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Santa Claus is coming to Town
Hamburg, Montag, 22.12.2003, 03:42
Das Handy klingelte unaufhörlich neben seinem Kopf auf dem Nachttisch und zerrte ihn aus dem Reich der Träume. »Hmmm?« brummte er in den Apparat, nachdem er eingesehen hatte, dass er auf jeden Fall als Verlierer aus dem Durchhaltewettstreit zwischen ihm und Handy hervorgehen gehen würde. »Verdammt, Arwed, schmeiß' Dich in Deine Klamotten und komm' sofort zum Ochsenzoll in die Forensische!«
Ohne zu zögern folgte er der barschen Anweisung seines Vorgesetzten. Der Tonfall war ihm nur allzu gut bekannt, da war es besser ohne weitere Nachfragen zu spuren. Also schnappte er sich Hemd und Hose vom Vortag und verzichtete auf Dusche und Kaffee. Er verließ das Haus ohne seine Frau zu wecken, setzte sich in seinen Dienstwagen, um schnellstens nach Langenhorn, dem Stadtteil Hamburgs, in dem sich das Klinikum befand, zu gelangen.
Als er dreißig Minuten später an der Einfahrt zum Klinikum den Pförtner um Einlass bat, bemerkte er bereits ein für diese Uhrzeit ungewöhnliches Treiben auf dem Gelände. »Was in Gottes Namen ist jetzt bloß wieder passiert?« fragte er Theo Gerwald, seinen Vorgesetzten, als er kurz darauf am Empfang in der forensischen Abteilung vor ihm stand. »Santa Claus ist wieder auf Tour!« entgegnete ihm Theo trocken.
Arwed schluckte und wurde blass. Santa Claus war seit drei Jahren in der geschlossenen Psychiatrie inhaftiert und wurde unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen unter Beobachtung gehalten. Nicht streng genug, wie es ihm nun schien. Klaus Obrecht, Santa Claus' richtiger Name, erlangte vor drei Jahren traurige Berühmtheit, als er zum zweiten Mal zu Weihnachten seinen Trieben erfolgreich nachgehen konnte. Als Weihnachtsmann verkleidet stattete er zwei Familien zu Heiligabend einen Besuch ab, den diese nicht überlebten. Mit unvorstellbarer Grausamkeit metzelte er seine Opfer nieder und schmückte mit deren Eingeweiden und Körperteilen den Weihnachtsbaum. Es war der damals eingesetzten Soko stets ein Rätsel geblieben, wie er sich nach der ersten Tat so lange verbergen konnte, um das gleiche Massaker im Jahr darauf am nächsten Heiligabend erneut anzurichten. Glücklicherweise ging er dem Netz der Verfolger danach nicht durch die Maschen. Da die Beweislast eindeutig war und sein Geisteszustand als 'nicht zurechnungsfähig' diagnostiziert wurde, steckte ihn das Gericht auf schnellstem Wege in die geschlossene Anstalt. Wenig später stellte sich heraus, dass er unter einer Spaltung der Persönlichkeit litt, wobei die gewaltbereite Seite seines Ichs anscheinend für immer die Überhand über ihn erlangt hatte.
»Wie hat er es geschafft hier auszubrechen?« fragte Arwed seinen Chef.
»Die billige Art, Arwed. Die ganz billige Art. Er hat einfach gegen kurz vor zwei einen Pfleger gerufen und ihn bewusstlos geschlagen. Danach zog er sich dessen Kleidung an, nahm die Schlüssel und ist ganz einfach hier 'raus spaziert.«
»Dreck! Ist das hier Santa Fu oder was? Ich dachte, hier sind die wirklich üblen Irren eingesperrt, auf die mehr als nur ein Auge geworfen wird.«
»Es sind keine Irren, Arwed! Diese Menschen sind krank.«
»Krank oder nicht krank, in zwei Tagen ist Heiligabend und Santa Claus wird sich bestimmt nicht seelenruhig in seinen Rentierwagen setzen, um seine Runden über der Stadt zu drehen.«
»Nein, er wird uns eher eine schöne Bescherung bereiten, wenn wir ihn nicht schleunigst wieder einsperren.«
»Uns? Denk' lieber an die Menschen, die demnächst in Einzelteilen zerlegt am Tannenbaum in irgendeiner guten Stube hängen werden.«
»Fuck! Lass uns anfangen zu arbeiten...«
Sie arbeiteten auf die Schnelle einen notdürftigen Plan aus. Da sie sich sicher waren, dass Santa Claus wieder in Hamburg zuschlagen würde, sollte jeder verfügbare Polizist jeden kostümierten Weihnachtsmann in der Stadt ersetzen. Dabei ging es nicht nur um die Weihnachtsmänner in den Kaufhäusern und auf den Märkten, sondern auch um die Kostümverleihe und Agenturen, die Weihnachtsmänner vermitteln. Die mussten ebenfalls irgendwie überwacht werden. Sorgen bereitete ihnen diejenigen, die selbstständig waren und sich eigenständig um Aufträge bemühten. Die, die alljährlich zur Bescherung in der Wohnstube unter dem Tannenbaum die Geschenke für die Kleinen auspackten und ihnen so ein unvergessliches Erlebnis bereiteten. Aber auch dafür würden sie eine Lösung finden, so hofften sie zu mindestens. Ihnen blieben noch knapp drei Tage, um Klaus Obrecht dingfest zu machen.
