Sarah
Meine Mutter hat immer gesagt, nichts geschehe ohne Grund. Und ich glaubte daran. Auch als ich meinem Dad in seinem schwarzen eichenen Sarg gefolgt bin, und alles um uns herum wie aus Eimern schüttete. So, als würde Gott weinen.
Jerry, er hatte volles Haar, durchknetete in diesem Moment meine Brüste. Eine Furche entstand über seinen Augen, was ich persönlich mich Anstrengung und Konzentration verbinde.
Als er fertig war, dankte ich ihm innerlich dafür, dass er mir nicht ins Gesicht sah, sondern einfach zu seinem Tisch rüberging, und die Unterlagen studierte, sodass ich, von der Seite, sehen konnte, wie sich seine Augenbrauen zusammenzogen. Als er sich zu mir drehte, sah ich die Andacht auf seinem Gesicht, die Ernsthaftigkeit, die sich wie eine Faust in meine Magengegend grub.
Nachdem ich mich wieder eingekleidet, und auf das Untersuchungstischchen gesetzt hatte, blieb er noch einen Moment stehen, und stützte sich auf ein kleines Schränkchen auf der anderen Seite des Raums, was ihm eine gewisse emotionale Distanz verlieh, was mir nicht so recht gefiel. Er rieb sich unter seinem Kinn, worauf er dann zu sprechen begann, und während er sprach, dachte ich an die dunklen schwarzen Anzüge, die das Grab meines Vaters umkreist hatten.
„Nun, es ist schlimmer, als das, was die Analysen vor drei Wochen gezeigt haben. Es ist sogar erheblich schlimmer, als wir es uns eigentlich gedacht haben.“
Er wusste, dass ich als seine Patientin nicht darüber im Unwissen gelassen werden wollte, was in meinem Körper geschah, und er wusste, dass es mir aber auch nicht gefiel. Er räusperte sich, und sprach.
„Wie es aussieht, hat die Therapie nicht viel gebracht, und deshalb scheinen die Monate, also, die – ähm, Zeitschätzung meiner Kollegen und die, von meiner Seite, nicht mehr, -nun ja- ganz gültig zu sein…Wir bemühen uns immer noch, die Ursache zu finden.“
Er nahm seine Brille ab, nahm ein Tuch in die Hand, und putzte sie.
Wie er das meine, fragte ich ihn.
„Die sechs Monate scheinen sich verkürzt zu haben. Der Krebs hat mittlerweile mehr an sich gerissen, als was wir durch die Therapie gerettet haben.“
Ich dachte an den Gesichtsausdruck meines Vaters, unter der Schicht aus Glas.
„Das heißt, dein Leben beschränkt sich auf die nächsten drei Monate. Und das, nun ja, mit gewissen Einschränkungen.“
Es ist sechs Uhr morgens. Draußen, auf dem Baum vor meinem Appartementfenster, singen kleine Vögel, preisen den neuen Tag. Die Luft in meinem Zimmer ist herrlich, meine Augen, die sich langsam, aber verkrustet von der morgendlicher Scheiße öffnen, genießen den Übergang von der Dunkelheit meiner Lider hinüber in das gelbliche warme Scheinen der Sonne, das die Möbel meiner Wohnung in ein kastanienbraunes Licht taucht.
Ich stehe auf, und gehe unter die Dusche, lasse die Tropfen meinen Körper hinunterrollen, kullern, mich durch ihre Berührungen aus der Bahn werfen.
Ich stelle die Dusche ab, trockne mich ab, gehe in mein Wohnzimmer, schalte den Rechner an, der dann anfängt, leise wie eine Katze zu schnurren, nicht wie die Festplatte einer Maschine, schalte ihn wieder ab, da ich mir eine Leiter holen muss, um an die oberen Regale meiner Küche zu kommen.
Als ich die Box finde, die ich suche, nehme ich sie mir runter, und legte mich auf die Couch.
Ich nehme die Blätter heraus, die Briefe, von verschiedenen Personen abgeschickt, die aber alle mir gehören, lege sie neben mich, bis ich den herausnehme, den ich suche.
Es ist der in dem beigeweißen Umschlag, dessen Adressat mit grüner Tinte in schnellen, kleksenden Zügen hingeworfen worden war. Ich nehme das Blatt heraus, das schwer in meiner Hand ist, nicht durch seine Masse, sondern durch das Gewicht seiner Bedeutung, die durch die Worte entstehen, die ebenfalls in regelmäßigen kleinen Ausschweifungen über die Linien gestrichen wurden.
Ich klappe ihn auseinander, und mache mir meinen Platz auf der Couch zurecht, beuge meinen Rücken, da ich weiß, dass meine Gesundheit nicht mehr zählt.
Dann beginne ich zu lesen.
Hi Frances,
ich hoffe, nun ja, hoffen ist nicht das richtige Wort, aber, ich schätze, du hast von der
schlimmen Sache mit Sarah gehört. Sie war ja bei ihrem Arzt, und er hat ihr gesagt, dass ihre Chemo nicht so richtig geklappt hat, und dass sie nur noch einige Monate zu leben hat.
Das hat uns alle natürlich schockiert, und sie natürlich am allermeisten, und ich sehe sie oft
im Kingsborrow-Supermarkt einkaufen, und ich sehe, wie es ihr von Tag zu Tag schlechter geht, und ihr die Haare ausfallen.
Aber, nun ja, sie hält es durch, weil sie eine starke Frau ist, und weil sie von ihrer Kindheit an schon schlimme Erfahrungen machen musste.
