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Samira Faultier
Es war wirklich sehr fad, ein Faultier zu sein! Samira hing kopfüber an einem Ast des Cercropia-Baumes und dachte nach. Ihre Mama war während des Frühstücks eingeschlafen und hing zwei Äste weiter. Sie schnarchte und ein paar angekaute Blätter lagen auf ihrem Bauch. Die wenigen anderen Faultiere, die in dieser Gegend des Regenwaldes lebten, waren vermutlich auch schon wieder im Land der Träume. Es war zum Verrücktwerden. Samira konnte nämlich nicht träumen.
In den wenigen wachen Minuten, die die Mutter mit ihr sprach, erzählte sie dem kleinen Faultier immer wieder von ihren bunten und aufregenden Abenteuern, Farben, Tieren, Heldentaten, wunderlichen Fabelwesen und vielem mehr. Dem kleinen Faultier blieb der Mund offen stehen und es vergaß zu kauen. Aber sobald die Mutter wieder eingedöst war – meist konnte sie ihre Geschichte nicht einmal zu Ende erzählen – wurde Samira traurig. Nicht nur, dass sie niemals etwas so Schönes geträumt hatte, nein – sie konnte auch diese ewige Schlaferei nicht ausstehen. Es war seltsam. Manchmal fragte sie sich, ob sie vielleicht adoptiert oder krank war. Ihre ganze Familie war glücklich mit ein paar Blättern und zwanzig Stunden Schlaf am Tag, nur Samira kam vor lauter Eintönigkeit fast um.
Weil ihr so langweilig war, schaukelte sie etwas an ihrem Ast, schaute den Schmetterlingen beim Frühlingstanz zu und blinzelte träge in die Sonne. Ein Papagei flog herbei, setzte sich neben sie und fing an, sein leuchtendes Gefieder zu putzen. Samira musterte den bunten Vogel erstaunt. Was für schöne rot-blaue Federn der hat, dachte sie. Ich bin so unscheinbar graubraun ... Schüchtern räusperte sie sich. „Hallo ... sag mal ... du bist doch weit herumgekommen, lieber Ara. Kannst du mir vielleicht eine Geschichte erzählen? Mir ist so langweilig.“
Der Vogel blickte erstaunt auf. Er hatte das kleine Faultier gar nicht bemerkt, so gut war es getarnt. „Warum schaust du dir die Welt nicht selber an?“, fragte er knarrig. „Flieg einfach los, über die Baumkronen, du wirst den Amazonas sehen von da oben, den endlosen Wald, die Lichtungen und Hügel.“
„Aber ich kann doch nicht fliegen“, entgegnete Samira schüchtern.
„Hast du es denn probiert?“, fragte der Papagei, legte den Kopf schief und zwinkerte. „Es ist gar nicht schwer“, setzte er hinzu und flatterte davon. Sein Gefieder rauschte sanft im Wind.
Samira überlegte. Nein, probiert hatte sie es wirklich noch nie. Zögernd löste sie ihre Krallen vom Ast. Was, wenn sie tatsächlich fliegen konnte? Dann wäre ihr sicher nie wieder langweilig! Was sie alles sehen würde da oben?
Aber Faultiere können nicht fliegen. Samira fiel auf den Boden wie ein Stein. Das tat vielleicht weh! Den Papagei sah sie nicht mehr, der war vermutlich längst wieder über den hohen Baumkronen. Samira seufzte und jammerte ein bisschen, aber da niemand sie hörte und tröstete, rieb sie sich kurz ihr Hinterteil und begann, den Baum wieder hochzuklettern. Nach vielleicht einer Stunde hatte Samira die ersten paar Meter geschafft, da hörte sie hinter sich plötzlich etwas rascheln. Neugierig drehte sie den Kopf, und ihre Augen wurden größer, als sie ein seltsam borstiges Wesen durch die Blätter streifen sah. Es wühlte mit seiner langen Nase auf dem Boden herum, sein Fell war dunkelbraun und sehr struppig. Samira war so fasziniert, dass sie vergaß, weiterzuklettern. „Was machst du da?“, fragte sie. Das Wildschwein blickte auf.
„Äh ... ich suche Essen. Genau. Essen liegt am Boden. Man kann nie genug haben“, grunzte es nervös. Sein dünner Borstenschwanz zuckte unentwegt.
„Auf dem Boden? Was suchst du denn? Die guten Blätter hängen doch alle im Baum“, entgegnete Samira verwundert.
„Blätter? Nein, nein, ich suche Nüsse. Samen. Früchte. Wurzeln. Das ist viel besser. Und man braucht eine gute Nase, um das alles zu finden. Äh.“ Samira ließ sich zu Boden plumpsen und saß auf der Erde wie ein Sack Kartoffeln, dem sehr lange, schmutzbraune Haare gewachsen waren.
„Ich helf´ dir“, sagte sie. „Ich will auch einmal so was Leckeres essen. Blätter sind fad.“ Mit ihren Krallen begann sie, das Laub wegzuschieben und die Erde aufzuwühlen. Und tatsächlich – bald fand sie eine große Nuss.
