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Sarah
Robert Chen öffnete die Augen zum Klang der morgendlichen Straßenbahn, die wie gewohnt vor seinem Apartment in der Kastanienallee 47 vorbeifuhr. Es war 7:15 Uhr. Der Tag versprach strahlend schön zu werden, und das goldene Licht, das durch die cremefarbenen Vorhänge fiel, malte spielerische Muster auf den Parkettboden. Seine Hand tastete instinktiv nach der kleinen Samtschachtel unter seinem Kissen.
Heute würde er Sarah im Café treffen – der Gedanke daran ließ ihn lächeln. Doch zuvor musste er noch seinen Chef Viktor Brauer bei der anstehenden Präsentation in der Agentur beeindrucken.
Die Morgenroutine verlief wie von selbst. Er summte leise unter der Dusche vor sich hin, und beim Anziehen wählte er sorgfältig seine Krawatte aus. Die blaue – Sarah mochte Blau.
Auf dem Weg zur Agentur kam er am Café vorbei. Die Markisen leuchteten einladend in der Morgensonne. Später würde er hier mit Sarah sitzen, reden und lachen. Er strich mit den Fingern über die kleine Samtschachtel in seiner Tasche.
Die Präsentation verlief wie erwartet. Herr Brauer nickte anerkennend, die Kollegen klatschten. Robert nahm es kaum wahr – seine Gedanken waren bereits im Café.
Um Punkt 15 Uhr war der Moment endlich gekommen. Sarah saß bereits an ihrem üblichen Platz am Fenster und schenkte ihm ihr strahlendes Lächeln. Die Nachmittagssonne malte goldene Muster auf ihr Gesicht.
„Du siehst glücklich aus", sagte sie, als er sich setzte.
„Das liegt daran, dass ich das auch bin", erwiderte er.
Es entspann sich wie gewohnt ein Gespräch, das sich um die üblichen Themen drehte: seine Präsentation, ihre Arbeit in der Grafikabteilung sowie ihre gemeinsamen Träume. Die Zeit floss dahin wie Honig – golden und süß.
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Die Straßenbahn erklang. Etwas in dem Kreischen der Bremsen rief eine unbestimmte Erinnerung wach. Robert schüttelte den Gedanken ab, bevor er Form annehmen konnte. 7:15 Uhr. Seine Finger griffen nach der Samtschachtel.
Das Morgenlicht wirkte seltsam gedämpft, als läge ein Filter über der Welt. Beim Anziehen griff er automatisch nach der blauen Krawatte, hielt dann aber kurz inne. Hatte er die nicht bereits gestern getragen?
Die Präsentation verlief ohne Zwischenfälle. Die Reaktionen seiner Kollegen wirkten einstudiert, als spielten sie eine Rolle in einem Stück, das sie schon hunderte Male aufgeführt hatten.
Um Punkt 15 Uhr betrat er das Café. Sarah saß an ihrem Tisch, lächelte ihr strahlendes Lächeln. Aber heute trug sie ein Schmuckstück, das Robert sofort ins Auge stach – eine filigrane Silberkette mit einem Schmetterlingsanhänger.
„Die ist schön", sagte er und deutete auf die Kette. „Neu?"
Sarah berührte den Anhänger. „Die? Nein, die trage ich doch…", sagte sie, stockte, ihre Stirn legte sich in Falten. „Ich meine, die habe ich…" Ihre Finger krallten sich um den Schmetterling.
Eine Straßenbahn fuhr vorbei. Ihr Schatten glitt über Sarahs Gesicht wie ein dunkler Schleier.
„Was wolltest du sagen?", fragte Robert. Seine Finger strichen über die Samtschachtel in seiner Tasche.
„Ich…", begann Sarah, blinzelte verwirrt. „Ich weiß nicht mehr." Sie lächelte wieder, aber etwas stimmte nicht mit diesem Lächeln.
Robert lenkte das Gespräch rasch in andere Bahnen: seine Präsentation, ihre Arbeit, ihre gemeinsamen Träume.
Die Nachmittagssonne fiel durch das Fenster, malte goldene Muster auf ihr Gesicht. Für einen Moment schien das Licht durch Sarah hindurchzuscheinen.
