Samstag abend
Ich weiß nicht, warum ich hierher komme. Meistens muß ich anschließend unter die Dusche, die dreckigen Blicke abzuwaschen. Die guten Abende sind selten.
Sie steht hinten an der Bar und nippt an ihrem Glas. Es ist irgendein Cocktail. Allein seine Farbe verheißt schwere Süße und einen Nachgeschmack von hochprozentigem Alkohol.
Ihr Gesicht wird umrahmt von rotgelocktem Haar. Auf der Nase eine randlose Brille, dahinter braune Augen, groß wie die eines Rehs. Ihr Kostüm, ihre übereinandergeschlagenen Beine, die Art wie sie nachlässig das Glas in der Hand hält, läßt sie deplaziert erscheinen.
Gelassen setzt die Frau den Rand ihres Glases an die Unterlippe und nimmt einen Schluck, kaum groß genug, die Zungenspitze zu befeuchten.
Wartet sie auf jemanden, der sie in den Arm nehmen wird, ihr schmeichelnde Liebkosungen ins Ohr zu flüstern oder taxiert sie nur die Anwesenden? Ist sie auf der Suche? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie in der Hoffnung gekommen ist, in Gesellschaft wieder zu gehen.
Auf der Wiese der Hoffnung weiden die Narren. Andererseits; wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Stundenlang könnte man mit Allgemeinplätzen dieser Art jonglieren, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren. Dabei drängt die Frage, was zu tun ist. Jeden Augenblick kann es ihr langweilig werden. Dann wird sie ihr Glas in einem Zug leeren, bezahlen und aus diesem Raum entschwinden. Also noch eine Zigarette rauchen und sie dabei beobachten. Noch einen Augenblick scheuer Bewunderung aus der Ferne, den einem später niemand nehmen kann.
Die Glut wandert von der Spitze hinab und verwandelt in Asche was eben noch Tabak war. Als die zweite Zigarette im Aschenbecher ausgedrückt ist, sind die Ausreden aufgebraucht. Jetzt nicht zu handeln, wäre Versagen, ohne einen Versuch unternommen zu haben.
Zwar steht die Frau noch immer an der Theke, ohne von jemanden angesprochen worden zu sein und macht auch keine Anstalten aufzubrechen, doch das kann sich jeden Augenblick ändern. Ein letzter Schluck Cola, dann spreche ich sie an, dann ist es soweit.
Gelassen überblickt die Frau den Raum, nimmt in großen Abständen Schlucke aus ihrem Glas, als sei sie eben erst gewahr geworden, daß sie es noch in der Hand hält. Dabei mustert sie die Gesichter der Anwesenden. Wie ein Raubtier auf der Lauer. Auf manch einem bleibt ihr Blick länger ruhen als auf anderen, doch bei keinem lange. Es läßt sich auch nicht sagen, welcher Art ihr Blick ist. Ihre Miene bleibt ausdruckslos, mustert sie einen Schmerbäuchigen mit fettigem Haar, den Eckkneipencasanova, der mit verzweifeltem Unterton mit der Bedienung schäkert oder die Frau, die sich vor dem Taschenspiegel die Lippen lila macht.
Jetzt wäre wohl der rechte Augenblick, auf sie zuzugehen. Ein koketter Augenaufschlag, ein flotter Spruch. Irgendwas Niveauvolles, das sie aufhorchen läßt. Vielleicht wäre es besser, sie auf einen Drink einzuladen. Das ist subtil, aber auch eindeutig, beinahe schon traditionell. Was ist das andere Wort für traditionell? Abgedroschen.
Das Problem dabei, eine Fremde anzusprechen, ist der Gesprächsanfang. Der Rest läuft dann wie aufgezogen. Das redet man sich jedenfalls ein. Es stimmt aber; das Schwierigste ist, einen Anfang zu finden. Einen, der originell ist, elegant und gleichzeitig unmißverständlich. Nie findet man die Worte, die man braucht, wenn man sie braucht.
„Hey, wie geht’s?“ Oder erst ein „Hallo“ oder ein ironisches „Wie wär’s mit uns beiden, Baby?“ Ja, was ist der Königsweg?
Wenn sie nur rauchte. Dann könnte man den Augenblick abpassen, in dem sie sich wieder eine Zigarette anstecken will und ihr Feuer geben. Eine Bemerkung über die Marke machen, sich vielleicht vorstellen, fragen wo sie herkommt, Small Talk betreiben, improvisieren und reagieren. Das alles ist einfach. Die Schwierigkeit ist nur der erste Satz.
