- Beitritt
- 10.09.2014
- Beiträge
- 1.782
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Sardienen vor Sardinien
Ole und ich haben den ganzen Tag nur gefressen. Kartoffelsuppe mit Bockwurst, Käsestrudel, Frikadellen mit Gurkensalat, aber vor allem herrliche Aprikosen aus Onkel Wims Garten. Die sind jedes Jahr ein Gedicht.
Jetzt sitzen wir beim Abendbrot, leider ohne Appetit. Auch unsere Schwester Marga rührt nichts an. Sie hat eine Gluten-Unverträglichkeit, oder was mit Lactose – sie weiß es noch nicht genau.
„Los, Jungens“, sagt Onkel Wim, „haut rein! Wenn das Baumhaus fertig werden soll, braucht’s kräftige Männer.“
Ich sehe Ole gequält an. Dann sage ich: „Gib mir mal die Ölsardinen rüber.“
Mein Bruder guckt verblüfft und merkt, ich will Onkel Wim den Gefallen tun. Und der freut sich: „Gute Wahl, mein Junge. Alles, was aus dem Meer kommt, ist gut. Sardinen sind übrigens auch das Thema meiner neuen Geschichte.“
Er schreibt Geschichten, nur so zum Spaß – wie er sagt. Aber Tante Hilly meint, dass er sich damit manche Nacht um die Ohren schlägt, statt schlafen zu gehen.
Wir müssen Interesse zeigen. Ich schmiere mir zwei Sardinen aufs Brot, hab aber keine Lust hineinzubeißen. Ole wählt Schmelzkäse und schaltet schnell: „Du schreibst über Sardinen? Das finde ich wahnsinnig spannend. Möchte wirklich gerne wissen, was da passiert!“
„Hm, ich weiß jetzt nich, ob du mich auf’n Arm nehmen willst, um schön Wetter zu machen. Aber wenn’s dich so brennend interessiert, kannst es ja selbst lesen. Weißt doch, wo der Rechner steht.“
Ole und ich würgen an Schmelzkäse und Ölsardinen; Marga bekommt Kuchen vom Nachmittag, total frei von Gluten, Lactose und anderen schädlichen Stoffen.
Da haben wir uns was eingebrockt! Tante Hilly räumt den Tisch ab, Onkel Wim lässt uns nicht aus den Augen: „Schaltet ihn ruhig an. Steht auf standy-by.“
Eigentlich wollten wir fernsehen, aber jetzt müssen wir wohl die Geschichte lesen. Und tatsächlich tönt es: „Könnt mir ja mal erzählen, wie’s euch gefallen hat.“ Und dann noch: „Bin für jede Kritik offen!“
Er holt sich ein Bier und bleibt am Küchentisch sitzen. Ole und mich hat er voll im Visier – im Sommer ist die Schiebetür zwischen Küche und Wohnzimmer weit geöffnet.
Ich hole mir einen Stuhl und rücke neben meinen Bruder. Der hat den Text schon auf dem Schirm. Wir lesen:
Sardienen vor Sardinien
Erzählung von Wim Maschwitz
Sarrwüschen
März 2016
Das Meer weint. Ohnmächtig, fassungslos, verliert es Schlacht um Schlacht. Seine wildesten Kämpfer sind an dieser Festung gescheitert, die schwersten Brecher sind zersplittert und zerstoben. Gurgelnd sind sie untergegangen im Kampfgetöse.
Um nach einem weiteren verlorenen Kampf noch einigermaßen das Gesicht zu wahren, schickt das Meer nun leichte Kavallerie, heitere Schaumkrönchen zieren ihre Kappen. Ein Scherz nur, ein harmloser – von Attacke keine Spur.
Hier an der sardischen Küste stehen sie – graublaue Giganten, ernst und souverän, unbeeindruckt von der Gier des Meeres, seit Anfang der Welt keine Handbreit zurückgewichen.