* * *
Hamburg, Dienstag, 23.12.2003, 11:08
»Hallo Rita? Hier ist Margit. Ich wollte nur nochmal schnell durchrufen, um ein gemütliches Schwätzchen mit Dir zu halten. Ich bin schon seit sechs Uhr dreißig am Plätzchen backen, Du weißt, sie müssen immer frisch sein, ansonsten dreht mein Schnucki durch, und ich muss einfach mal 'ne Pause machen.«
Margit, 38, hatte zwei Töchter im Alter von sechs und vier Jahren, und war seit sieben Jahren verheiratet. Sie hatte ihren Mann in einem Cluburlaub auf Kuba kennen gelernt, sich Hals-über-Kopf verliebt und sieben Monate später geheiratet. Als Yvonne, die jüngste, auf die Welt kam, lief es bereits nicht mehr allzu gut zwischen ihr und ihrem „Schnucki“. Streitereien waren fast an der Tagesordnung und das Zusammenleben war zu einer lästigen Gewohnheit geworden. Trotzdem hingen sie irgendwie noch aneinander und waren stolz auf ihre kleine Familie. Jedenfalls glaubte sie das.
»Hör mal, Rita, als mein Schnucki neulich Abend so plötzlich in die Garage gegangen ist, als Ihr gerade zu Besuch bei wart...« Rita stockte. »Nehmt ihm das nicht übel, ja? Er ist in letzter Zeit häufiger in der Garage und geht dort seinem neuen Hobby nach. Sein Job macht ihm echt zu schaffen, da geht er halt manchmal lieber in die Garage, um Ruhe zu finden und abzuschalten. Ich bin sicher, das legt sich wieder, mach Dir keine Sorgen. Außerdem freut auch er sich schon wie die Kinder auf Weihnachten. In diesem Jahr möchte er uns eine richtige Überraschung bereiten, wir sind schon alle super gespannt, weißt Du?«
Nach etwa zwanzig Minuten beendete Margit das Gespräch mit ihrer Freundin und widmete sich wieder ihren Plätzchen. Yvonne saß währenddessen auf der Küchenbank, sah ihre Mutter freudestrahlend mit teigverschmierten Gesicht an und winkte mit den mehligen Händchen.
* * *
Hamburg, Dienstag, 23.12.2003, 14:36
Peter konnte es nicht fassen. Statt wie gewohnt in der Wache am Schreibtisch zu sitzen, saß er als Weihnachtsmann verkleidet in der Spielwarenabteilung von Karstadt in der Mönckebergstraße. Seine Gedanken kreisten um Klaus Obrecht, Santa Claus, wie ihn die Boulevardzeitungen damals getauft hatten. Der lief wahrscheinlich gerade irgendwo in Hamburg herum und würde am Heiligabend wieder eine Familie auslöschen wollen. Da dieser Freak wohl so etwas wie ein durchgeknallter Terminator in roten Umhang, Rauschebart und Zipfelmütze war, sollten alle in eben diesen Kostümen das Geschehen observieren und sofort zugreifen, falls irgendetwas verdächtiges geschehen sollte. Vor drei Jahren hatte Santa Claus einen Mietweihnachtsmann überfallen und ihm das Kostüm abgenommen, daher diese in seinen Augen völlig schwachsinnige Aktion. Die Hauptsache war, dass die Presse dicht hielt. Niemand wollte den Menschen Weihnachten verderben und sie in Angst und Schrecken versetzen. Peter war sich sicher: ein drittes Mal würde Santa Claus niemandes Familie als Weihnachtsschmuck verwenden.
Und was, wenn der Irre zu seiner Familie käme?