Jetzt bleibt ihr Blick auf mir ruhen. Ihre großen braunen Augen sind direkt auf die meinen gerichtet. Quer durch die Kneipe blickt sie mich an. Selbst wenn ich die Augen geschlossen hielte, könnte ich ihren Blick auf mir spüren, wie Laserpointer, die auf mich gerichtet sind. Ich halte ihrem Blick stand, senke dann die Augenlider und wage schließlich, sie anzulächeln. Sie hebt langsam eine Augenbraue. Wie der Rücken einer Katze krümmt sie sich eine Braue. Dann lächelt auch sie.
Ich nehme mein Glas und gehe zu ihr herüber. Einen ersten Satz habe ich noch immer nicht, aber dafür einen Grund, ihr nahe zu sein.
Ehe ich sie erreiche sehe ich in den Augenwinkeln eine Bewegung.
„Hey, Süße“, höre ich jemanden sagen. „Willst du dich nicht zu mir an den Tisch setzen?“
Es ist der Eckkneipencasanova, der sich mit einem zweiten Glas in der Hand an die Frau herangepirscht hat. Er ist keine Konkurrenz für mich, denn er spielt in einer anderen Liga. Aber er stört jetzt.
„Ich gebe dir auch einen aus.“
„Das ist ein sehr freundliches Angebot“, sagt sie ruhig und überlegen. „Und versteh mich bitte nicht falsch, aber ich bin jetzt nicht in der Stimmung zu dir herüber zu kommen.“ Dabei mustert sie ihn von oben bis unten.
Casanovas Kinn klappt herunter, dann zuckt er zusammen.
„Heißt das jetzt nein?“ fragt er mit aggressivem Unterton.
„Du hast es begriffen. Ich möchte jetzt nicht zu dir an den Tisch. Beim nächsten Mal vielleicht.“
„Okay“, sagt er wie leichthin und zuckt mit einer Schulter. „kann man nichts machen. Dann bis zum nächsten Mal.“
Ein Lächeln umspielt ihren Mund. „Bis dann.“
Als er sich wieder gesetzt hat, trete ich an sie heran, meine Cola wie einen schützenden Schild vor der Brust haltend. Ich verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen und fürchte, lächerlich auszusehen.
„Ich bin beeindruckt“, sage ich.
„Warum?“
„Das war eine stilvolle Abfuhr, bei der er nicht das Gesicht verloren haben. Er wird aber auch nicht alle fünf Minuten kommen, um zu fragen, ob sich an deinem Entschluß etwas geändert hätte.“
„Das sollte er sich mal trauen“, lacht sie. „Dann würde ich aber doch ausfallend werden.“
„Und das mit Recht.“
Ich schleime, denke ich. Nicht zu dick auftragen.
„Was trinkst du da?“
„Das?“ Sie hebt ihr Glas an. „Blue Curaoçao.“
„Und, schmeckt es?“ Die Frage ist dämlich. Sie weiß es und ich weiß es. Ich kann es in ihrem Gesicht sehen, in das Augenblicke später ihr Lächeln zurückkehrt.
„Ja“, sagt sie. „Sehr sogar. Ich trinke es immer, wenn ich hier bin.“
„Oh.“ Ich bin ehrlich überrascht. Ich habe sie hier noch nie zuvor gesehen. „Kommst du oft hierher?“
„Nicht oft. Eher selten. Aber wenn, dann...“
„Dann bestellst du Blue Curaoçao, beende ich den Satz.
Sie nickt zur Antwort und nippt wieder an ihrem Glas. Dann deutet sie mit dem Glas zu Casanovas Tisch herüber. „Sieh mal, er steht auf. Ob er sich doch noch mal traut?“
„Nein. Ich glaube, er will zur Toilette.“
Tatsächlich steuert er das Klo an. Als er herüber blickt, nickt er in ihre Richtung, setzt aber seinen Weg fort.
„Wie dem auch sei.“, sagt sie. „Vielleicht sollten wir, um seiner Rückkehr und anderen Störungen zu entgehen, den Ort wechseln.“
Ja. Ja, das ist eine gute Idee.
„Ich bezahle nur noch schnell, dann können wir aufbrechen.“
„Ich muß auch noch zahlen“, sage ich und deute auf mein Colaglas.
„Ja, natürlich.“ Sie lacht.
