Santana - Spuren späterer Tage
Tanja sah auf die Uhr.
Es waren nur noch ein paar Minuten bis zur verabredeten Zeit.
Die drückende Hitze machte das Atmen schwer, dabei war es Sommer. Sollte, das nicht die schönste Zeit des Jahres sein? Des Lebens?
Tanja lachte bitter.
Das Stück Himmel zwischen den Bäumen hatte eine kränklich blasse Farbe und die Luft lag auf der Erde wie eine dumpfe Decke. Jahrelang hatte sie sich auf diesen Tag gefreut und nun, wo es endlich so weit war, fand sie von dieser Vorfreude kaum noch etwas wieder.
Sie zwang ihre Fingerspitzen in die Tasche, bis sie auf den Umschlag stießen. Früher oder später musste sie ihn öffnen und lesen, was in dem Brief darin stand.
Ja, das musste sie, aber nicht jetzt.
Noch einmal sah sie auf die Uhr.
Ob die anderen kommen würden?
Irgendwo grollte Donner. Ein Gewitter war im Anzug und sie sehnte einen reinigenden Blitz herbei, der die bedrückende Anspannung zerreißen würde.
»Gottverdammte Scheiße!«
Tanja fuhr herum. Eine hochgewachsene Frau stapfte durch den Wald und bei jedem Schritt versanken die Absätze ihrer Schuhe im weichen Boden. Sie trug eine weiße Bluse und einen dunklen Anzug. Der hohe Bund der Hose schmiegte sich an ihre schmale Taille. Blauschwarze Locken standen um ihren Kopf wie eine dunkel schimmernde Wolke.
Nala!
Tanja ließ den Umschlag zurück in die Tasche gleiten.
Obwohl ihr das Leben in den letzten zweiundzwanzig Jahren Falten ins Gesicht gemalt hatte, war Nala immer noch eine Erscheinung, die einem den Atem rauben konnte.
Sie hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr gehabt, aber früher war sie eine ihrer besten Freundinnen gewesen. Ein Teil von Santana.
Nala blieb stehen. »Ich glaub es nicht«, rief sie. »Du bist es wirklich! Und wir sind wirklich hier, nicht zu fassen.« Sie atmete schwer. »Meine Güte, was sind wir alt geworden!«
Sie umrundete Tanja, als wolle sie feststellen, ob auch ihre Rückseite unter dem Lauf der Jahre gelitten hatte.
»Ich hätte niemals an diese Verabredung gedacht. Niemals. Aber gut, wer hätte daran denken sollen, wenn nicht Du? Du hattest immer schon diese Buchhaltermentalität.«
Tanja biss die Zähne zusammen und schluckte an dem hässlichen Geschmack, den sie plötzlich im Mund hatte. Doch dann waren da Nalas Arme, die sie umfingen. »Ich meine natürlich, dass Du immer schon die Beste warst, wenn es darum ging, das Leben zu organisieren, Schatz.« Nala drückte sie an sich, während Tanja der Duft ihres Parfums in die Nase stieg. »Ich wünschte, ich hätte die Dinge immer so gut im Griff gehabt, wie Du.«
Ja, früher hatte sie immer alles im Griff gehabt.
»Ihr habt Euch überhaupt nicht verändert! Kein Stück.«
Sie drehten sich beide um.
»Sanne«, rief Tanja. »Wie schön Dich zu sehen. Ich bin so froh, dass Du gekommen bist.«
Sanne war rund geworden, das konnte auch ihr knöchellanges, weites Kleid nicht verbergen, das über und über mit kleinen weißen Blumen bedruckt war. Ihre Haare, durch die sich graue Strähnen zogen, hatte sie zu einem Dutt aufgesteckt. Aber ihre Augen leuchteten und ihr Lächeln war genau so ansteckend, wie früher.
»Und wie ich mich erst darüber freue, dass Du uns erinnert hast, Tanja. Nala hat doch bestimmt nicht daran gedacht.«
»Nein, habe ich nicht, genau so wenig wie Du. Aber was hast Du denn noch vor, wenn Du mit uns fertig bist? Bringst Du Großmütterchen noch einen Kuchen?« Nala deutete auf den Korb über Sannes Arm. »Pass nur auf, dass der böse Wolf Dich nicht erwischt!«
»Du hast Dich wirklich überhaupt nicht verändert«, sagte Sanne und ließ einen Picknickkorb zu Boden fallen. »Ich habe uns nur ein paar Sachen zu essen und zum Trinken mitgebracht.«
Sie ging in die Knie und, während Nala sie amüsiert beobachtete, breitete Sanne eine Wolldecke auf dem Boden aus und verteilte farblich passende Servietten, Kerzen, Porzellanteller, Bestecke und Gläser. Sie hatte Erdbeeren dabei, die in Schokolade getunkt waren, Brot und selbstgemachte Käsecremes. Zuletzt zog sie eine Flasche hervor. Kicherte »Zur Feier des Tages.«
Nala nahm sie ihr aus der Hand und betrachtete das Etikett.
