Samy
Samy ist ein glücklicher Junge. Er lacht viel, ist fröhlich, seine Eltern und seine Schwester lieben ihn, weil er mit seiner Heiterkeit die schweren Tage erträglicher macht.
Als sein Vater und Mutter ihn das erste Mal sahen, meinten sie, nachdem er den kräftigen Schrei des Lebens losgelassen hatte, ein Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen. So nannten sie ihn Bassam, der in der arabischen Sprache als „einer, der Fröhlich ist“ gilt. Randa und Rula liebten ihren kleinen Bruder und da „Samy“ viel besser klang, wurde er seitdem nicht anders genannt.
Seine Eltern besaßen ein einfaches Reisebüro im Zentrum der Stadt und waren froh über ihre Arbeit, mit der sie den kargen Lebensunterhalt für die Familie verdienten, auch wenn die Wirtschaftslage im Lande immer schlechter wurde. Die Schwestern gingen am Rande der Stadt in die Schule, während Samy mit einer Cousine, die sich tagsüber um ihn kümmerte, meistens in den Parks der Umgebung spielte.
Als der Bürgerkrieg begann, blieb es in ihrem Dorf ruhig. Die Fahrt in das Reisebüro oder zum Unterricht dauerte nun zwar länger, die vielen Straßenkontrollen waren mühsam, doch trotz der ernsten Lage blieben sie von den Gräueln, von denen sie immer wieder hörten, verschont. Abends, wenn die Familie zusammensaß, brachte der vierjährige Samy mit seiner unschuldigen Art diese immer zum Lachen.
Einmal meinte er, dass es mit seiner Cousine etwas langweilig sei, diese habe immer nur das Handy am Kopf. Mama solle ihn doch mit in die Stadt nehmen.
„Samy, es gibt leider viele schlechte Menschen in der Stadt, du musst hierbleiben“, antwortete sie ihm.
„Gib ihnen Schokolade, dann sind sie glücklich“, sagte er. „Mich macht das auch immer froh.“
Seine Mutter grinste.
„Vergiss aber nicht, mir dann auch eine mitzubringen“, sagte er und lächelte sie verschmitzt an. Dann holte er seinen Lieblingsdinosaurier und meinte: „Nimm den mit, der passt gut auf dich auf.“
Eine Träne lief seiner Mutter über das Gesicht, während sie ihn fest umarmte.
Den Krieg lernte Samy am Spielplatz kennen. Eine Bombe tötete seine Cousine und zerfetzte seine kleinen Beine. Tagelang bangte seine Familie im Spital um ihn, bis sie ihn schließlich wieder in die Arme nehmen konnten. Die Beine hatte man ihm weggenommen, seine Fröhlichkeit blieb. Opa organisierte einen Rollstuhl, mit dem er fleißig trainierte und bald schon durch die Gegend flitzte.
Bevor die große Reise begann, kamen viele Verwandte zu Besuch. Samy war glücklich, diese vielen Menschen um sich zu haben. Mit Opa und Oma den ganzen Tag zu spielen, mit den Cousins und Cousinen die Süßigkeiten zu verputzen, die nun jeden Tag mitgebracht wurden. Warum bei der Verabschiedung die Tränen flossen, verstand er nicht.
„Wir machen eine große Reise“, erklärte ihm sein Vater. „Oma und Opa können leider nicht mitkommen.“
Samy überlegte kurz und meinte: „Ich kann sie ja jeden Tag anrufen und wenn wir zurückkommen, werden wir viel zu erzählen haben.“ Beim Abschiednehmen umarmte Samy seine Großeltern und sagte: „Ich schreibe euch eine Karte, wenn wir am Meer sind. Ich bin traurig, weil ihr nicht mitkommen könnt, bin aber auch glücklich, weil ich euch schon bald wiedersehen werde.“
Die Reise dauerte viel länger als gedacht. Binnen Kurzem war der Rollstuhl von den weiten Märschen unbrauchbar geworden und so musste Vater Samy wie einen Rucksack am Rücken tragen. Von hier oben betrachtete er eine neue Welt. Die Ströme von Menschen, die ihre Wege kreuzten, konnte er mit seinen Geschichten unterhalten, was die weiten Wege für die Familie erträglicher machte.
Am Meer angekommen, wurden sie von einem groben Mann, der eine Pistole in der Hand hielt, in ein Boot gestoßen. Mit kaum Platz zum Atmen, weil Körper an Körper gepresst wurden, begann die unruhige Fahrt. Rula, die neben Samy am Rand saß, riss eine Welle ins Meer. Samy konnte hören, wie seine Schwester um Hilfe rief. Das Boot stoppte nicht, auch wenn Vater den Mann am Steuer zuerst anschrie und später immer wieder anbettelte. Als diesem das Gejammer reichte, schoss er einmal über die Köpfe der Passagiere hinweg, sodass eine erdrückende Stille herrschte. Nur das Schluchzen von Samy und das Rauschen der Wellen waren zu hören.
An Land angekommen, wurden sie in ein Lager gebracht. Täglich trafen sie Leute, die sie beschimpften, in einer Sprache, die er nicht verstand. Doch seine Fröhlichkeit, die die Menschen in seiner Umgebung zum Lachen brachte, kehrte immer wieder zurück.
Allein mit Mutter ging die Reise weiter. Vater und Randa blieben im Lager, um später nachzukommen. Samy war inzwischen sechs Jahre alt geworden, als sie den letzten Abschnitt ihrer Odyssee erreichten. Nur mehr die Fahrt entlang eines Flusses, bis zu einer Brücke, trennte sie von ihrem endgültigen Ziel. Mit einem Kanu, das seine Mutter einem gierigen Mann abkaufte, stießen sie sich vom Ufer ab. Während Mutter vorne paddelte, beobachtete Samy auf der Rückbank die unbekannte Landschaft. Wälder strichen an ihnen vorbei, während Wiesen und Blumen den Rand des Flusses säumten. Das Wasser roch sauber und war so klar, dass er unzählige Fische entdeckte, die von langbeinigen Vögeln immer wieder aus dem Nass gezogen wurden. Das Summen der Insekten und das laute Quaken der Frösche ließen ihn in Gedanken versinken, ehe er sich an seine Mutter wandte:
„Du erzähltest mir einmal, wenn jemand stirbt, den man besonders gerne mag, dass dieser dann wie ein Schmetterling sanft in die Luft steigt, um mit seinen bunten Farben über uns zu kreisen. Seit Rula oben schwebt, träume ich jeden Tag von einer wunderschönen Blumenwiese und bin glücklich, dass so ein schöner Schmetterling uns begleitet.“
Er streichelte seiner Mutter behutsam über den Rücken, während sie ruhig weiter paddelte. Kein Ton kam aus ihrem Mund, doch er wusste, dass sie weinte. Am Horizont konnte er die Brücke erkennen. Das fröhliche Lachen eines Kindes war noch in weiter Ferne zu hören.