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Sammelpunkt Charon
Dichter Nebel umgab das Firmenareal und die Konturen der Gebäude und Bäume waren nur schwach erkennbar. Andrea stand draußen vor dem Eingang und rauchte. Auf den staubigen Straßen zwischen den Gebäuden war niemand zu sehen und nur die beleuchteten Fensterreihen verrieten, dass in den Büros hunderte von Angestellten arbeiteten. Plötzlich drang ein lauter Sirenenton aus den Lautsprechern auf den Dächern.
Andrea nahm einen tiefen Zug und warf die Zigarette weg. Wie sehr sie sich verändert hatte seit 2006, dachte sie. Damals hätte sie eine Sirene hier in Panik versetzt. Nach drei Jahren als Servicetechnikerin in allen möglichen Ländern spürte sie jetzt nur noch einen leichten, fast wohligen Anflug von Aufregung. Sie ging zurück in den Energietechnikraum und holte den laminierten Fluchtplan aus ihrer Tasche. Auf der Vorderseite waren die Notausgänge im Gebäude Charon aufgezeichnet und auf der Rückseite der Sammelpunkt auf dem Firmengelände. Andrea merkte sich den Sammelpunkt, hängte ihre Tasche um und verließ das Gebäude.
Draußen beobachtete sie eine Weile lächelnd, wie die Leute aus dem Nebengebäude strömten und ziellos vor dem Eingang stehen blieben, während zwei firmeninterne Sicherheitsleute in braunen Uniformen wild gestikulierend Anweisungen gaben. Dann ging sie an der fensterlosen Betonfassade des Gebäudes Charon entlang zum Sammelpunkt auf der anderen Gebäudeseite. Dort war aber niemand zu sehen. Sie hörte nur die Sirene und sah ein gelbes Blinklicht, das gespenstisch durch den Nebel drang und sich in den Bäumen hinter dem hohen Metallzaun verlor, welcher die gesamte Anlage einschloss. Andrea blickte auf ihren Plan. Vermutlich hatte man ihr eine veraltete Version gegeben. Ohne lange nachzudenken ging sie zurück und schloss sich den Leuten aus dem Gebäude Plutos an.
Die Sicherheitsleute hatten sich mittlerweile organisiert und Andrea staunte, wie geordnet die Evakuierung jetzt verlief. Sie folgte den Anweisungen und gelangte zu einem Platz, wo sechs Busse hintereinander geparkt standen. Vor dem Bus in der Mitte warteten die Leute in einer langen Reihe. Auf dem Dach des Fahrzeugs stand ein Mann mit einem Megafon und informierte die Wartenden auf Urdu und Englisch, dass das Gelände wegen Terrorwarnung evakuiert wird und dass man beim Einsteigen Name und Abteilung angeben soll.
Andrea stellte sich hinten in die Reihe. Von den Gesprächen zwischen den Wartenden verstand sie kein Wort, hörte aber deutlich Angst heraus. Was bedeutete diese Terrorwarnung? Der Sicherheitsverantwortliche ihres Unternehmens hatte den Einsatz doch bewilligt mit der Begründung, dieser Teil Pakistans sei politisch stabil?
Überhaupt hätte sie sich eine Evakuierung anders vorgestellt. Geschwindigkeit schien hier keine große Rolle zu spielen, umso mehr hingegen die genaue Erfassung aller Mitarbeitenden. Das gesamte Firmengelände mit den Zäunen und Personenkontrollen glich ja eher einem Gefängnis. Und bereits vor dem Einsatz hatte Andrea mit ihren Bürokollegen gerätselt, wozu ein IT-Unternehmen in Pakistan Gleichrichter benötigt mit einer Gesamtleistung, welche den Energieverbrauch einer Kleinstadt decken könnte. Diese Anlagen waren für modernste Hochspannungsleitungen entwickelt worden, eine andere Anwendung war nicht bekannt. Außerdem konnte sich Andrea kein anderes Unternehmen vorstellen, das ein Bürogebäude mit dem Namen Charon bezeichnen würde. Sie hatte im Internet nachgelesen: Charon war nach antiker griechischer Vorstellung der Fährmann, der die Verstorbenen über den Fluss Styx ins Totenreich fuhr.
