Sarahs Versteck
Mit aller Kraft drückte der Sturm gegen die Fenster der kleinen Vorstadtwohnung. Ununterbrochen prasselte der Regen auf das harte Kopfsteinpflaster. Wolkenbruchartige Regenfälle hatten im Laufe des Tages große Teile der Ortschaft unter Wasser gesetzt, viele Abflüsse waren schon verstopft, so dass sich die Wassermassen ihren eigenen Weg durch die engen Gassen bahnen mussten.
Sarah und Jonas beschlossen den heutigen Nachmittag zuhause zu verbringen.
„…achtzehn, neunzehn, zwanzig, ich komme“.
Das Spiel konnte zum tausendstenmal auf´s Neue beginnen. Im Aufsuchen von Verstecken hatte Sarah noch nie viel Einfallsreichtum bewiesen. Heute wollte sie solange wie möglich ihrem Bruder verborgen bleiben.
Zuerst nahm Jonas sich den Putzschrank vor, dann die Besenkammer. Das waren Sarahs Lieblingsverstecke und nicht selten fand das Spiel schon hier ein abruptes Ende!
„Das sind doch blöde Verstecke“, halte dir doch gleich die Hand vor Augen, und glaub´ ich finde dich nicht“ raunzte Jonas.
Diesmal hatte er Pech. Jetzt vermutete er sie unter dem Kinderbett im Spielzimmer, doch auch hier – Fehlanzeige!
Sollte die kleine Sarah sich tatsächlich etwas Neues ausgedacht haben?
Jonas nahm sich ihr Geheimversteck, den Wäschekorb vor, aber sie blieb unauffindbar.
Nun beschlich Jonas, das merkwürdige Gefühl, dass sie gar nicht mehr in seiner Nähe war. Er wurde unruhig, denn so lange hatte er noch nie nach Sarah suchen müssen.
„Sarah ich gebe dir sogar mein einziges „Ein-Mark-Stück“, wenn du dich jetzt zeigst!“
Es hätte nicht viel gefehlt und Jonas hätte unter den Teppich geguckt. Sarah blieb wie vom Erdboden verschluckt.
Am späten Nachmittag trafen die Eltern. Jonas hatte die ganze Wohnung nach ihrer kleinen Schwester auf den Kopf gestellt. Alle machten sich gemeinsam auf die Suche nach dem Verloren gegangenen Familienmitglied. Ihr Vater schaute sogar im Ofen nach, ihre Mutter auf dem Fenstersims. Die Sorge um Sarah wuchs so sehr, dass sich die Eltern entschlossen die Polizei einzuschalten. Das Mädchen schien vom Erdboden verschluckt worden zu sein.
Die Polizei weitete die Suchaktion aus. In der ganzen Gegend befragten Beamte Passanten nach einem kleinen vermissten Mädchen.
Zwei Tage nach ihrem Verschwinden erschien ihr Foto in den Tageszeitungen. Die kleine Sarah avancierte zum Stadtgespräch.
Vermutungen und Gerüchte machten die Runde.
War sie entführt worden?
Hatten die Eltern womöglich doch etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?
Nach Wochen stellte man die Suche wieder ein. Alle Spuren waren im Sande verlaufen. Es war wirklich sehr viel getan worden. Anliegende Wälder waren durchforstet, der gesamte Landkreis durchkämmt worden. Doch außer der Erkenntnis, dass es keine neuen Anhaltspunkte über Sarahs Aufenthalt gab, herrschte Ratlosigkeit. Rundfunk- und Fernsehstationen berichteten immer seltener über Sarah und auch die Balkenüberschriften der Tageszeitungen, die immer kleiner wurden, verschwanden bald ganz. Es wurde still um Sarah.
Die Polizei mußte damals die Akte „Sarah“ schließen, sie war ganz einfach verschwunden, tauchte auch nicht mehr auf. Zweiundvierzig lange Jahre hielt sie sich versteckt.
Die Herbststürme fegten über die Stadt. Zahlreiche Dächer wurden abgedeckt. Die Windböen erreichten Orkanstärke und trafen mit voller Wucht das „Geisterhaus.“
Jeder Mensch kannte die Geschichte der kleinen Sarah, die in diesem Haus vor vielen Jahren verschwand. Ältere berichteten, dass anfangs noch ein leises Wimmern und Schluchzen in der Nacht zu hören war und so beschlossen die Leute, dass es der Geist der kleinen Sarah gewesen sein musste.
Mit einem ohrenbetäubenden Knall krachte der Schornstein auf den Boden. Eine Orkanböe hatte ihn unzählige Teile zerlegt. Aus ihnen heraus ragte ein skelettierter Leichnam.
Es lassen sich natürlich Vermutungen anstellen, wie die Kleine in ihr todsicheres Versteck gelangte. Sicher ist nur, dass sie letztendlich doch noch gefunden wurde.