»Discounter?«
»Immerhin Champagner«, antwortete Sanne beleidigt.
»Aber Schätzchen, DAS ist doch nicht das Richtige für einen Tag wie diesen!«
Nala öffnete ihre große, schwarze Michael Kors Tasche und zog auch eine Flasche heraus, die sie wie einen Pokal in die Luft hielt.
»Spuuumante«, schrie sie in die beginnende Dämmerung. »Warm, ungenießbar, tödlich süß und mit das Beste in meiner Jugend!«
Sie zerrte die Kapsel herunter, ließ den Plastikkorken knallend zwischen den Bäumen verschwinden und eine sprudelnde Fontäne ergoss sich auf düstere Tannen.
Sanne hielt ihr ein Glas hin.
»Ach, komm schon, machen wir es wie damals«, rief Nala und setzte die Flasche direkt an den Mund.
Schluckte. Und schluckte.
»Hier.« Nala reichte die Flasche an Sanne weiter.
»Sanne, Tanja, Nala - Santana - endlich wieder vereint«, schrie Sanne. Auch sie trank nun direkt aus der Flasche und leerte fast den Rest, der noch darin war.
Sanne, Tanja und Nala. Freundinnen, so verschieden, wie Feuer, Wasser und Luft. Aber trotzdem unzertrennlich.
Zusammen waren sie unschlagbar gewesen.
Unverletzlich.
Unbesiegbar.
Genau deshalb war sie hier.
Noch einmal tastete Tanja nach dem verhassten Umschlag, dem der Geist von Santana den Schrecken nehmen sollte.
»Auf die Schönste, die Beste und die Ordentlichste!«, rief Nala und trank. Sie hatte mittlerweile die zweite Flasche geöffnet.
Wieder machte sich ein bitterer Geschmack in Tanjas Mund breit.
Ja, Nala war die wilde Schöne gewesen, die alle Jungs um den Verstand gebracht hatte. Und Sanne die Seele der Klasse. Das Mädchen, dem alle vertrauten, das man fragte, wenn das Leben schwierig wurde und die immer eine Antwort hatte. Und Sie? Was war Sie gewesen. Tanja, die Maus. Tanja, die Unscheinbare, die nichts anderes zustande brachte, als »ordentlich« zu sein. Ordentlich und langweilig. Eine Glasscherbe zwischen Edelsteinen. Sie ließ den Umschlag wieder in der Tasche verschwinden und nahm Nala die Flasche aus der Hand.
Der Sekt prickelte zuckersüß durch ihre Kehle, schwemmte das Bittere weg. Es brauchte wirklich nur das und zweiundzwanzig Jahre verschwanden, wie ein Nebel in der Zeit. Jeder Schluck ließ sie zurückkehren zum Abend nach dem Abiball.
Auch an diesem Abend hatten sie eine ganze Menge Spumante getrunken, als sie sich kurz vor Mitternacht hinter der Schule getroffen hatten, an der Buche, die der Blitz fast in zwei Teile geteilt hätte. Stockfinster war es gewesen, als sie im Schein einer Taschenlampe begannen, die Spuren späterer Tage zu legen. Hoffnungen und Träume in Worte zu bannen.
Die Schule hatten sie abgerissen, aber die verkrüppelte Buche hatte die ganzen Jahre über auf sie gewartet.
»Ich hab uns einen Schlappkaten mitgebracht.« rief Sanne. Sie hielt inne und kicherte, wie wild. »Das muss der olle Spumante sein!«
Sie zog ein Gebilde aus ihrem Korb, das sich als Spaten entpuppte.
»Du bist unglaublich«, sagte Nala, »hast Du auch noch einen Verbandskasten und eine mobile Geburtenstation dabei?
»Hexe«, entgegnete Sanne und lachte. Für einen Augenblick sah sie wieder genau so aus, wie damals.
Damals, als es ihnen unmöglich erschien, dass sie jemals alt werden würden und Menschen mit vierzig jenseits ihrer Welt existierten. Damals, als die Zeit endlos zu sein schien und jede von ihnen überzeugt davon war, immer jung zu bleiben und unsterblich zu sein.