Mittlerweile waren fast alle Wartenden in die Busse gestiegen und drei davon waren bereits losgefahren. Ein Sicherheitsmann stand vorne an der Kolonne der Wartenden, fragte jeden nach Namen und Abteilung und kreuzte dann die entsprechende Stelle auf seiner Liste an. Als ihm Andrea ihren Namen nannte, suchte er vergeblich auf seiner Liste.
„Arbeiten Sie im Plutos?“ fragte er mit starkem Akzent auf Englisch.
„Nein, im Charon.“
Der Blick des Mannes verfinsterte sich. „Dann gehen Sie zum Sammelpunkt Charon. Sonst werden Sie gesucht.“
„Aber dort ist niemand, ich war bereits da.“
Der Mann zog ein Funkgerät aus der Hosentasche und wechselte ein paar Sätze auf Urdu. „Die Evakuierung von Charon hat erst jetzt begonnen. Gehen Sie zum Parkplatz hinter dem Gebäude, dort ist der Sammelpunkt.“ Er deutete zurück in die Richtung, aus der Andrea gekommen war. Dann schob er sie unsanft aus der Reihe und wandte sich zum Mann hinter ihr. „Nächster bitte.“
Verwundert ging Andrea zurück über das Areal. Die Sonne war jetzt als weiße Scheibe im Nebel sichtbar und die Sirene schien lauter zu sein, da man zwischen den Gebäuden sonst keinen Laut mehr hörte. Sie hätte einfach in den Bus steigen sollen, dachte sie. Würde sie beim Sammelpunkt Charon auf der Liste stehen? Oder war Charon auch bereits evakuiert und der letzte Bus abgefahren? Sie rannte jetzt.
Auf der anderen Seite des Areals stellte sie erleichtert fest, dass sich auf dem Sammelpunkt Charon Leute befanden und weitere herbeiströmten. Zwei Busse standen auf dem Parkplatz und die Leute warteten davor in einer Reihe, wie beim anderen Sammelpunkt. Erst beim Näherkommen sah Andrea den Unterschied. Die Wartenden standen in einer militärisch geordneten Zweierkolonne und lachten und johlten und tranken aus Schnapsflaschen, welche herumgereicht wurden. Auf den Bussen hatte man auf jeder Seite mit Klebeband ein großes C angebracht.
Als Andrea zum Ende der Kolonne kam, winkte sie der hinterste Mann energisch neben sich. „Stell dich in die Reihe“, fauchte er sie auf Englisch an. Dann lachte er und drückte ihr versöhnlich seine Schnapsflasche in die Hand. „Nicht übertreiben, so kurz vor dem Abschluss. Ich heiße übrigens Juri. Auf die Freiheit.“ Er sprach mit osteuropäischem Akzent.
Andrea blickte den Mann verständnislos an. „Was läuft hier eigentlich?“
„Du weißt nicht, was hier läuft?“ Er lachte laut und schlug dem Mann vor ihm mit der Faust auf den Rücken. „Hey Alex, da ist noch eine, die keine verdammte Ahnung hat.“
Alex drehte sich zu ihnen, stieß seine halbvolle Flasche gegen die Flasche in Andreas Hand und rief fröhlich, „ich habe auch keine verdammte Ahnung“.
„Ruhe“ schrie jemand am vorderen Ende der Kolonne.
Juri legte Andrea eine Hand auf die Schulter und zog sie zu sich heran. „Hast du bei uns im Charon gearbeitet?“
„Ja.“
„Und du weißt nicht, was wir hier machen?“
„Nein.“
Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Wir steuern Drohnen in der Zukunft. Unbemannte Kampfflugzeuge. Wie ferngesteuerte Flugzeuge, nur grösser und vollgepackt mit Waffen.“ Er hielt mit der freien Hand eine imaginäre Fernsteuerung und zog mit dem Daumen den Steuerknopf hin und her. „Verstanden?“
„In der Zukunft?“
„Ja. Genauer gesagt in den Jahren 2178 bis 2180. Dann, also heute für dich und mich, aber 2180 für die armen Teufel vor Ort, ist die Mission abgeschlossen.“
„Und deine Großmutter lebt auf dem Mars oder was?“ Andrea stieß Juris Hand von ihrer Schulter weg.