Ihre Wurzeln verankern diese Titanen im Erdinnern und fast lotrecht steigen sie aus dem Wasser empor. Straff aufgereckt, die mächtigen Schultern aneinandergepresst, bieten sie dem Angreifer Stirn und Brust aus reinem Granit und schauen selbstsicher in die Ferne. Einem schwachen und immer wieder unterliegenden Gegner schaut man nicht in die Augen.
Unter Wasser scheint es friedlicher zu sein.
Auch der schroffste Felsen bietet Schlupfwinkel, kleine Grotten – Verstecke für die, die Schutz brauchen. Was hier alles herumwuselt und fächelt, wedelt und scharwenzelt, flirtet und frisst! Selbst einen versprengten Haufen Sardienen hat es in diese Gefilde verschlagen.
Von ihren Kameraden während des Gemetzels der Thunfische getrennt, konnten sie sich in Sicherheit bringen. Nach überstandener Gefahr vergessen sie leider, den schützenden Klippen Danke zu sagen und haben nichts anderes im Sinn, als ihre Genossen im Riesenschwarm so schnell wie möglich wiederzufinden, um mit ihnen vereint die Reise fortzusetzen.
Der Schwarm ist ihr Leben – und ihr Gefängnis.
Gefahrlos ist das Mitschwimmen in der Menge keinesfalls. Mehrmals am Tag fallen die großen Fresser über die hundert Millionen Sardienen her und reißen und beißen beträchtliche Lücken und Löcher in die wirbelnde dunkle Masse. Ganz gleich, wie blitzschnell sich ihre Formation ändert und wie fintenreich sie blufft – ihre Feinde sind ebenfalls Artisten.
Besonders der mit den ausgeklügelten Netzen. Wo der auftaucht, gibt es kein Entrinnen. Die Meute probiert es im Zickzack, höher und tiefer, im Kreis, ausgierend nach allen Seiten – es bleibt dabei: eingekesselt! Das ist das Ende.
Meist in einer blinkenden Vierergruft, randvoll mit Olivenöl.
Ole sagt: „Er meint unser Abendessen.“
„Sehr scharfsinnig!“, stelle ich fest, „Die Sardinen waren der Köder, uns zum Lesen seines Werkes zu bringen.“
„Eh Mann, gar nicht so ungeschickt!“
„Jetzt fällt mir auch der Presskopf ein, letztes Jahr, zur Weinlese. Die Geschichte mit dem fiesen Metzger. Könnte heute noch kotzen.“
Bevor mir mehr Beispiele für Onkel Wims Methode zur Leseranwerbung einfallen – der Räucheraal zur Birnenzeit zum Beispiel, weil er etwas über einen magischen toten Fisch geschrieben hatte – erinnert Ole an unsere Pflicht: „Komm, wir müssen zu Ende lesen. Er will sicher wissen, wie es uns gefallen hat.“
Also:
„Die Menge ist dumm und blind. Die denken alle nicht – obwohl sie’s könnten.
Das tut nur der Anführer, und der erzählt ihnen immer wieder, dass nur der Schwarm Freundschaft und Schutz bietet, damit sie schön beisammen bleiben und er seinen Herrscherstatus behalten kann. Er behauptet ja stets, von Gott, dem Großen Manta persönlich, in sein hohes Amt berufen zu sein und hin und wieder verdunkelt sich die Wasserwelt, wenn jener mit seinen riesigen Schwingen majestätisch über ihnen seine Bahn zieht. In diesen Momenten wirkt der Sardienenkaiser ganz in sich gekehrt, hält eine große Muschel ans Ohr und behauptet, gerade mit dem Großen Manta in Kontakt zu stehen. Hier allerdings haben die Sardienen uns Menschen etwas voraus: Sie sehen ihren vermeintlichen Gott manchmal tatsächlich.
Ole knufft mich vielsagend – er bezeichnet sich als Atheist – aber ich zischle: „Psst! Wir sind gleich durch.“
„Lasst Euren Sardienenkaiser mit seinen verlogenen Reden allein zurück. Sucht euren eigenen Weg. Schließlich habt ihr nur das eine Leben, und das müsst ihr nicht unbedingt dem Kaiser oder der Ölsardienenfabrik geben.