Er hatte keine Bedenken, dass er „Besuch“ von ihm bekommen würde. Er hatte vor, wie in den letzten beiden Jahren, selbst den Weihnachtsmann zu Hause spielen, hatte langjährige Erfahrung auf der Streife sammeln können und sein Haus glich einer Festung. Jeder Besuch ist abgesagt worden, so dass dadurch noch der seiner Meinung nach glückliche Zustand eintreten würde, den seine Frau und er sich schon seit Jahren gewünscht hatten. Sie würden endlich alleine und in aller Ruhe den heiligen Abend des Jahres zusammen verbringen können. Keine Verwandten, keine Nachbarn, keine Freunde, nur der traute Familienkreis.
Dieser Gedanke stimmte ihn wieder heiter und er wand sich lächelnd einem kleinen Jungen zu, der ihm einen Wunschzettel zustecken wollte.
* * *
Hamburg, Dienstag, 23.12.2003, 19:17
Klaus Obrecht sackte in einem Gebüsch des Volksparks zusammen. Er war am Ende und zitterte am ganzen Leib. Als es vor einiger Zeit dunkel geworden war, hatte er sich aus einem Altkleidercontainer einen dunklen Mantel fischen können, mit dem er die auffällige helle Wärterkleidung des Klinikums verdecken konnte. Stets ist er seit seinem Ausbruch durch Glück unerkannt vorwärts gekommen. Die Pressesperre, die ihm natürlich nicht verborgen geblieben war, verschaffte ihm dabei einen nicht unbeträchtlichen Vorteil. Die Leute hatten sein Bild, das vor drei Jahren von den Titelseiten aller Tageszeitungen prangte, längst verdrängt. Außerdem zierte in weiser Voraussicht nun ein gepflegter Vollbart sein Gesicht.
Schon Monate zuvor war ihm klar geworden, dass er rechtzeitig zu Heiligabend heimkehren musste. In sein Heim, zu seiner Familie.
Nie war ihm bewusst gewesen, wie sehr ihm seine Familie am Herzen lag. Er liebte sie so sehr, dass es ihn erdrückte. Der Druck war fast unerträglich und sein Geist schrie nach Erlösung, daher konnte ihn nichts in seinem Gefängnis halten. Ein Geschenk würde er auch noch besorgen - ein siebenteiliges Messerset im Block von Zwilling sollte es schon sein. Die Herzen der Lieben würden bei dem Anblick höher schlagen, wenn sie gemeinsam den Tannenbaum schmücken und er „Lasst uns froh und munter sein“ anstimmen würde. Speichel rann ihm bei diesem Gedanken unbemerkt aus seinem linken Mundwinkel.
* * *
Hamburg, Dienstag, 23.12.2003, 23:58
»Mach Schluss, Peter. Geh' nach Hause. Die Ablösung war schon und du bist seit 15 Stunden auf den Beinen.« Arwed versuchte seinen Kollegen und langjährigen Freund Peter davon zu überzeugen, sich ein paar Stunden auszuruhen, um am nächsten Tag, dem entscheidenden Tag, wieder fit zu sein.
»Ist ok, Arwed. Ich kann mich ehrlich gesagt auch kaum noch wachhalten. Ich werd' mich für 'ne Weile auf's Ohr legen.«
»Gut, mach das. Sei morgen wieder pünktlich auf dem Revier, es darf uns morgen nichts schiefgehen.«
»Wir werden den Dreckskerl erledigen, Arwed. Nochmal macht er das nicht, eher werde ich ihm die Rute in sein verkommenes...«
»Beruhige dich. Du bist zu aufgedreht, trink' bloß keinen Kaffee mehr. Dieses Jahr wird Santa Claus keine Geschenke verteilen! Und vergiss nicht deine neue rote Uniform.«
Als sie das Gespräch lachend beendet hatten, drehte Arwed den Fahrersitz seines Wagens nach hinten und wollte sich ebenfalls ein paar Minuten Auszeit gönnen. Gern wäre auch er nach Hause gefahren, damit seine Frau ihn wenigstens vor Weihnachten zu Gesicht bekäme. Den Heiligabend unterm Tannenbaum konnte er sich abschminken, schon wieder mal. Auch wenn sie viel Verständnis für seinen Beruf mitbrachte, so war Heiligabend doch immer ein heikles Thema. Sicher, auch sie würde Klaus Obrecht lieber hinter Gittern sehen, aber könnten sich nicht ausnahmsweise mal andere darum kümmern? Den Gedanken und Argumenten seiner Frau im Geiste folgend, nickte er ein und übersah den Mann, der auf der anderen Straßenseite, die helle Kleidung unter dem dunklen Mantel versteckt, vorüberschlich.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 06:33
Peter nahm das Weihnachtsmannkostüm, das seine Frau noch nachts gebürstet und gebügelt hatte, und schlich aus dem Haus. An Heiligabend war es Tradition, dass lange geschlafen wurde, so waren die Kinder wenigstens nicht den ganzen Tag lang wie aufgedreht.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 07:24
Arwed war bereits seit 6 Uhr morgens auf dem Revier, um die Einsatzpläne für den kommenden Tag vorzubereiten, als Peter samt dem Weihnachtsmannkostüm dort eintraf.
