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Sarah und Bilal
Sarah und Bilal
"Papa, - er ist einfach unglaublich süß. Du wirst ihn mögen. - Du musst." Sie grinste zu ihrem Vater herüber, der am Steuer saß. Er antwortete mit einem leicht unsicheren Blick. Er wusste schon, dass dieses flaumige Gefühl im Bauch wohl normal für Väter sein soll, wenn sich die fast ausgewachsene Tochter unsterblich verliebt - oder war es doch eine graue Vorahnung, was jetzt wohl in der Phantasie dieses Kerls vorgeht. "Da!" schrie Sarah und stieß ihren Zeigefinger fast durch die Windschutzscheibe. Ihr Vater trat mit voller Kraft in die Bremse. Ein Bus fuhr hupend vor ihnen vorüber. Als beide wieder ruhig im Sitz saßen, schaute sie ihren Vater an und lächelte spitz: "Bist du auch verliebt?" - "Pass du auf, dass er -" - "Dass er was?" Er presste die Lippen aufeinander. Sie knuffte ihn an der Schulter. "Nimm's nicht so schwer. Alle Töchter werden einmal erwachsen." Er blinkte und hielt den Wagen vor einer Einbahnstraße an. "Wir sind da. Ruf mich an, wenn du heim willst. Ich hole dich ab." - "Papa, Schlomo kann mich auch heimbringen." Seine Gesichtzüge wurden härter. "Muss das sein?" - "Ja!" sagte sie beim Aussteigen, "Tschau" und schon knallte die Tür ins Schloss. Er sank in den Sitz. "Sarah, meine kleine Sarah." Eine Weile schaute er ihr fragend und dann immer mehr träumend nach.
Ein Blitz schlug ihm durch seine Augen mitten ins Gehirn und schüttelte seinen ganzen Körper durch. Seine Brille fiel in den Fußraum. Es war ein unvorstellbarer Knall gewesen. Instinktiv schaute er nach rechts und sah in Steinwurfweite ein Verkehrsschild aus der Luft auf den Boden aufschlagen. "Gott! Ein Bombe", dachte er hektisch, "Richtung City-Palast, Sarah - Sarah!" Er sprang aus dem Auto, rannte fast ohne Bewusstsein in die Richtung aus der das Schild gekommen war, bog um eine Straßenecke und bliebt wie angewurzelt stehen. "Der City-Palast - Um Gottes Willen!" Er blickte auf ein Schlachtfeld. Schreiende Menschen. Autofetzen. Papier und überall Scherben, Blut. Ohne Ziel taumelte er weiter. "Sarah?" Er stolperte über ein Metallstück und musste sich mit einer Hand auf dem Boden abstützen. Dort sah er direkt vor seinen Augen einen abgerissenen Unterarm. Er dachte: "Der Ring ist nicht von Sarah." Dann verlor er das Bewusstsein.
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Etwa 50 km östlich. Ein junge Frau mit schwarzem Kopftuch und einem Jungen an der Hand bog um eine Straßenecke und erstarrte. Ihr Einkaufskorb schlug auf dem Boden auf. Sie drückte sich an eine Wand an der ein Stapel Kisten lehnte und zog ihren Jungen fest an sich heran. "Lass es nicht wahr sein, Allah!" dachte sie und kauerte sich mit ihrem Sohn in den Armen hin. "Bilal, schau da nicht hin, bitte." Er lugte mit einem Auge am Arm der Mutter vorbei auf seinen Vater, der in Steinwurfweite mit zusammengebundenen Händen kniete. Hinter ihm stand ein Soldat und zielte mit einer Waffe auf seinen Kopf. Ein anderer blätterte einen Ausweis durch und musterte ihn von Zeit zu Zeit. "Was machen die mit Papa?" - "Sei still. Vielleicht ist er gleich wieder frei."
Plötzlich herrschte Aufregung. Ein Soldat, der ein Stück entfernt stand, fing an zu schreien und zeigte wild fuchtelnd weiter die Straße hinunter. Drei weitere Soldaten nahmen sofort ihre Gewehre hoch und gingen in Stellung. Der Junge sah einen Gegenstand in seine Richtung fliegen, der mit einem Patsch und einer Stichflamme auf einem Militärjeep aufschlug. Alle Soldaten feuerten zurück. Er dauerte viel zu lange bis es wieder still wurde und mit einem erneuten Zucken schaute der Junge wieder dorthin, wo sein Vater gekniet hatte. Sein Magen überschlug sich. "Papa!" Er riss sich von seiner Mutter los und rannte auf die Stelle zu, wo jetzt sein Vater mit dem Gesicht im Staub lag. "Bilal, - nicht, bitte nicht!" Die Mutter vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ein Soldat legte sein Gewehr an und schrie dem Jungen etwas auf Hebräisch entgegen. Schrie lauter. Der Junge rannte. Die Mutter kniete regungslos im Staub. Ein Schuss zerriss die Luft. Der Junge rannte noch ein paar Meter und ließ sich auf seinen Vater fallen, fasste ihn mit beiden Händen am Kopf und schaute in seine weggedrehten Augen. Der Soldat blickte den Jungen stumpf an und als er sich zu ihm umdrehte, gab er dem Vater einen Tritt. "Das passiert euch allen, wenn ihr so weiter macht". Beide schauten sich tief und angsterfüllt in die Augen. Dann drehte sich der Soldat weg und ging. Sein Kollege haute ihn auf die Brust. "Warum hast du ihn nicht umgelegt?" - "Ich weiß es nicht." - "Hey, nachdem, was der jetzt gesehen hat, wartet er doch nur bis er alt genug ist und ihm jemand Sprengstoff und einen Auftrag gibt. - Verschwind in den Wagen, wenn du das nicht sehen willst." Der Junge war acht Jahre alt.
