Stimme. Technisches Gefasel war das Letzte, was der Raumfahrtingenieur jetzt gebrauchen konnte.
„Das bedeutet, dass die Daten ihrer Lebensgefährtin zwar noch intakt sind, jedoch nicht mehr zugeordnet werden können. Wie Sie wissen sind Server seit Langem nur noch virtuelle Maschinen, hinter denen sich eine Cloud aus tausenden von einzelnen Computern verbirgt, auf die Daten und Rechenlast verteilt werden. Die Daten, aus denen Frau Weinmann bestand, sind auf all diesen Computern verstreut. Leider gibt es ohne die Zuordnungstabellen keine Möglichkeit mehr, sie zusammen zu fügen. Mit diesem Virus haben die Hacker von Deus Est offensichtlich eine schwerwiegende Sicherheitslücke des Systems gefunden und ausgenutzt. Eine Schwachstelle im Design.“
Alles Weitere hörte Ton nicht mehr bewusst. Er war mit seinen Gedanken schon längst nicht mehr da. Der Mond Europa erschien ihm auf einmal nicht mehr so reizvoll. Das Eurocol One Projekt war nur noch Nebensache. Das Alles war nicht mehr wichtig. Es zählte nur noch eines: Sie war fort.
Und während er dem Brennen in seiner Brust nachgab und der Verzweiflung erlag begriff er erst, was Sarina neulich gesagt hatte: „Ein virtuelles Leben ist manchmal ein echter Nachteil.“

 

Hallo Seth!

In deiner Geschichte werden einige Probleme angeführt:

Konflikte mit radikalen Technikgegnern, Probleme virtueller Personen mit ihrem Account, die Unmöglichkeit für gemischte Paare Kinder zu kriegen, die Überbesiedlung des Sonnensystems und Lizenzstreitigkeiten zwischen Großfirmen.
All diese Konflikte werden angedeutet, ohne das damit Spannung aufgebaut wird und ich frage mich, worum geht’s denn nun in der Geschichte?

Der Konflikt mit den Anti-Tech-Rebellen wird anfangs erwähnt, dann fallengelassen und erst am Ende (als vollendete Tatsache eines Anschlages) wieder aufgenommen. Aus dieser Bedrohung hätte man mehr machen können, einen roten Faden zum Beispiel, einen Spannungsbogen.

Der Absatz, in dem Wohnzimmereinrichtung und Wandfarben beschrieben werden, ist überflüssig. Er bringt die Geschichte nicht voran, ist nicht originell und auch nicht aufschlussreich. Welche Funktion haben z. B. die schwarzen Furchen?


Gruß

Asterix

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo!

Ja, an der Spannung fehlt es etwas. Mir ging es hauptsächlich um die Darstellung einer detaillierten Zukunftswelt. Eigentlich wollte ich die Geschichte wesentlich ausführlicher gestalten, sodass ich auch mehr Handlung hätte reinpacken können. Jedoch wäre sie zu lang geworden, und ich habe sie unter Zeitdruck als Wettbewerbsbeitrag geschrieben. Verständlich, dass sie bei jenem nicht so gut abschloss. :-]

Den Abschnitt mit der Beschreibung des Zimmers (Wandfarben, usw.) habe ich extra nachträglich eingefügt, da ich Rückmeldungen bekommen habe, dass die Testleser Schwierigkeiten hatten sich die Wohnung vorzustellen, und ich solle doch ein paar Umgebungsbeschreibungen einbauen.
Die schwarzen Furchen hängen mit der Haustechnik zusammen (holografische Projektoren, Positionssensoren, Richtlautsprecher, 3D-Kameras, Mikrophone, und so weiter), was ich aber im Text nicht erwähnt habe.

 

Hallo Seth!

Eigentlich wollte ich die Geschichte wesentlich ausführlicher gestalten, sodass ich auch mehr Handlung hätte reinpacken können.
Den Eindruck hatte ich beim Lesen. Von der Textanlage her schien hier ein größeres Werk geplant.
Ebenso aufgefallen war mir die detailreiche Darstellung der Zukunftswelt. Daran ist ja nichts verkehrt, solange eines dieser Details (oder einer der Konflikte) sich als Orientierungsfaden (Spannungsbogen) durch den Text zieht.
Ich meine, so ganz ohne Spannungselement bleibt, trotz aller Detailliebe, die Geschichte fad.

Gruß

Asterix

 

Ja, da muss ich dir leider recht geben.

Mal schauen, wenn ich Zeit und Muße dazu habe werde ich die Geschichte vielleicht nochmal überarbeiten und erweitern, um sie der ursprünglich angedachten Fassung näher zu bringen. Allerdings wird sie dann wahrscheinlich den doppelten Umfang annehmen, und ich fürchte dann liest sie niemand mehr. :-]

 

Halllo Seth Rock,

stilistisch leidet die Geschichte an Überladung.

Ich will ein paar Beispiele geben:

Automatisch wurde das dämmrige Licht aufgedimmt und der Eingangsbereich erstrahlte in in diffus hellem, kaltweißem Licht mit blau leuchtenden Farbakzenten an den hellgrauen, glatten Betonwänden

Du vewendest eine Unmenge an Adjektiven (und Adverbien), wodurch der Stil ins Barocke geht und die Sätze nicht mehr gut zu geniessen sind.

Prägnanter noch folgendes Beispiel:

Die spärliche Einrichtung bestand aus funktionalen, schlichten Möbeln, die sich in schwarz oder weiß präsentierten

15 Wörter, 5 Adjektive

oder

Klein und zierlich, mit haselnussbraunem, ellenlangem, leicht gewelltem Haar, das sie heute offen trug, und kastanienbraunen Augen, umrandet von aufreizend langen Wimpern

vor lauter Adjektiven wird kaum ersichtlich, was Du mitteilen willst.

Oder schau Dir folgendes an:

Hinter ihm wurde es wieder dämmrig im Flur, während sich stattdessen das Wohnzimmer erhellte: Ein weitläufiger Raum, im hinteren Ende über eine Stufe in einen Essbereich übergehend, wie der Rest der fensterlosen Wohnung in kühlen, hellen Grautönen gehalten, mit leuchtenden, blauen Farbakzenten an den ebenfalls hellgrauen Wänden, welche von zwei schmalen, horizontal rings um den Raum verlaufenden, schwarzen Furchen durchzogen wurden.

Der Satz ist so überdehnt und unzureichend moduliert, dass man am Ende den Anfang vergessen hat. Sicher gibt es Schriftsteller (Thomas Mann, Marcel Proust), die es beherrschen, lange Sätze zu schreiben, aber das ist eine Kunst für sich.

Inhaltlich ist von den drei Themen (Beziehung zu einer Virtuellen, Cybergesetze/-piraten, planetare Kolonisation) wenigstens eines zu viel. Die Thematik der Raumflüge würde ich ersatzlos streichen, es ist überflüssig und verwirrend.

An Deiner Stelle würde ich mich auf die Schwierigkeiten einer real-virtuellen Beziehung konzentrieren, da steckt einiges drin. Leider bleibt die Beziehung der beiden steril, die Dialoge hölzern. Auch die Personen sind nicht besonders lebendig.

Ein Problem, was Du kaum gestreift hast, ist das der virtuellen Identität. Worin besteht diese?
Eine solche Person liesse sich ja nicht nur downloaden, sondern auch back-upen und kopieren. Und überarbeiten, mit anderen virtuellen Personen verschmelzen, und so weiter.
Worin bestände ihre Identität?

Herzliche Grüsse

Steffen

 

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