„Das ist eine Paranuss. Sehr lecker. Sehr viele Vitamine“, sagte das Wildschwein und fraß schmatzend eine kleine, zermatschte Papaya. Der Saft tropfte ihm von den Barthaaren. Zögernd beschnupperte Samira das fremde Ding, biss dann hinein – und biss sich fast einen Zahn aus.
Faultiere mögen keine Nüsse! Samira wollte sich gerade beschweren und dem Wildschwein das dumme harte Ding schenken, als dieses plötzlich laut quietschte und voll Panik durchs Unterholz brach. Samira blieb der Mund offen stehen. So ein seltsames Tier ... es hatte sich nicht einmal verabschiedet. Nur noch ein paar zitternde Blätter erinnerten daran, dass noch vor wenigen Sekunden jemand hier gewesen war.
Samira schüttelte den Kopf und drehte sich um, um nun endlich wieder auf ihren Baum zu klettern, als sie den Schreck ihres Lebens bekam. Bernsteinaugen blickten sie an.
Ein Jaguar ist ein gefährlicher Jäger, soviel wenigstens hatte Mama ihr erzählt. Samira zitterte vor Angst wie ein Schmetterling im Wind. „Bitte nicht fressen,“ piepste sie mit ganz dünner Stimme. Der Jaguar kniff ein Auge zu.
„Solltest du nicht eigentlich still sein, dich klein machen und auf deine Tarnung vertrauen? Ich hätte dich wirklich fast nicht gesehen. Du hast sogar Algen im Pelz ...“ Seine Stimme war samtig tief. „Keine Angst, ich bin satt. Momentan.“
„Warum hast du dann das arme Schwein gejagt? Es hatte solche Angst vor dir!“ Der Jaguar überlegte. Samira sah sein getupftes Fell, auf dem Sonne und Schatten spielten. Die reinste Magie! Sie starrte die Raubkatze an.
„Das ist es, was Jaguare machen, so einfach ist das. Ich jage Tiere. Liebst du es nicht auch, den Wind in deinem Fell zu spüren, wenn du schneller und schneller wirst? Liebst du es nicht, durch die Büsche und das Unterholz zu jagen, zu laufen und fangen zu spielen?“
„Äh ... eigentlich laufe ich nie durchs Unterholz ... ich bin recht langsam, weißt du?“, sagte sie zögerlich, aus Furcht, der Jaguar könne denken, sie würde seine Leidenschaft nicht verstehen. Der Jäger blinzelte.
„Oh. Das stimmt natürlich. Aber hast du es eigentlich jemals versucht? Vielleicht bist du nur deswegen so faul, weil du nie probiert hast, wie schön es ist, wenn man seinen eigenen Schatten hinter sich lässt. Wenn du magst, können wir um die Wette rennen.“
Schon machte er einen Satz mitten in die Farnwedel und verschwand darin. Samira dachte noch darüber nach, dass sie sich wirklich beeilen könnte, vielleicht würde sie es ja auch bis zum Farn schaffen, als der Jaguar seinen Kopf zwischen den Pflanzen durchstreckte. Er legte den Kopf schief, musterte sie und meinte: „Naja, du scheinst wirklich nicht die Schnellste zu sein ... wenn du Lust hast, dann nehme ich dich einmal mit. Das muss man einfach erleben, es ist ein Gefühl, als ob man ... ach was, halt dich fest. Ich zeig es dir.“
Samiras Herz hüpfte vor Aufregung wie ein verrückt gewordenes Äffchen. Sie krabbelte auf den Rücken des getupften Jägers und hielt sich mit ihren Krallen fest, aber vorsichtig, um die Raubkatze nicht zu verletzen. Und ehe sie sich noch gemütlich in das glänzende Fell kuscheln konnte, machte das Tier unter ihr einen gewaltigen Satz. Samira schloss vor lauter Schreck die Augen. Sie war sich sicher, dass sie sofort und auf der Stelle sterben würde. Blätter und Zweige schlugen ihr ins Gesicht, der Jaguar sprang geschmeidig durch den dichten Dschungel, er wurde immer schneller, und Samira dachte nur noch daran, dass sie nie, nie wieder zu ihrem Baum zurückkommen würde – wie sollte sie denn dorthin finden? Wie sollte sie jemals wieder so weit zurückkommen? Sie würde Tage brauchen, nein, Wochen, bis sie wieder daheim war! Wie ...
... mit einem Mal spürte sie, wie ihre langen Haare im Wind flogen. Mit einem Mal roch sie, wie die Düfte von Blättern, Früchten, Tieren, Harz, Schlamm, nach Frühling und nach Moos durch ihre Nase zogen. Mit einem Mal öffnete sie die Augen und sah die unterschiedlichsten Grün- und Brauntöne der Bäume, Blätter, Sträucher, Stämme vorbeiziehen, leuchtendes Rot, Orange und Gelb von Früchten. Auf einmal hörte sie die unendliche Weite des Dschungels, das Zirpen, das Rascheln, die Schreie von Affen und anderen Tieren.