»Morgen Arwed. Hast Du auch ein paar Stunden Schlaf finden können?«
»Hi Peter. Ich habe ein wenig im Auto schlafen können, wenn man das als Schlaf bezeichnen kann. In meinem Traum sah ich Santa Claus, wie er heute labend vor unserer Tür steht, mich überwältigt, fesselt und vor meinen Augen meine Frau zerstückelt und mit den Einzelteilen den Tannenbaum schmückt. Danach trennte er meinen Kopf vom Körper und setzte ihn als Spitze oben auf den Baum. Und das erschreckende war, dass ich noch alles mitbekommen habe und mit ansehen musste, selbst als mein Kopf bereits auf dem Baum steckte. Das Schwein hat sich vor den Tannenbaum gestellt, das Messer in der Hand, und fing an „Lasst uns froh und munter sein“ zu singen.«
»Verdammt, du bist ja völlig mit den Nerven zu Fuß. Meinst du, dass wir den Kerl heut' erwischen, bevor er wieder zuschlagen kann?«
»Ganz sicher, Peter. Ganz sicher...«
Doch so sicher war sich Arwed nicht. Die Angst vor Versagen steckte jedem in den Knochen, auch ihm.
Nachdem er alle Kollegen für die Observationen eingeteilt hatte, ging er zum Büro seines Chefs Theo Gerwald. Auf sein Klopfen folgte von drinnen ein murrendes »Herein!«. Er öffnete die Tür und sah Theo hinter dem Schreibtisch sitzend, den Kopf auf den Händen gestützt.
»Wie sieht es aus, Arwed?« fragte er ihn in einem desillusionierten Tonfall.
»Ich weiß nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.«
»Wieso nicht?«
»Kennst Du das Gefühl, wenn du kurz vor der Abreise in den Urlaub bist und dir auf einmal in den Sinn kommt etwas vergessen zu haben?«
»Drück' dich präziser aus!«
Arwed setzte sich und fing an zu erklären. »Stell' dir folgendes vor: es ist eine Stunde vor Abflug in deinen Jahresurlaub. Es geht nach Australien. Du willst eine Outbacktour machen. Also ist es extrem wichtig, dass du an alles gedacht hast, bevor es losgeht. Trotz einer Liste, die du bereits zehnmal durchgearbeitet hast, bist du aufeinmal der Meinung, dass du irgendetwas vergessen hast. Schließlich schüttelst du diesen Gedanken ab, da du dich ja seit langem hervorragend vorbereitet hast und garantiert nichts fehlen wird. Nach zwei Tagen im Outback stellst du dann in der gottverlassenen Einöde fest, dass dir Ersatzbatterien für den GPS-Empfänger fehlen. Das hast du einfach nicht auf dem Zettel gehabt, weil die Batterien im neuen Gerät zwei Jahre halten sollten. Leider haben sie trotzdem gerade den Geist aufgegeben und dir wird klar, dass du jetzt ziemlich am Arsch bist.«
»Und du meinst, uns fehlen auch die Ersatzbatterien?«
»Schlimmer. Ich fürchte, wir haben noch nicht einmal den GPS-Empfänger.«
»Hmmm. Hast du denn irgendeine Idee, was wir vergessen haben könnten?«
Arwed dachte kurz nach. »Keine Ahnung, wir haben meiner Meinung nach alles bedacht. Santa Claus wird in Hamburg zuschlagen. Um irgendwo anders hinzugelangen, hat er erstens keine Zeit und zweitens kein Geld. Außerdem besagt das Profil der Psychologen, dass er aufgrund seiner Vergangenheit an Hamburg gebunden ist.«
»Er könnte sich Geld beschaffen.«
»Santa braucht zwei Dinge: ein Weihnachtsmannkostüm und ein Fleischer-messer, eventuell noch ein Schlachtbeil. Er ist zu intelligent, um ein weiteres Risiko einzugehen.«
»Wo findet er Unterschlupf?«
»Hamburg ist groß genug, es gibt genug Möglichkeiten.«
»Hat er noch Verwandte?«
Arwed ging in Gedanken nochmal die Akten durch. »Meines Wissens nicht.«
»Was heißt hier deines Wissens?«
Arwed sah seinem Chef in die Augen und überlegte ein weiteres Mal. »Mir ist niemand bekannt,« sagte er schließlich.