Mit einer heftigen Bewegung riss Tanja Sanne die Schaufel aus der Hand. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht nass werden wollen«, stieß sie zwischen den Zähnen hervor, während sie den Spaten in den Boden rammte.
Als der erste Blitz den Himmel zerschnitt, stieß die Schaufel mit einem dumpfen Geräusch auf etwas Festes.
Keine von ihnen sagte etwas.
Die Truhe war also wirklich noch da.
Tanja legte sie frei und schweigend starrten sie auf die Verbindung aus ihrer Vergangenheit in eine Zukunft, die jetzt ihre Gegenwart war.
»Oh«, schrie Nala und die beiden anderen fuhren zusammen. »Hört ihr das?«
»Nein, was denn?« Sanne sah sich nach allen Seiten um.
»Da, wieder! Ich höre Stimmen. Es sind die Stimmen von damals. Unsere Stimmen.« Nala lachte und setzte noch einmal die Flasche an den Mund.
»Blöde Kuh«, sagte Sanne und lachte auch. »Willst Du mich umbringen?«
Tanja zog den Schlüssel hervor, den sie an einer Kette um den Hals trug und noch einmal wurde es still, als es ihr wirklich gelang damit das Schloss zu öffnen. Drinnen lagen die drei Umschläge, als hätte man sie eben erst dort hineingelegt. Die Zeit hatte ihnen nichts anhaben können.
Tanja blickte auf ihre Handschrift. `Spuren späterer Tage` hatte sie genau wie die anderen auf ihren geschrieben, aber es war die Schrift einer Fremden.
»Lass mich mal«, sagte Nala, schob Tanja beiseite und fischte ihren Umschlag aus der Schatulle. »Ich hab echt keine Ahnung, was ich damals geschrieben habe.«
Nachlässig riss sie das Papier auseinander und zog ein Blatt hervor.
Tanja konnte sehen, dass nur ein einziger Satz darauf stand.
»Ich werde Mendelsohns Magnificat verstehen und Matisse besiegen. Werde meine eigene wunderbare Musik in epochale Bilder malen.» Nala ließ das Blatt sinken.«Meine Güte«, sagte sie.
Ja, so war Nala immer schon gewesen. Niemals kleckern, immer klotzen. Aber Tanja hatte wirklich vergessen, wie großartig Nala gewesen war. Als Musikerin. Als Malerin. Plötzlich sah sie wieder die junge Nala vor sich. Wenn sie mit geschlossenen Augen da saß, eine kleine Falte zwischen den Brauen. Wie sie mit den Bewegungen einer Tänzerin den Bogen ihrer Geige führte und ihre Locken um ihr Gesicht vibrierten, während sie dem Instrument in einem aberwitzigen Tempo wunderbare Tonfolgen entlockte und....
»Blödsinn« Nala zerknüllte das Blatt. »Kleinmädchenträume, mit denen man nichts wird.«
»Außer vielleicht glücklich«, sagte Sanne leise.
»Ich bin auch so glücklich geworden«, entgegnete Nala und nahm noch einen großen Schluck.
»Wofür hast Du Deine Träume denn aufgegeben?«
»Meine Güte. So, wie Du das sagst, könnte man ja meinen, ich sei eine gescheiterte Existenz. Ich bin Anwältin, Fachanwältin für Steuerrecht und eine verdammt bekannte und erfolgreiche Fachanwältin für Steuerrecht, um genau zu sein.«
»Steuerrecht! Na dann.«
»Na dann«, äffte Nala Sanne nach und zog deren Umschlag aus der Box. »Komm Rotkäppchen, lass uns hören, was in Deinem steht.«
Sanne öffnete sorgfältig den Briefumschlag. Das Blatt darin war in engen Zeilen beschrieben.
»Ich werde die Liebe in den Augen meiner Kinder leuchten sehen, eine Liebe, die mich mein Leben lang begleiten wird. Ich werde ihnen hoffentlich Glück bringen und in ihren Seelen werden sie mein Spiegelbild tragen und ...«
»Schade, dass ich die Geige nicht mehr habe«, unterbrach Nala sie. »Jetzt ein paar schmelzende Töne aus dem Off, das wäre es doch.«
Sanne lächelte, als hätte sie Nala gar nicht gehört. »Ja, ich hab mir schon damals nichts sehnlicher gewünscht, als Kinder.«
»Und? Hast Du welche?« fragte Tanja.
