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Samstagabend
Klick! Das kleine Zimmer erhellt sich im Schein der Nachtischlampe. Draußen ist es Nacht. Ein Auto fährt vorüber. Das Zimmer ist spärlich eingerichtet. Vergilbte Fotos an den Wänden, Kunstblumen in einer weißen Vase. Das gehäkelte Tischdeckchen auf dem Mahagonischränkchen. Klack! Dunkelheit. Es ist still. Astrids Atemzüge. Kein Geräusch sonst. Draußen bellt plötzlich weit weg irgendwo ein Hund. Klick! Plötzlich sind die samtbezogenen Mahagonistühle wieder sichtbar. Der wurmdurchstochene Sekretär. Das Schild an der großen weißen Schiebetür „WC“. Das vom Farbdrucker stammende Bild einer Toilette darunter. In Klarsichtfolie verpackt und mit Tesafilm an der Tür befestigt. Klack! Dunkelheit. Stille. Einatmen. Ausatmen. Stille. Dunkelheit. Klick! Astrids Lächeln auf einem der Bilder. Ja, das ist sie. Jung und schön. Dauerwelle. Der steife Kragen hochgeschlossen. Der Kinderwagen hat hohe Reifen. Neben ihr. Ernst. Seine Hand liegt auf ihrer Schulter. Ernst. Ernst. Sein breites Lächeln. Klack! Dunkelheit. Sie lässt den Daumen um den Schalter kreisen. Atmet ein. Atmet aus. Klick! Die Kleidung liegt gefaltet auf dem Ohrensessel. Ordentlich zusammengelegt. Welche Pflegerin war heute Abend da gewesen? Astrid kann sich nicht erinnern. Klack! Dunkelheit. Stille. Einatmen. Ausatmen. Da geht ein Schlüssel an der Tür. Astrid nimmt den Daumen von dem Schalter, zieht die Bettdecke hoch, faltet die Hände über der Brust. Schließt die Augen. Klick! Das Licht in der kleinen Küchennische blitzt hell auf. Astrid kann es durch schmale Augenschlitze sehen. Eine Pflegerin. Man erkennt es an dem Kittel. Sie schleicht auf Zehenspitzen herein, schiebt die weiße WC-Tür auf. Astrid öffnet die Augen. „Oh, Frau Naumann, Sie sind ja noch wach“, sagt die junge Frau. Sie hat einen russischen Akzent. Astrid schaut sie an. „Ich leere nur Ihre Kathetertüte, dann können Sie weiterschlafen.“ Astrid schaut sie an. Die junge Frau streift sich Handschuhe über. Plastik. Durchsichtig. Und bringt eine Kolbenflasche aus dem Badezimmer.
„Ernst! Ernst! Bitte nimm Suse doch. Ich möchte noch zum Friseur.“, Astrid drückt ihrem Mann das schreiende Kind in die Arme. „Sch… Sch… So, so… ist doch gut meine Kleine!“, er wippt das Kind auf und ab. „Mach nicht so lange. Es gibt noch Arbeit zu tun.“ Sie fliegt aus der Tür.
„Ach, Frau Naumann, wie schön Sie mal wieder zu sehen! Was macht ihr Mann? Wie geht es der kleinen Suse?“, Frau Wittrowitz nimmt Astrid den Mantel ab. Astrid setzt sich in einen der Salonstühle und lächelt. „Vielen Dank, sehr gut!“ Frau Wittrowitz bindet sich eine Schürze um und nimmt den Kamm vom kleinen Tischchen. „Na, das ist aber schön, dass er auf das Kind aufpasst, so dass Sie auch mal zum Damenfriseur gehen können!“ Astrid nickt. Sie weiß um ihren formidablen Mann. „Ach wissen Sie, heute ist ja unser Hochzeitstag, da kann ich mir immer etwas Schönes gönnen!“ „Der 9.9.? Na, das ist ja mal ein besonderes Datum! Und so leicht zu merken!“ Astrid lacht, während Frau Wittrowitz ihr mit dem Kamm durch das blonde Haar fährt. „Ja, nicht wahr?“
Es riecht nach Urin, während die Pflegerin den Katheter leert. Astrid schaut ihr über die gefalteten Hände hinweg dabei zu. Die junge Frau lächelt sie an. Sie hat schwarzes Haar und einen Pagenschnitt. „Sie haben sehr schöne Bilder, Frau Naumann“, sagt sie. Astrid blickt an die Wand. Suse und ihre Kinder. Ernst und Astrid zur goldenen Hochzeit. „Ja“, sagt Astrid. Die Pflegerin zeigt auf das Foto mit der goldenen 50. „Sie und Ihr Mann. Sie waren sehr lange verheiratet.“ Astrid sieht sie stumm an. Dann sagt sie. „Ja. Jedes Jahr bringe ich meinem Mann zu unserem Hochzeitstag Blumen auf den Friedhof.“ „Das finde ich schön!“, sagt die Pflegerin. Während sie den Kolben zum Auswaschen ins Badezimmer bringt, fragt sie: „Wann ist denn ihr Hochzeitstag?“ Astrid bleibt stumm. Weil sie keine Antwort weiß. Der Wasserhahn rauscht. Die junge Pflegerin kommt aus dem Bad und zieht die weiße Tür hinter sich zu. Sie wartet auch gar nicht auf die Antwort, während Astrid die Stirn kraus zieht und stumm bleibt. Sie hat keine Antwort. „Nagut, Frau Naumann. Dann schlafen Sie mal gut. Ist ja schon mitten in der Nacht.“ Sie geht in die kleine Küchennische und setzt das Kreuz auf dem Schema zur Entleerung des Katheters. Nacht, am 9.9.2013. Klack! Sie schaltet das Licht aus und zieht die Tür hinter sich zu.