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Sammelwut
„Amekufa...amekufa“, stammelte sie vor sich hin, als man sie frühmorgens neben ihrem Fahrrad unter einer Schirmakazie fand. In der Eingeborenensprache heißt das: Er ist gestorben, er ist tot. Dabei spielte die elfjährige Svenja mit einem Kisu, einem Messer, dessen Griff aus einem Gazellenhuf gefertigt war. Die rostfarbenen Flecken auf der Klinge erwiesen sich in der späteren Analyse als Blut – Menschenblut. Aber bei keiner Polizeistation des Distrikts ging für die fragliche Zeit eine Unfall- oder Todesmeldung ein. Nicht einmal ein Gerücht schwirrte herum.
In der Krankenstation hütete Svenja drei Tage mit hohem Fieber das Bett. Außer an einem Schock litt sie an Vergiftungserscheinungen, wie sie nach dem Genuß von Alkaloiden typisch sind. Aus alkaloidhaltigen Pflanzen brauen afrikanische Medizinmänner ihre Zaubertränke.
Svenja war nicht imstande, ihrem Vater, einem anerkannten Tropenarzt, klare Auskünfte zu geben. Er konnte dem Gestammel seiner Tochter nur entnehmen, daß sich alles um einen Schmetterling drehte; um einen ostafrikanischen Totenkopfschwärmer. Ein auf ein Stück Rinde gespießtes Exemplar dieser Gattung hatte man neben Svenja im trockenen Gras gefunden.
Aus den Taschen ihres Safarianzugs fehlten ein Stück weiße Kreide und eine aus einer Nußschale gefertigte Schildkröte, die mit dem Kopf und Schwanz wackelte. Auch zwei ihrer „Zauberfiguren“ waren verschwunden: Der MANN und die PFEILSPITZE. Dabei handelte es sich um zwei kleine plumpe Formen, wie man sie in Deutschland in der Silvesternacht zum Bleigießen verwendet.
Schmal und aufgeschossen, stets in langen Khakihosen und Schnürstiefeln, konnte man Svenja auf den ersten Blick für einen Jungen halten. Um ihr weizenblondes Haar vor der Sonne zu schützen, verbarg sie es tagsüber meist unter einem ausgebleichten Safarihut. Wenn sie es nach Sonnenuntergang offen trug, fiel es ihr bis über die Schultern und rahmte ihr hübsches Gesicht mit den lebhaften grauen Augen ein. Das goldene Amulett, das sie am Hals trug, gab ihr den Rang einer Häuptlingstochter.
In der Krankenstation schrieben die Eingeborenenhelfer ihres Vaters dem Mädchen magische Kräfte zu. Und Svenja machte es Spaß, ihrem zweifelhaften Ruf ein bißchen nachzuhelfen, indem sie am offenen Lagerfeuer ihr „großes Orakel“ zelebrierte.
„Kleines weißes Mwari große Zauberin“, flüsterten dann die schwarzen Boys, „einziges Mädchen, das über Kerzenflamme SILBER schmelzen kann. In Kürbisschale mit Wasser gegossen, viele geheimnisvolle Figuren für Orakelbefragung entstehen. Weißes Mwari große Zauberin!“
Svenja ahnte nicht, daß die Nachricht von ihrer Fähigkeit wie ein Lauffeuer von Dorf zu Dorf sprang. Sie setzte sich nicht aus Eitelkeit in Szene. Sie sammelte nur ebenso leidenschaftlich Schmetterlinge, wie ihr Vater afrikanische Waffen sammelte. Der Bazillus der Sammelwut floß schon in dritter Generation in ihren Adern. Ihr Großvater hatte eine Spitzensammlung von historischen Tabakdosen zusammengetragen, die ein Vermögen wert waren.
Svenja benützte ihr „Hokuspokus“ nur, um auf Tauschwegen ihre Lepidoptera-Sammlung um besonders schöne Exemplare zu bereichern. Diesmal hatte sie es auf den ostafrikanischen Totenkopffalter abgesehen, der wie eine Maus quietschte, wenn man ihn anfaßte.
Unter der Hypnosebehandlung eines von ihrem Vater hinzugezogenen Spezialisten gab das Mädchen lediglich preis, daß es nachts heimlich mit dem Fahrrad zur versteckten Hütte eines Buschzauberers fuhr, der ihr eine Sammlung von nie zuvor gesehenen Schmetterlingen zeigen wollte. In ihrer Sammelwut hatte sie alle Ermahnungen ihres Vaters in den Wind geschlagen.
Von da an fehlten ihr zwölf Stunden aus ihrem Leben; eine ganze Nacht, die sich nie erhellen ließ. Sobald sie über Ortsangaben oder Personenbeschreibungen befragt wurde, begann sie wie unter Schmerzen zu jammern und etwas von einem Messer in ihren Eingeweiden zu stöhnen. Das KISU, das sie in der Hand gehalten hatte, symbolisierte offensichtlich eine Art Wächter. Eine hypnotische Sperre, die ihr den Mund verschloß.