Theo stand auf. »Arwed, wir haben den GPS-Empfänger!«
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 09:13
Margit fuhr mit ihren beiden Töchtern in die Stadt. Es fehlten noch goldene Tannenbaumkugeln. Da sie den Baum jedes Jahr in einer anderen Farbe schmückten, musste noch etwas goldenes her; die roten Kugeln vom vergangenen Weihnachtsfest ließen ihre Kleinen nicht durchgehen.
Um sie nicht zu enttäuschen, nahm sie den Stadbummel am Heiligabend in Kauf. Ihr Mann war schon früh aus dem Haus gegangen, als sie und die Kleinen noch schliefen. Was zur Zeit auf der Arbeit los war, erzählte er ihr nie, auch nicht heute. Sie hatte sich daran gewöhnt und je mehr sie ihn fragte, desto cholerischer reagierte er, daher ließ sie es einfach.
Ihre Töchter wollten unbedingt zu Karstadt in der Mönckebergstraße und dort die Kugeln kaufen. Außerdem waren sie vernarrt in den Weihnachtsmann, der sich dort den Kindern widmete.
Die Kugeln waren schnell gekauft, nur der Besuch beim Weihnachtsmann stand noch aus. Da sie nicht hören sollte, was die beiden mit ihm besprechen wollten, wartete sie in einigem Abstand. Irgendwie kam ihr der in rot kostümierte Mann mit Rauschebart etwas komisch vor. Andererseits wusste sie auch nicht weswegen. Daher verwarf sie ihre Gedanken und wartete, bis das Gespräch beendet war und machte sich sogleich mit den Kindern auf den Heimweg.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 13:57
Klaus Obrecht hatte Glück gehabt. Ihm war es gelungen, unbemerkt einer der vielen Einkaufstaschen einer Großfamilie zu stehlen, in der sich ein komplettes Messerset befand. Da auf der Tüte groß und deutlich der Aufdruck von WMF gedruckt war, fiel es nur zu leicht, die richtige im allgemeinen Trubel in der S-Bahn unauffällig zu schnappen und beim nächsten Halt auszusteigen.
Nun fehlte ihm nur noch das Kostüm. Doch darum würde er sich bei Anbruch der Dunkelheit kümmern. Er war bereits im westlichen Stadtteil Rissen angekommen, welcher eher einem kleinen Dorf glich, als der Großstadt Hamburg zugehörig. In den dortigen Kleingartenanlagen würde er noch ein bisschen warten und sich dann der Vollendung seiner Tat widmen. Dieses Weihnachten sollte für ihn und seine Familie unvergesslich werden, das hatte er sich bereits in der Klinik geschworen.
Nach kurzer Suche fand er eine unverschlossene Laube und ging hinein. Innen stand ein abgewetztes Sofa, auf das er sich setzte, um die Messer zu begutachten. Ein höllisch scharfes Fleischermesser und stabiles Brotmesser waren für ihn die wichtigsten. Das Brotmesser schien auch für härtere Dinge gut geeignet, doch er probierte es vorsichtshalber an einem Tischbein aus. Mit einigem Kraftaufwand konnte er das Bein durchsägen, das gefiel ihm. Zufrieden packte er die Messer wieder ein, lehnte sich zurück und wartete.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 11:19
»Es gibt tatsächlich noch eine lebende Verwandte von Klaus Obrecht. Die wohnt allerdings in Uetersen, außerhalb Hamburgs.«
»Wieso wurde das übersehen?« fragte Theo, als Arwed ihm diese Neuigkeit mitgeteilt hatte.
»Was weiß ich, ist doch auch egal. Es ist eine entfernte Cousine. Wer weiß, welche Beziehung er zu ihr gehabt hat.«
»Und die übrigen?«
»Die Eltern sind bereits gestorben, seine einzige Tante auch. Einen Onkel gab es nicht. Auch die Großeltern sind schon tot und das seit vielen Jahren. Dazu kommt, dass Obrecht ein Einzelkind ist.«
»Dann bekommt die liebe Verwandtschaft wenigstens nicht mehr mit, was der liebe Sprössling so treibt und getrieben hat.«
Arwed zuckte mit den Schultern. »Schwacher Trost. Wie dem auch sei, diese Cousine spielte laut den Akten so gut wie keine Rolle in seinem Leben. Sein Krankheitsbild wird durch die Erlebnisse während seiner Kindheit im Elternhaus geprägt.«
»Arwed, du fährst zu dieser Cousine und beobachtest das Haus. In der Stadt sind genug Leute unterwegs. Keiner weiß, was in Santas kranken Hirn vorgeht. Vielleicht ist er ja längst dort untergetaucht.«
»Ist gut, Theo.« Widerwillig folgte er dem Befehl seines Chefs. Er gab keinen Cent auf dessen Vermutung, doch er wusste auch, dass es keinen Sinn machte, ihm dies zu erklären. Er setzte sich stattdessen in seinen Wagen und fuhr nach Uetersen.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 14:52
Peter packte in den Personalräumen von Karstadt das Kostüm ein und machte sich auf den Weg nach Hause. Es blieb ihm nicht mehr viel Zeit, um die Überraschung für seine Lieben vorzubereiten. Nach diesem Weihnachtsfest würde endlich alles anders werden - für ihn und seine Familie. Keine Dienste mehr an Feiertagen, keine Nachtschichten und kein Streit mehr wegen der Geheimniskrämerei, die er von Berufs wegen an den Tag legen musste.