Er lächelte. „Schwer zu glauben, ich weiß.“
„Erzähl mir doch keinen Blödsinn. Ihr steuert Flugzeuge in der Zukunft? Wie soll das gehen?“
„Das hab‘ ich mich auch immer gefragt. Hab’s nie wirklich verstanden, obwohl sie’s immer erklärt haben. Superluminare Datenübertragung, deswegen haben wir die riesige Anlage im Gebäude und dieses Gaskraftwerk.“
Andrea dachte erschrocken an die Gleichrichter. „Aber Zeitreisen sind doch physikalisch nicht möglich? Sicher nicht in die Vergangenheit und nur sehr eingeschränkt in die Zukunft.“
Juri verdrehte theatralisch die Augen. „Hier spricht ja niemand von Zeitreisen, hörst du überhaupt zu? Gib mal den Whiskey her.“ Genervt leerte er die Flasche in einem Zug. „Endlich gibt’s mal Alkohol in diesem Scheißland. Ich spreche von Datenübertragung in der Zeit, nicht von Zeitreise.“ Das Wort `Daten` zog er in die Länge, als ob er mit einem kleinen Kind sprechen würde. „Physische Zeitreise: nicht möglich. Daten in die Zukunft schicken und umgekehrt: möglich. Verstanden?“
Andrea wollte etwas erwidern, doch das Auftauchen von vier Tanklastwagen riss sie aus dem Gespräch. Zwei Lastwagen hielten an der Maurer des Charon-Gebäudes und zwei verschwanden auf der anderen Seite. Die Wartenden applaudierten und johlten und diejenigen, die bereits in den Busse saßen, schlugen gegen die Scheiben. Die Tanklastwagenfahrer stiegen aus und verbanden beide Lastwagen mit einem Kabel. Dann zogen sie das Kabel über den Parkplatz und verschwanden hinter dem Gebäude. “Die knallen alles weg“, bemerkte Juri beiläufig.
Andrea verstand jetzt. Der Terroranschlag war vom Unter-nehmen geplant und sollte alle Spuren vernichten – Spuren eines Verbrechens? Sie blickte zu den Bussen und zu den Sicherheitskräften, welche wie am anderen Sammelpunkt die Namen kontrollierten. Die meisten der Wartenden waren bereits eingestiegen. Ihre Gedanken flossen jetzt schnell und analysierten die Situation in Sekundenbruchteilen.
„Juri, was passiert jetzt mit uns? Werden wir auch weggeknallt?“
Juri blickte sie misstrauisch an. „Spinnst du jetzt? Wir fahren nach Rawalpindi und dort geben sie uns die neuen Pässe und die Bankdaten. Hast du eigentlich überhaupt keine Informationen erhalten?“
Doch Andrea hatte ihm gar nicht mehr zugehört. Die wenigen Sicherheitsleute standen vorne bei den Bussen. Schusswaffen waren nicht zu sehen. Sie sagte, „Scheiße, ich hab‘ was vergessen“, und dann rannte sie los.
Ohne sich umzudrehen lief sie dem Gebäude Charon entlang auf die andere Gebäudeseite und dann weiter über das Firmengelände. Der Nebel hatte sich jetzt aufgelöst und sie sah, dass auf dieser Seite alle Busse weg waren und sich niemand mehr auf dem Areal befand. Der Wachposten beim hinteren Ausgang war unbesetzt und sie kletterte über das geschlossene Metallgitter. Als sie die gewaltigen Detonationen hinter sich hörte, war sie bereits mehrere Kilometer über die Felder gerannt.
„83 Tote bei Terroranschlag auf internationales Unternehmen in Punjab, Pakistan“, stand am nächsten Tag in den Zeitungen. Die Meldung wurde kaum beachtet, denn es gab in diesem Jahr viele Terroranschläge in Pakistan.