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Die Straßenbahn klang wie ein Schrei.
Robert fuhr hoch, sein Herz hämmerte. 7:15 Uhr. Die Samtschachtel unter seinem Kissen pulsierte wie ein zweites Herz. Als er sie berührte, war der Samt feucht.
Das Licht, das durch die Vorhänge drang, wirkte seltsam fahl. Als Robert sich im Badezimmerspiegel die Krawatte band, meinte er für einen Moment ein anderes Gesicht zu sehen – müder, älter, mit Augen, die zu viel gesehen hatten. Er blinzelte, und sein normales Spiegelbild kehrte zurück. Allerdings stimmte etwas nicht mit seiner Krawatte. Ihre Farbe schien zu verblassen, während er sie betrachtete, als würde die Zeit selbst an ihr nagen.
Während der Präsentation überkam ihn ein intensives Déjà-vu. Seine Worte klangen wie ein Echo, das ihm selbst zuvorkam. Als er den Quartalsbericht erläuterte, bewegten sich die Lippen seiner Kollegen lautlos mit – als würden sie einen Text mitsprechen, den sie längst auswendig kannten.
Er betrat das Café und Sarah begrüßte ihn mit den vertrauten Worten: „Du siehst glücklich aus."
Die Bemerkung traf ihn unerwartet hart. Im Fenster fing er sein Spiegelbild ein – ein bleiches Gesicht mit müden Augen…
Dann traf ihn eine Erkenntnis, die ihm kurz den Atem raubte: Das Café war leer. Vollkommen leer. Keine anderen Gäste, kein Personal. Nur er und Sarah an ihrem Tisch, umgeben von verlassenen Stühlen und unberührten Tassen. War es nicht immer so gewesen?
Sein Blick fiel auf die Kette an ihrem Hals, der silberne Schmetterling schien im diffusen Licht fast zu pulsieren. Eine Frage formte sich in seinem Mund:
„Sarah… von wem hast du diese Kette?"
Sarah öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Ihre Hand zitterte, als sie nach dem Anhänger griff.
„Du hast sie mir geschenkt", sagte sie leise. „An meinem letzten Geburtstag."
Das Café schien sich um sie herum zu verdunkeln. Die leeren Stühle warfen unnatürlich lange Schatten.
Robert erstarrte. Seine Hand umschloss die kleine Samtschachtel.
„Der Ring", sagte Sarah. Ihre Stimme klang jetzt anders. Trauriger. „Du hattest den Ring in deiner Tasche. An jenem Tag, als wir uns nach deiner Präsentation im Café treffen wollten…"
Eine Straßenbahn donnerte vorbei. Ihr Kreischen zerriss die Luft und brachte die Welt für einen Moment ins Wanken.
„Ich kann das nicht", sagte Robert. Seine Stimme brach. „Ich kann nicht…"
„Doch, du kannst", sagte Sarah sanft. „Du musst nur loslassen. Aufhören, diesen Tag immer wieder heraufzubeschwören. Aufhören, dir vorzustellen, wie es hätte sein können."
Das Café begann zu verblassen. Durch die Wände schien grauer Regen.
„Aber dann bist du fort", flüsterte er. „Für immer."
Sarah lächelte. „Das bin ich bereits, Robert. Durchbrich endlich den Kreis. Ich bitte dich."
Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, saß er alleine im Café. Der Ring in seiner Hand war schwer wie die Wahrheit selbst.
Dann traf er seine Entscheidung.
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Robert Chen öffnete die Augen zum Klang der morgendlichen Straßenbahn, die wie gewohnt vor seinem Apartment in der Kastanienallee 47 vorbeifuhr. Es war 7:15 Uhr. Der Tag versprach strahlend schön zu werden, und das goldene Licht, das durch die cremefarbenen Vorhänge fiel, malte spielerische Muster auf den Parkettboden. Für einen Moment meinte er, die Form eines Schmetterlings im Schatten zu erkennen, doch als er genauer hinsah, erschien nur ein flüchtiger Umriss, der sich auflöste. Seine Hand tastete instinktiv nach der kleinen Samtschachtel unter seinem Kissen.
Heute würde er Sarah im Café treffen und ihr dabei einen Antrag machen.
ENDE