Sie ist ein starkes Mädchen, und ich sage ihr so oft „guten Tag“ wie es nur geht. In ihren Augen sehe ich manchmal, dass sie weiß, dass es bald ihr Ende ist, und naja, ich wette für Jerry war es am Allerschwersten, seine Frau zu untersuchen, nachdem er schon alle Chiropraktiker in der gesamten Stadt abgeklappert hat, und ihr dann noch sagen zu müssen, dass sie bald sterben
wird.
Ich weiß, dass er ihr hilft, so gut er kann. Mir gibt es auch eine gewisse Kraft, nun ja, mit Sam, du weißt schon. Es gibt mir Stärke, zu sehen, wie ein Mensch vom Angesicht zu Angesicht mit dem Tode tapfer bleibt, und trotzdem noch die Entschlossenheit findet, weiterzumachen, was mir bei Sam hilft, ihn zu pflegen. Er hatte diesen Monat schon wieder einen Schlaganfall,
und weißt du…-
Ich kann nicht weiterlesen, weil sich meine Augen mit Tränen füllen. Sie benetzen meine Wangen, überstreichen die alten getrockneten Tränen mit Neuen, so als würde man mit Farbe eine Wand streichen. Ich solle meine Tränen nie wegwischen, hatte Mama gesagt, hatte es auch gesagt, als sie auf dem Krankenbett mit all den kleinen Schläuchen in ihrem Handgelenk gelegen hatte, und ein Kopftuch tragen musste, um die kahlen Stellen auf ihrem Schädel zu überdecken.
Sie hatte gesehen, wie ich geweint hatte, wie ich mich auf diesem kleinen Krankenhaustuhl aus blankpoliertem Stahl von einem Moment auf den anderen wieder in ein kleines Mädchen verwandelte, das gerade erst seinen Vater verloren hatte.
Ich kann ihre Stimme hören, wenn ich die Augen schließe, höre darin die Schwachheit, die der Krebs in ihr verursacht, und der bei einem Punkt angelangt war, an dem eine Therapie nicht mehr geholfen hatte.
„Wische nicht deine Tränen ab“
Mama glaubte bis zu ihrem Tod an ihren Gott, glaubte noch an ihn, als Papa gestorben war, und musste schließlich doch damit aufhören, ihn in der Kirche zu besuchen, da die Krankheit sie letztlich vollkommen an das Bett fesselte.
Ich öffne meine Augen wieder, und bleibe noch eine Weile auf der Couch sitzen, höre weiter die Vögel singen, höre leise und unverhohlen, den langsam aufkommenden Lärm der Großstadt, der von der anderen Seite des Flusses zu mir herüberweht, gezeichnet von der Musik, den Lärm, den Gerüchen des Verkehrs, den Menschen, die alle vergänglich sind, auch unsere Erinnerung an sie.
Ich denke an Parkinson, und Schlaganfall, denke an Aids, und dann an Krebs, denke an die Menschen dort drüben in der Stadt, die nicht die Zeit schätzen, die sie noch haben.
Ich massiere meine Schläfen, eine kurze Weile lang, stehe dann wieder auf, gehe rüber in mein Wohnzimmer, an dessen Wänden Schatten tanzen, geworfen von den Objekten, die von dem Feuer in meinem Kamin gewärmt werden.
Ich gehe zu dem großen, dunklen, eichgetäfelten Schrank, der das Zimmer beherrscht, nehme mir ein Glas heraus, und schütte darin etwas durchsichtiges Etwas, was mir meine Kehle wärmt, und mein Vorhaben um sein Gewicht erleichtert.
Ich gehe rüber zum Telefon, und bleibe dort stehen, sehe mich um, etwas beschwipst, kann es nicht finden, obwohl ich ganz genau weiß, dass er dort neben mir ist, auf das Holz geschrieben, direkt neben dem Türrahmen, neben dem ich kurz Paul sehe, der sich dort hinstellt, und seine Größe abmisst.
Die Erinnerung verblasst, und mein Blick fällt auf die Nummer, dich ich mustere, und nach einigen Momenten, in denen mein Denken langsam und taub ist, und mir nicht meinen Mut nehmen kann, der sich angesammelt hat, hebe ich den Hörer, und wähle die Nummer, sachte, als hätte jede einzelne Ziffer ihr eigenes Gewicht.
Ich höre ein Klicken, und das bekannte Tuut-Tuut klingt aus dem Hörer, und ich warte, zappele etwas mit der anderen Hand, verlagere mein Gewicht auf die vorderen Fußballen, spitze meine Ohren, räuspere mich, während die Schatten um mich herum tanzen.
Ein weiteres Zeichen ertönt, dann höre ich den Hörer abnehmen, und ihn langsam an ein Ohr drücken. Der Moment ist kurz, aber ich höre, wie sich die Atmung der anderen Person am anderen Ende aus dem Schlaf reißt, und ich höre das schwächliche tiefe Luftholen, dass durch die Stimmbänder zischt.
„Hallo?“ sagt die Stimme, die hölzern, und blechern durch mein altes Telefon klingt, das tausende von Kilometern überbrückt und die wunderbarsten Klänge durch Raum und Zeit übertragen kann.
Die Verbindung knistert leise, als ich den Hörer etwas hebe, ihn neben meinen Mund bugsiere, und in die Muschel spreche, ganz behutsam, so, als sei der Hörer so schwer wie ein Kristall, das zerbersten könne, wenn die Stimme, die noch zittert, und die Luft, die sie atmet, nicht im Einklang
Wären.
„Hallo, Sarah“, sagte ich.