Passiert Gibraltar und schaut euch einmal im Atlantik um, vielleicht mit Kurs auf Madeira – da ist es auch ganz passabel!
Gez. Wim Maschwitz
„Uff!“, macht Ole, aber ganz leise.
„Fantasie hat er ja“, flüstere ich, „und irgendwie hat er recht, ich meine, dieses Mittrampeln in der Masse.“
Da meldet sich Onkel Wim: „Na, meine Herren, hat’s konveniert?“
Wir schauen uns an. „Kon...was?“
„Konveniert, hab ich gesagt. Ob’s gefallen hat. Kennt ihr das nich?“
„Nee, noch nie gehört.“
„Das kommt, weil ihr nicht lest. Sitzt nur vorm Laptop – und das war’s.
Ich hab mir das alles selbst beigebracht, das mit dem Schreiben. Okay, da ist ein Forum, die helfen einem ’n bisschen. Aber sonst ...“
„Onkel Wim ist da sogar Senior-Mitglied!“, sagt Tante Hilly.
Das beeindruckt mich nicht so tief, aber meine Augen werden immer kleiner. „Könnten wir morgen über die Geschichte reden? Ich bin hundemüde.“
„Und ich erst!“, sagt mein Bruder und gähnt von einem Ohr zum anderen.
Ab in die Betten. Ole macht das Licht aus, es ist stockdunkel. Aber ich denke noch ans Mittelmeer und angle nach dem Kabel von Onkel Wims Globus.
Unser Planet leuchtet auf – und ich vergesse fast das Atmen. Geheimnisvoll glühend scheint die Kugel in der Dunkelheit zu schweben. Ich bin der Astronaut im lichtlosen Raum, der sie zum ersten Mal erblickt, weiß schon viel über sie, wie sie durch’s Weltall düst, immer auf ihrer Spur, finde das unglaublich, dass ich zusehen kann, wie Ole, Marga und ich da drauf sitzen und durch den Kosmos reisen, in der Luxusklasse mit Buttertoast, herrlicher Aprikosenmarmelade und weichen Kissen. Ich gehe näher ran, respektvoll wie an eine zerbrechliche Kostbarkeit, fahre mit dem Finger über Afrika und Asien, über Nord- und Südamerika. Das ist so ungewohnt, beinahe wahr, das hat überhaupt nichts zu tun mit den flachen Karten auf dem Screen – das ist richtig zum Anfassen. Ole hat sich unhörbar rangeschlichen, nur sein Atem verrät ihn, aber das könnten Weltraumgeräusche sein.
Ich taste über Ob und Jenissei, Taiga, Tundra – alles schon gehabt in Geografie. Dann der Pazifik, der Atlantische Ozean. Durch Onkel Wims Tipp mit Gibraltar finde ich sogar Madeira.
Ole klopft mir auf die Schulter: „Bist ’n Ass.“
„Weiß ich.“ Jetzt bekomme ich einen richtigen Stoß ins Kreuz.
Beim Einschlafen denke ich, die Welt ist so unvorstellbar groß nun auch wieder nicht. Wenn ein Dampfer von Bremen nach New York acht Tage braucht, könnte man doch ... und schon flutsche ich durch den Panamakanal. Ole ist auch angefixt: „Ich glaube“, sagt er, „ich geh später mal auf’s Schiff.“
Wir lassen den Globus die ganze Nacht leuchten.
Beim Zähneputzen fällt mir die Strategie meines Onkels ein.
Also klage ich beim Frühstück über Bauchweh, hole den Sardinenrest aus dem Kühlschrank und sage: „Ich glaube, die sind schuld!“. Tue so, als ob ich nach dem Haltbarkeitsdatum suche und mache eine aufregende Entdeckung.
„Onkel Wim“, sage ich, „das Datum ist in Ordnung, aber dass hier ‚Sardinen’ falsch geschrieben ist, finde ich echt peinlich.“