Sanne nickte. »Zwei Söhne. Die sind aber schon aus dem Haus. Der eine studiert in Passau, der andere hat auch schon seit ein paar Jahren eine eigene Wohnung.« Sie seufzte. »Ich wünschte, ich hätte auch eine Tochter. Ich glaube, die gehen nie so ganz. Es ist so still bei uns«, fügte sie leise hinzu. »Söhne sind so unabhängig. Man könnte fast meinen, die brauchen einen gar nicht mehr.«
Nala stöhnte.
»Warum bist Du eigentlich so ätzend geworden?«, fuhr Sanne sie an.
»Warum bist Du eigentlich so frustriert geworden?«
»Das bin ich doch überhaupt nicht. Was redest Du denn da?«
»Du hörst Dich an, wie eine von diesen Frauen, die nichts mehr mit sich anzufangen wissen, wenn sie keine Kinder mehr betüdeln können. Die sich dann die Sinnfrage stellen und keine Antwort finden, weil sie jahrelang ganz vergessen haben, sich um sich selbst zu kümmern.«
»Und Du hörst Dich an, wie eine von diesen Frauen, die sich jahrelang nur um sich selbst kümmern, bis sie merken, dass sie dabei ganz vergessen haben, jemand anderen an sich heranzulassen. Bist Du Dir sicher, dass Du nicht alles verraten hast, was Dir einmal etwas bedeutet hat?«
»Im Gegensatz zu Dir, Maria Magdalena? Mir sind Frauen immer schon auf die Nerven gegangen, die glauben, sie sind heilig, bloß, weil sie ein Kind geboren haben. Ĭch hoffe nur, dass Dein Mann Dich nicht so langweilig findet, wie Du wirkst.«
»Lieber das, als eine kalte Hülle. Vielleicht hast Du Recht und mein Mann findet mich manchmal langweilig. Aber wir sind eine Familie und darauf bin ich stolz. Wir gehören zusammen. Ich bin mir ganz sicher, wenn es hart auf hart kommt, kann sich jeder von uns auf die anderen verlassen. Ich will für Dich hoffen, dass es irgendwo auf dieser Welt jemanden gibt, in dessen Leben Du mehr Spuren hinterlassen hast, als den eines kurzen, schönen Scheins.«
»Es war ein Fehler«, schrie Tanja. »Ein Riesenfehler.«
Die anderen beiden zuckten zusammen.
»Ich hatte gehofft, dass irgendwo noch etwas übrig ist von Santana. Aber Nala hat Recht. Das waren alberne Kleinmädchenträume.«
Tanja griff nach dem letzten Umschlag in der Truhe und zerriss ihn ungeöffnet in kleine Stückchen.
Wieder grollte es drohend. Dunkle Wolken legten sich über das letzte Licht des Tages. Weiße Schnipsel regneten auf den Waldboden.
»Mach das nicht«, rief Sanne.
»Das Ding ist völlig unbedeutend. Wie alles", rief Tanja, "Ich hab irgendwas Banales da rein geschrieben. Irgendwas Oberflächliches, das auf jeden gepasst hätte. Ich war nicht mal imstande einen anständigen Lebenstraum zu haben. Ich wollte immer nur so werden, wie Ihr. Jemand, der sich mag. Der weiß, wer er ist, was er will. Ein Teil von Santana eben.«
»Aber das warst Du doch«, sagte Sanne, »das bist Du doch immer noch.«
»Santana«, schnaubte Tanja, » was für ein Blödsinn. Was ist denn davon übrig? Drei Fremde. Was hab ich Euch bewundert. Sogar beneidet. Für Eure Schönheit, für Eure Selbstsicherheit. Aber Ihr habt Euch genau so was vorgemacht, wie ich. Nichts ist geblieben, außer der schnöden Realität. Keine Musik, keine Bilder, auch keine Spiegelbilder in irgendwelchen Seelen. Wir sind Frauen, die das, was sie mal werden wollten, längst vergessen haben. Oder sagen wir besser Frauen, die ihre Träume den Anforderungen des täglichen Lebens geopfert haben. Santana ist gescheitert.«
Ein Blitz zuckte auf, als wolle er den Schlusspunkt unter Tanjas Worte setzen.
»Hier! Das sind Spuren späterer Tage«, schrie Tanja und zerrte den Umschlag aus ihrer Tasche hervor. Hielt ihn den anderen hin, wie eine Anklage.
Ihre Hand zitterte. »Ich hab von meinem Arzt verlangt, dass er es aufschreibt. In einfachen Worten. Ich wollte kein Fachchinesisch. Einfach nur wissen, ob ich sterben muss. Wann ich sterben muss.«
Stille senkte sich auf alles. Kein Vogel gab mehr Laut und selbst der Donner war verstummt.