Er ging in die Tiefgarage und stieg in seinen Wagen. Er war schon sehr gespannt auf die Reaktion seiner Frau Margit und seiner kleinen Töchter, wenn er unversehens als Weihnachtsmann verkleidet in der Stube stehen würde, rechtzeitig zur Bescherung. Diesmal würden ihn seine Kinder in dem Kostüm erkennen, dafür würde er schon Sorge tragen.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 17:32
Das Kostüm hatte Klaus Obrecht ebenfalls sehr einfach ergattern können. Es war ein leichtes, der lebensgroßen Weihnachtsmannpuppe, die an einer Seitenwand eines Hause in kletternder Position angebracht war, das Kostüm auszuziehen und den alten Mantel überzuwerfen. In dieser Maskerade würde er um diese Uhrzeit nicht mehr auffallen.
Er ging zur nächsten U-Bahn Station und wartete auf den Zug, der ihn zu seinem Ziel bringen sollte.
* * *
Uetersen, Mittwoch, 24.12.2003, 16:14
Arwed hatte vor dem Haus der Cousine Klaus Obrechts Position bezogen und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Eine innere Unruhe machte sich in ihm breit. Die Akten erwähnten die Cousine nur der Vollständigkeit halber, in Santa Claus' Krankengeschichte nahm sie keine bedeutende Position ein. Warum also diese Observation? Um alle Eventualitäten auszuschließen ist er nicht bei ihr vorstellig geworden - sie hätte Klaus im Fall des Falles warnen können.
In seiner Vorstellung pirschte sich schon irgendwo in der Stadt ein falscher Weihnachtsmann langsam an ein Haus heran, seine tödlichen Geschenke parat. Und er, Arwed, wartete in Rissen vor dem Haus einer Cousine, die sich wahrscheinlich noch nicht mal mehr an ihren psychopathischen Cousin erinnern konnte.
Über Handy rief er den Kollegen an, den er eigens zur Bewachung seines eigenen Hauses abgestellt hatte. »Hallo Dieter, alles klar?«
»Alles klar, Arwed. Deine Frau ist gerade nochmal weggefahren, nur kurz zu Bekannten, sagte sie.«
Zu welchen Bekannten könnte sie fahren? Davon wusste er nichts. Vielleicht würde sie nur kurz zu Peters Familie fahren, die ebenfalls alleine ohne den Mann zu Hause unterm Tannenbaum saßen.
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 16:11
Peter ließ seinen Wagen zwei Straßen entfernt von seinem Haus stehen. Das Kostüm zog er im Wagen an und ließ Polizeiausweis nebst Dienstwaffe im Handschuhfach. Dann ging er nochmal an den Kofferraum und holte das Geschenk für seine Familie heraus. Nach ein paar Minuten war er an seinem Haus angekommen und öffnete leise die Tür der Garage, um sich in seinen Hobbybereich zu begeben.
Er starrte mit großen Augen auf seine Modelleisenbahn. Wie viele schöne Unfälle hatte er hier schon nachstellen können. Am liebsten kettete er in liebevoller Kleinarbeit Menschenfiguren an die Gleise, um sie mit Zügen zu überfahren. Die Gelenke der Figuren waren präpariert, damit die Wagen nicht durch das Hartplastik entgleisten. Gerne inszenierte er auch Kollisionen, bei denen er sich ausmalte, wie die Menschen in Todesangst in den Waggons zermalmt und verletzt wurden. Alle möglichen Arten von Unfällen hatte er nachgestellt, doch es befriedigte ihn nicht mehr.
Seine Ehe war eine Hölle, er hielt es nicht mehr aus. Etwas musste geschehen und es musste heute geschehen. Die Gelegenheit war mehr als günstig, der Verdacht würde so schnell auf ihn nicht fallen. Auf jeden Fall würde ihm genug Zeit bleiben, um mit seiner heimlichen Geliebten das Land zu verlassen. Als sich ihm die Möglichkeit eröffnete, um sich mit einem Schlag all seiner Sorgen entledigen zu können, hatte er nicht gezögert und alles in die Wege geleitet. Santa Claus Ausbruch kam ihm wirklich sehr gelegen.