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Bilal saß auf einem Felsen hoch über dem Meer und schaute gebannt auf die untergehende Sonne. Er bemerkte zunächst nicht, dass sich ihm ein Mädchen von hinten näherte und sich schließlich neben ihm den gleichen Blick aussuchte. Nach einer Weile drehte er den Kopf und sagte: "Sarah, setz dich doch zu mir." - "Du weißt wie ich heiße?" - "Sicher. Ich bin neugierig." - Sie lächelte. "Ich bin zusammen mit deinem Bruder gestorben. Daher weißt du es, nicht?" Er nickte und lächelte zurück. "Setz dich doch. Hast du schon mit ihm gesprochen?" - "Klar, gleich nachdem es passiert ist. Er ist wirklich nett." - "Wie hat er es aufgenommen?" - "Ich denke, er war noch etwas durcheinander - er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass ich ihn kennen lernen will." Bilal schmunzelte. "Das ist echt Said. Er war schon immer etwas eigen. Er hat sich bestimmt gewundert, was passiert ist, nachdem er den Knopf gedrückt hat. Ich denke Allah hat er sich wohl auch ganz anders vorgestellt."
Sarah schaute eine Weile in die verschwindende Sonne und fragte dann nachdenklich: "Meinst du, es würde sich etwas ändern, wenn sie wüssten, dass es hier gar keine Nationen gibt, noch nicht einmal in gleicher Weise Frauen und Männer?" Bilal nickte. "Natürlich! Erst recht, wenn sie erfahren würden, dass hier überhaupt niemand danach fragt, zu welcher Religion man sich gezählt hat und das nur wichtig ist, was man selbst entschieden hat zu tun oder vor allem: nicht zu tun." - "Ich glaube bei vielen würde sich trotzdem nichts ändern." Er blickte sie erstaunt an. "Nicht?" - "Schau meinen Vater an. Der ist völlig am Ende. Er hat gar keine Kraft mehr irgendetwas zu ändern. Er kann nicht mal darüber nachdenken, was passiert ist. Die Schmerzen ziehen ihn vom Leben weg. Er könnte das nie verstehen." - "Ja, meine Mutter betet auch seit Tagen fast ununterbrochen. Sie könnte das mit meinem Vater und mir gar nicht durchstehen, wenn sie den Koran nicht hätte. Und alles, was mit ihm nicht übereinstimmt, ist für sie einfach falsch. So gesehen magst du recht haben. Sie werden bestimmt nichts ändern." - "Sie können nichts ändern und man kann von niemandem etwas verlangen, was er nicht tun kann." - "Aber irgendetwas muss sich doch ändern, ich meine, Menschen, die Menschen töten, das ist doch verrückt? Sie erklären es sogar: das ist ein Soldat, der darf sterben. Das ist ein Kind, das nicht. Das ist ein Mann, der das falsche geglaubt hat und auf der falschen Seite steht, der ist selbst schuld und seine Frau, die nichts gewusst hat, wiederum nicht. Und wenn man jemanden töten will, dann nennt man ihn einen Terroristen. So ein Unsinn." - "Ja, sicher ist das Quatsch. Aber ganz so einfach ist es eben nicht. Unsere Eltern können nichts ändern - wahrscheinlich ihre ganze Umgebung nicht - die sind alle mitbetroffen. Die Frage ist: wer hat den Blick frei genug, wer versteht, was hier passiert. Wer kann hier helfen?"
"Das ist nicht die Hauptfrage, denke ich. Ich meine der Grundfehler ist, dass hier Menschen in zwei Seiten aufgeteilt werden und das stimmt einfach nicht. Wir sind in Wirklichkeit nicht getrennt. Wir sind Menschen! Aber, Sarah, das ist ein Problem, das es nicht nur hier gibt, sondern überall im Leben, bei allen Menschen und nur dort können wir es lösen."