Wir bezahlen und verlassen die Kneipe. Am Ausgang wirft sie sich noch einen Mantel um. Er ist schwarz und aus schwerem Stoff. Sie sieht darin blendend aus. Viel zu elegant für diese Kneipe, im Grunde genommen. Ich frage mich, warum sie hierher gekommen ist. Sie wirkt wie eine Königin auf einem Jahrmarkt.
Draußen weht ein schneidender Herbstwind, zerzaust meine Frisur und läßt mich frösteln. Nach der abgestandenen Luft in der Kneipe ist er jedoch erfrischend und ich atme tief ein.
„Wohin fahren wir jetzt?“ fragt sie.
„Fahren wir doch zu mir“, schlage ich vor und versuche meiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben.
Sie wirft mir einen Seitenblick zu und lächelt dann. „Ja, warum nicht? Wo steht denn dein Auto?“
„Da drüben.“ Mit einem Kopfnicken deute ich auf einen rostroten Fiesta hin. „Eine elende Schrottlaube, aber mehr kann ich mir im Augenblick nicht leisten. Und er fährt und das ist das wichtigste.“
So, tut er das?“ Ihr Tonfall ist skeptisch, doch das Lächeln mit dem sie das sagt, ist umwerfend.
„Ganz sicher.“ Wir gehen hinüber. Ich schließe ihr die Beifahrertüre auf und steige dann selbst ein.
Wir fahren zu mir. Wahrscheinlich ist sie solche Wohnungen nicht gewohnt. Zwei Zimmer, Küche und Bad. Geschmackvoll eingerichtet, aber mit deutlich mehr Geschmack als Geld. Sie läßt sich nichts anmerken und sieht sich aufmerksam um.
„Schönes Kandinsky-Poster.“
„Ja, danke. Möchtest du dich nicht setzen?“
Sie wendet sich halb nach mir um und lächelt wieder.
„Nein. Ich möchte mich lieber noch ein wenig umsehen, wenn du erlaubst.“
„Mi casa es ta casa“, murmele ich und mache eine entsprechende Handbewegung.
Sie setzt also ihren Rundgang durch mein Wohnzimmer fort und ich folge ihm mit Blicken, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Möchtest du etwas trinken?“ frage ich.
„Eigentlich nicht. Aber wenn du einen Tee hättest.“
„Schwarzen Tee?“
„Mhm.“
„Ja, habe ich.“ Ich gehe in die Küche und setze Wasser auf. Währenddessen hat sie ihren Rundgang abgeschlossen oder will nicht alleine in dem Zimmer auf mich warten. Sie ist mir gefolgt und lehnt sich an den Türrahmen.
„Gemütlich hast du es“, sagt sie.
Ich drehe mich nach ihr um und lächele erleichtert.
„Freut mich, daß es dir gefällt.“
„Studierst du?“
„Wegen der Bücher? Ja, ich studiere. Germanistik und Philosophie auf Lehramt. Bald bin ich fertig.“ Ich lächele. „Dann kann ich mir hoffentlich auch bald eine größere Wohnung leisten.“
Ich gieße das kochende Wasser auf die Teeblätter und blicke auf die Uhr. „Möchtest du einen Muntermacher-Tee?“
„Ja.“
„Also nur drei Minuten. Gehen wir solange ins Wohnzimmer.“
Sie nickt und geht voran. Wie selbstverständlich setzt sich auf das Sofa. Ihre Bewegungen wirken so, als wohnte sie hier und nicht ich. Ich setze mich neben sie auf das Sofa, verschränke wieder die Arme und schaue sie an.
„Und womit verdienst du dein Geld?“
Sie winkt ab. „Es ist Arbeit. Ich möchte jetzt nicht über Arbeit reden. Viel lieber würde ich mich bei einer Tasse Tee entspannen und mir die müden Füße massieren lassen.“
„Der Tee.“ Ich springe auf, eile in die Küche und gieße den Tee auf. „Möchtest du Milch und Zucker?“
„Ja. Milch und zwei Stücke Zucker. Braunen, wenn du hast.“
Ich nicke stumm und mache die Tassen fertig.
Wieder im Wohnzimmer rieche ich, daß sie eines meiner Räucherstäbchen angezündet hat. Eben erklingen leise die ersten Töne des „Flötenkonzertes in G-Dur“ von Mozart.
„Das lege ich immer auf, wenn ich in romantischer Stimmung bin“, sage ich.
„Ja“, sagt sie. „Ich auch. Setz dich.“ Sie deutet mir mit der Hand, mich neben sie zu setzen. „Wie heißt du?“ fragt sie.
„Maria.“