Das Geschenk stellte er auf einen Tisch und packte es aus. Zum Vorschein kam ein Messerblock der Spitzenklasse. Hochwertige Ware, darauf hatte er beim Kauf Wert gelegt. Als er das Fleischermesser herausnahm, drehte er die Klinge vor seinen Augen und bemerkte freudig das Blitzen der Klinge im Neonlicht.
Er schlich aus der Garage in den Wohnbereich und lauschte. Es schien ihm perfekt - seine ganze Familie war in der Stube. Leise öffnete er die Tür, die Messer in der Hand, und sah, wie sich Margit und die Kleinen in freudiger Überraschung zu ihm umdrehten.
»Von drauß' vom Walde komm ich her und ich muss Euch sagen, Ihr blutet bald sehr!«
Bevor sie begriffen, wie er das meinen könnte, begann er grinsend das Massaker, auf welches er sich bereits seit Tagen wie ein kleiner Junge gefreut hatte. Schnell und unbarmherzig schnitt er Margits Kehle durch, die daraufhin röchelnd und gurgelnd auf den Boden fiel. Dann wand er sich den kreischenden Kleinen zu...
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 16:20
Arwed war beunruhigt. Das Handy seiner Frau war abgestellt, das war gerade an dem heutigen Tag sehr ungewöhnlich. Irgendetwas ging vor, er wusste bloß nicht was. Da ihm seine Aufgabe sowieso missfiel, brach er die Observation ab und beschloss zu Peters Haus zu fahren. Das erschien ihm am plausibelsten, da sie laut seinem Kollegen Dieter noch nicht wieder zu Hause eingetroffen war. Peter war sicher noch irgendwo unterwegs, da brauchte er sich keine Gedanken zu machen. Aber was in Rita, seine Frau, gefahren war, erschien ihm mehr als merkwürdig.
Eine knappe Stunde später kam er bei Peter an, parkte direkt vor dem Haus und ging zur Eingangstür. Auf sein Klingeln reagierte niemand, auch nicht auf sein Klopfen. Er ging um das Haus herum zur Terrasse und warf einen Blick durch die Glastür. Was er sah, ließ ihn nach Luft ringen.
* * *
Uetersen, Mittwoch, 24.12.2003, 18:52
Es klingelte an der Tür von Maria Schneider. Sie lebte seit Jahren alleine und war Besuch zu Heiligabend nicht gewohnt. Vorsichtig öffnete sie die Haustür einen Spalt und sah einen Weihnachtsmann vor der Tür stehen.
»Ho ho ho! Hallo liebes Cousinchen, erinnerst du dich noch an mich?« sagte der kostümierte Mann.
»Wer sind sie?« fragte sie ihn mit leiser ängstlicher Stimme.
»Ich bin es, Klaus, dein Cousin!«
»Klaus? Ich dachte Du wärst im Ausland? Jedenfalls sagten das deine Eltern, Gott hab' sie selig, als ich sie vor Jahren das letzte Mal gesprochen habe.«
»Das ist richtig. Aber jetzt bin ich wieder zurück und möchte zu meiner Familie. Oder vielmehr, zu dem, was davon übrig geblieben ist.«
»Na, das ist aber eine Überraschung. Komm' herein, Klaus. Ich freue mich sehr!«
Sie ließ Klaus eintreten. Als die Tür wieder geschlossen war, holte er den Messerblock hervor, präsentierte ihn seiner Cousine und sagte: «Fröhliche Weihnachten!»
* * *
Hamburg, Mittwoch, 24.12.2003, 18:54
Fotografen, Spurensicherung und das ganze Team waren bereits in Peters Haus eingetroffen und gingen ihrer gewohnten Tätigkeit nach.
Arwed stand noch immer fassungslos und geschockt vor dem Weihnachtsbaum. Er bot einen abscheulichen Anblick. Auf der Baumspitze war ein silberner Stern befestigt, an deren Spitzen sechs Augen aufgespießt waren. Zu den Perlenketten waren Eingeweide rund um den Baum gehängt worden. Statt Baumkugeln hingen einzelne Finger an den Zweigen. Als Ersatz für einen Ständer, war der Baum in einen Torso, wahrscheinlich von Margit, gerammt worden. Und unter dem Baum waren zwischen den besudelten Geschenken die Köpfe und restlichen Gliedmaßen und Körperteile verteilt. Die elektrischen Kerzen brannten noch und vermittelten der Szenerie ein unheilvolles Ambiente.