Ein Tapir quietschte und nahm Reißaus, Dunkelheit umschlang sie, als sie mitten durch dichtes Gestrüpp flogen, aber nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Sonne sie blendete, sie sprangen über einen umgestürzten Gummibaum, ohne dass sich der Jaguar auch nur anstrengen musste! Makakenäffchen turnten in einem Netz aus Lianen über ihnen, eine hübsche, seltsame Schlange huschte unter die Baumwurzeln als sie kamen, ein riesiger Fluss tauchte neben ihnen auf, braungrün, schlammig, verwachsen. Kaimane lauerten dort im sumpfigen Wasser, eine Horde Wasserschweine planschte fröhlich weiter flussabwärts. Der Amazonas! Kolibris schwirrten zwischen den Blüten am Ufer. Das kleine Faultier wusste nicht, was es zuerst riechen, was sehen, hören, fühlen sollte. Sie flogen durch die Welt und Samiras Sinne verschwammen. Kaum hatte sie etwas wahrgenommen, waren sie schon wieder ein paar Sprünge weiter und neue Eindrücke überschwemmten sie.
Genau hier begann der Jaguar seinen Lauf abzubremsen, die geschmeidigen Muskeln wurden langsamer und schließlich blieb er stehen. „So, jetzt aber runter, du faule Socke. Ich bekomme bald wieder Hunger.“ Vor Schreck ließ sich Samira sofort auf den Boden gleiten und suchte den nächsten Baum, damit der Jäger sie nicht erwischen konnte. Im selben Moment fiel ihr ein, wie doof das war – hatte sie nicht gerade erlebt, wie schnell dieses Tier war? Trotzdem torkelte sie ein paar Schritte vorwärts. Von der Geschwindigkeit war ihr schwindlig geworden und so sah sie nun nicht mehr einen, sondern vier oder fünf Jaguare, die um sie herum standen mit ihren leuchtend goldenen Augen. „Na los, mach schon. Oder siehst du schlecht? Geradeaus, ein paar Meter hoch, das ist dein Baum!“, lachten die Raubkatzen mit samtig-dunklen Stimmen. Und dann – husch! – waren sie zwischen den Farnen und Büschen verschwunden. Alles, was noch zu sehen war, waren ein paar zitternde Blätter, die sich vor Samiras Augen immer schneller zu drehen begannen. Faultiere können nicht rennen. Ihnen wird schwindlig dabei. Samira kippte um.
Sie brauchte eine ganze Weile, bis sich ihre Sinne wieder beruhigt hatten und der Strudel vor ihren Augen verschwunden war. Als sie sich hochgerappelt hatte, versuchte sie zum dritten Mal an diesem Tag, diesmal mit ganz wackeligen Knien, auf den Baum zurück zu klettern. Langsam wurde sie hungrig und sehr, sehr müde. Vor allem der schnelle Ritt durch den Dschungel hatte sie angestrengt. Meter um Meter zog sich das kleine Faultier den rissigen Stamm des Baumriesen empor. Die Pfoten taten ihr schon weh, vor lauter Anstrengung begannen ihre Arme und Beine zu zittern, aber tapfer kraxelte sie immer weiter und weiter. Sie vermisste ihre Mutter, wollte endlich wieder an dem gemütlichen Ast hängen, ein paar Blätter kauen und schlafen. Aber zuerst musste sie den Baum hinauf, immer höher, immer höher ...
Endlich entdeckte sie den Ast, an dem ihre Mutter selig schlummerte. Samira berührte sie mit der Nasenspitze, roch den vertrauten Duft nach Wärme, feuchtem Fell und Algen und einen Moment setzte ihr Herz aus vor Glück. Zuhause! Sie riss ein paar der leckeren Blätter von den Zweigen vor ihrer Nase und schob sie sich in den Mund. Wie herrlich frisch sie schmeckten! Erst jetzt nahm sie ihr Magengrummeln richtig wahr, es klang fast wie das Brüllen eines Jaguars. Schnell stopfte sie sich noch einige in den Mund, kaute schon mit geschlossenen Augen, und fing dann an zu schnarchen, ohne es recht zu merken.
Und sie träumte ... Sie flog mit dem Papagei über den Amazonas. Sie spürte den Wind in ihren langen Haaren. Sie rannte mit dem Jaguar um die Wette - und gewann. Sie suchte leckeres Obst, fand in der Erde Ameisen, Käfer und Tausendfüßler. Sie schaute dem Tapir beim Sonnenbaden zu. Sie dachte sich einen neuen Schmetterlingstanz aus. Sie spürte den schnellen Wechsel aus Sonne und Schatten in ihrem Pelz. Sie hörte eine Horde Affen schreien und sah sie in den Lianen turnen. Sie roch unzählige Blüten und Früchte. Sie beobachtete die Tiere bei der Balz. Sie hörte den Fröschen bei ihrem Konzert zu. Sie ...
Samira war glücklich.
Faultiere können viele Dinge nicht. Sie könne nicht rennen. Sie können nicht fliegen. Sie essen keine Nüsse. Aber Faultiere können klettern. Und Faultiere können träumen.