Aus den Gegenständen, die Svenja nach ihrem nächtlichen Ausflug vermisste, entwickelte ihr Vater folgende Hypothese: Das Stück weiße Kreide in ihrer Tasche bürgte für ihre Reinheit. Die aus einer Nußschale gefertigte Schildkröte hingegen symbolisierte Fruchtbarkeit. Der pendelnde Kopf konnte die Richtung angeben, in der der Zauber am stärksten wirken würde. Svenjas zufälliger Tascheninhalt wurde zum begehrten Krimskrams, mit dem ein Medizinmann seinen mit den Weißen kooperierenden Erzrivalen ausstechen konnte. „Wer eine neuartige Magie besitzt, ist der Mächtigste von allen!“ Wer Svenja das „Orakel vom flüssigen Silber“ raubte, konnte damit das große THAHU, die Verwünschung des Gegners bewirken: Sobald die über der Kerzenflamme schmelzende Pfeilspitze in dem schmelzenden Mann aufging, war dessen Schicksal besiegelt. Durch Aberglauben bekamen zwei für einen Silvesterspaß bestimmte Gießbleifiguren die Macht ein Todesurteil zu fällen.
Svenjas Vater bemühte sich als Tropenarzt alte afrikanische und islamische Heilverfahren mit den Methoden europäischer Schulmedizin sinnvoll zu kombinieren. Dass seine Bemühungen sowohl von weißer als auch von schwarzer Seite eine Menge Gegner auf den Plan riefen, schien das geheimnisvolle Geschehen um Svenja zu bestätigen. Wollte man ihn warnen? Versuchte man ihn auf diese Weise zu zwingen, seine Mission abzubrechen und Afrika zu verlassen?
Noch bevor die Regenzeit begann, fand der „fliegende Doc“, wie ihn die Eingeborenen nannten, bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz den Tod. Svenja reiste mit ihrer Mutter nach Hamburg zurück; und mit ihr die afrikanische Waffensammlung des Vaters.
Danach hatte Svenja nie mehr den Mut gefunden, nach Afrika zurückzukehren. Dennoch hörte der Schwarze Erdteil nicht auf, sie zu beschäftigen. Zuweilen glaubte sie wieder den Geschmack von süßen Kartoffeln, gestampftem Mais und Tapiokawurzeln auf der Zunge zu spüren, oder den Geruch der dornbuschbewehrten Krale und lehmbedeckten Hütten der Massai zu schnuppern, dieses unverwechselbare Duftgemisch aus Mist, Milch und Blut.
An jedem 23. September, dem Datum des geheimnisvollen Rituals, in das sie schuldlos verstrickt worden war, an jedem 23. September – an diesem Tag ohne Schatten, an dem die Sonne am Äquator senkrecht steht – wandelte das blonde Mädchen auf den Spuren seines ureigenen Traums, der sich jeder Deutung entzog. So geschah es auch in diesem Jahr, in dem Svenja achtzehn wurde.
Sie ging in den zweiten Stock ihres Elternhauses und betrat das Zimmer, in dem Vaters Sammlung untergebracht war. Diesen Raum sah sie als ihren eigenen Dschungel, ihr persönliches Afrika an. Sie betrachtete die Kollektion von furchterregenden Klingen, oft vier an einem einzige Schaft. Die Wunden, die diese Waffen rissen, mußten grauenvoll sein. Doch alle Klingen waren blank geputzt. Die Griffe aus Kupfer, Eisen oder Elfenbeinschnitzereien stellten kleine Kunstwerke dar. Das Messer mit dem Gazellenhufgriff und der fleckigen Schneide sah dazwischen armselig aus. Ihr Kisu wirkte inmitten der anderen Trophäen geradezu schäbig.
Sie holte tief Luft. Etwas stieg in ihr hoch, gegen das sie sich nicht zu wehren vermochte. Das alte Sammelfieber, die Sucht nach der besonderen Trophäe packte sie. Doch Schmetterlinge interessierten sie nicht mehr. Plötzlich wußte sie, wie sie das armseliges Kisu zu ihrer persönlichen Ausnahmetrophäe machen konnte. Dabei dachte sie an den alten Angler, den sie bei ihren Spaziergängen stets an derselben Stelle hatte sitzen sehen, am Osterbeckkanal, halb verborgen unter den Zweigen einer mächtigen Trauerweide.
Der Stich mußte ihn direkt ins Herz treffen! Sie visierte auf dem leicht gekrümmten Rücken die Stelle zwischen der dritten und vierten Rippe an und stieß zu. Erstaunt stellte sie fest mit welchem geringem Widerstand das Kisu in den Oberkörper des Anglers eindrang. Sie fühlte den Anprall des Hefts, hielt den Atem an und zog die Klinge mit einem Ruck wieder heraus. Der Mann stieß einen Laut wie ein aufgeschrecktes Meerschweinchen aus. Er versuchte nicht einmal den Kopf zu drehen. Er sackte von seinem Klapphocker vornüber und fiel zwischen dem Angeleimer und der Köderbox auf sein Gesicht.
Aus Svenjas Unterbewußtsein sprang ein Wort auf ihre Zunge, das sie, seitdem sie Afrika verlassen hatte, nie mehr über die Lippen brachte: „Amekufa!“
Der Mund, der verzaubert und verhext, ist derselbe, der Segen spendet, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Der siebenjährige Bann war gebrochen. Amekufa: Er ist gestorben, er ist tot. Das verhexte Kisu hatte sein Erlösungsopfer gefunden. Die magische Blutsbrüderschaft zwischen Mensch und Messer war endlich vollzogen.
Während Svenja mit rasendem Herzschlag, aber normaler Schrittgeschwindigkeit unauffällig der nächsten U-Bahnstation zustrebte, umklammerte sie das mit einer Plastiktüte umwickelte Messer in der Manteltasche. Sie hatte das Kisu zu ihrer Spitzentrophäe gemacht!
(„Sammelwut“ ist die Neufassung von „Die Supertrophäe.)
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