Es gab noch keine Spur von Santa Claus, geschweige denn von Rita, seiner Frau. Auch Peter war nicht zu erreichen, doch das schien ihm momentan nebensächlich. Bis plötzlich sein Handy klingelte.
»Hallo Arwed? Hier ist Rita.«
»Verdammt, wo steckst Du?« brüllte Arwed.
»Pass auf, ich mach' es kurz: ich bin auf dem Flughafen, wir sitzen bereits im Flieger. Ich wollte Dir nur sagen, dass es mir Leid tut, es Dir auf diese Weise mitzuteilen. Ich werde Dich verlassen und nie wiedersehen. Ich halte das Zusammenleben mit dir nicht mehr aus. Ewig bist du weg, Kinder willst du keine, nie hast du Zeit für mich.«
In Arweds Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume. »Red' nur weiter, ich höre dir genau zu.« sagte er bissig.
»Ich treffe mich schon seit geraumer Zeit mit einem anderen Mann. Auch er hat sich heute von seiner Familie getrennt und wird mit mir das Land verlassen. Wir werden ein neues Leben beginnen, irgendwo, weit weg von hier.«
»Wer ist dieser Kerl?«
»Warte, ich reich' ihn Dir 'rüber.«
Arwed schluckte. Er versuchte zu realisieren, was Rita ihm da gerade gesagt hatte. Und als ob das nicht genug wäre, würde er gleich noch mit dem Schwein reden, das sich mit seiner Frau aus dem Staub machen würde.
»Hallo Arwed?«
Arwed wurde blass. »Peter?« fragte er ungläubig. Aber er kannte die Stimme seines Freundes zu gut, als das er sich irren könnte.
»Es tut mir Leid. Auch ich habe es nicht mehr zu Hause ausgehalten.«
»Aha?!« Arwed glaubte an einen Scherz.
»Und dann dieser Scheißjob. Tagtäglich hat man es mit Irren, Gewaltverbrechern, Kinderschändern und dem ganzen Abschaum unserer Gesellschaft zu tun. Ich muss raus, Arwed, ich muss raus.«
»Weißt Du überhaupt, was bei Dir im Haus los ist, Mann?«
»Ja.«
Da ging Arwed ein Licht auf. Sofort begriff er die Gefahr, die für Rita bestand. Sofort begriff er, was hier eigentlich vorgefallen war. Sofort begriff er, wer der Killer war. Aber er begriff nicht, was in seinen Freund und seine Frau gefahren war.
»Wo wollt ihr hin? Gib mir sofort meine Frau, ich will Rita sprechen, hörst du, du verdammtes Schwein, gib...«
»Wir müssen jetzt das Handy abstellen, der Flieger startet.« sagte Peter und beendete das Gespräch.
Arwed starrte sein Handy an, als ob es ein Ding wäre, was er noch nie zuvor gesehen hat. Dann ließ er es fallen und ging wortlos auf die Straße.
* * *
Uetersen, Mittwoch, 25.12.2003, 09:45
Eine Routinebefragung der Cousine Klaus Obrechts führte zu seiner Festnahme. Er saß bei einer Tasse Kaffee am Frühstückstisch und machte einen glücklichen Eindruck.
»Das war mein schönstes Weihnachten«, sagte er während der Festnahme. »Das könnt ihr mir nicht nehmen.«
Während Maria Schneider über ihren Cousin aufgeklärt wurde, war Santa Claus wieder auf dem Weg nach Ochsenzoll.
»Mein Cousin hat mir ein schönes Geschenk gemacht. Zusammen haben wir einen gemütlichen Abend verbracht und Weihnachtslieder gesungen. Besonders „Lasst uns froh und munter sein“ mochte er gern.«
Theo Gerwald notierte es sich und dachte an Arwed, der gestern ein nicht ganz so fröhliches Weihnachten verbringen konnte und wahrscheinlich zu Hause in die Kissen weinte.
* * *
Havanna, Freitag, 26.12.2003, 15:09
»Es ist herrlich hier auf Kuba!« sagte Rita zu Peter, als sie sich gerade mit dem zweiten Mojito des Tages zuprosteten.
Peter aschte in aller Ruhe und bedächtig seine Cohiba ab, lehnte sich zurück und antwortete: »Ja, hier lässt es sich aushalten.«
»Und mit Deiner Familie ist wirklich alles glatt gegangen? Ich meine, wie hat sie deinen Entschluss aufgefasst?«
»Ach weißt Du, Rita, es gab ein bisschen Wehklagen und die Kleinen weinten ein wenig, aber eigentlich war es nicht so schwierig, wie ich es mir vorgestellt hatte.«
Er grinste und nahm noch einen Schluck von dem hervorragend gemixten Cocktail.