Sanne und Nala schienen wie erstarrt.
Doch dann trat Sanne hinter Nala. Legte ihr beide Hände auf die Schultern und schob sie ein Stück nach vorn. »Hau ihr eine rein.«
»Was?«, riefen Tanja und Nala gleichzeitig.
»Ja, schlag sie, aber so richtig feste. Sie hat es verdient. Ich hab das mal in einem Film gesehen. Hat mir gut gefallen. Wut ist die ärgste Feindin der Angst. Hau ihr eine rein, dann wirst Du wütend. Das wird helfen.«
»Bist Du bescheuert?«, rief Nala aufgebracht.
Tanja spürte, wie ihre Mundwinkel zuckten.
»Sie ist egoistisch, selbstsüchtig und kalt, wie eine Hundeschnauze.«
»Du bist bescheuert! Warte.« Nala löste sich aus Sannes Griff und ging hinüber zu ihrer Tasche. »Ich hab hier was, damit mach ich Dich fertig.« Ihre Hand verschwand und Tanjas Nackenmuskeln spannten sich. Das hatte sie nicht gewollt.
Ohne Sanne aus den Augen zu lassen, zog Nala langsam die Hand wieder hervor und das Papier des Umschlags knisterte, als Tanja ihre Finger zusammenpresste.
Nalas wandte sich zu Tanja.
Hielt einen kleinen, weißen Stoffhasen in die Luft.
Das heißt, er war früher einmal weiß gewesen. Jetzt war sein Fell dreckiggrau und an seinem Bauch war das Kunstfell bis auf den Stoff darunter abgescheuert.
»Kennst Du den noch?« fragte Nala.
Der kleine Hase verschwamm vor Tanjas Augen, als sie sich mit Tränen füllten. »Natürlich kenn ich den noch«, stieß sie hervor. »Den hab ich Dir vor Deinem ersten Konzert als Glücksbringer geschenkt.«
»Ja, hast Du. Und seitdem hab ich den immer bei mir. Bei schwierigen Verhandlungen stell ich den auf den Tisch. Ist schon mein Markenzeichen geworden und die Kollegen nennen mich `Hasi`. Aber nur hinter meinem Rücken.« Nala lachte. »Ich glaube, das ist das Einzige, was die wirklich an mir mögen. So viel dazu, wie unbedeutend Du warst.«
»Ich setz noch einen drauf«, sagte Sanne. Sie ging hinüber zu ihrem Picknickkorb. »Kommen wir zu Deinen vergessenen Träumen, Tanja.« Sie zog ein Buch hervor, über und über mit verblichenen orangen und gelben Plastikblumen beklebt.
»Das glaub ich nicht. Eins von den Prilbüchern«, rief Tanja.
Die Prilbücher waren die Tagebücher von Santana gewesen. Sie hatten Fotos hinein geklebt, Liedtexte reingeschrieben oder festgehalten, was passiert war.
»Genau. Eins von den drei Prilbüchern, die ich noch habe. Lies sie und Du wirst feststellen, dass Du eine ganze Menge Träume hattest. Hier drin kannst Du einige von ihnen wieder finden.«
Tanja spürte ein wohlig warmes Prickeln, das sich von ihrem Bauch aus in ihrem Inneren verbreitete.
»Das ist noch nicht alles«, sagte Nala und griff noch einmal in die scheinbar unerschöpfliche Tasche. Sie förderte einen kleinen Kasten hervor.
»Das glaub ich nicht«, sagte Sanne. »Ein Kassettenrekorder.«
»Ganz genau. Ein guter, alter Kassettenrekorder.« Nala drückte auf eine Taste und Gitarrenriffs ertönten. So blechern, als hätte man sie in eine Büchse gesperrt. Dann das Piano, wie eine Hammondorgel. Ein Schlagzeug. Rasseln. Sie alle kannten die Melodie. Nala begann leise zu summen. Sanne fiel ein. Sie wiegten sich in den Hüften, tanzten auf Tanja zu.
»We are three magic women«, sang Nala. «Yes, I got three magic women.«
»Oh yeah, three magic women...« fiel Sanne ein, »Santana gescheitert«, schnaubte sie, »Was für ein Blödsinn.«
Das Gewitter hatte sich verzogen. Die Nacht hatte sich klar und kühl über den Wald gelegt. Sie saßen auf der Decke im Schein der Kerzen, tranken Sannes Champagner und hörten die Musik von Santana.
Unter dem Rekorder lag Tanias Umschlag.
Irgendwann - bald - würde sie ganz in Ruhe lesen, was darin stand.
Aber sie würde es nicht alleine tun.