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- 20.12.2002
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Salz der Erde
Bevor wir fallen, fallen wir lieber auf
– Die Fantastischen Vier
„Ist das die 7a?“, fragte der Junge vorsichtig.
„Ja“, sagte Frau Loh mit einem Lächeln. „Setz dich.“
Er war groß und schlaksig, hatte strohblondes Haar, helle Augen.
Wir musterten ihn.
Und er uns. Er ging langsam durch die Reihen, ließ sich verdammt viel Zeit bei der Platzsuche. Etwas Suchendes lag in seinen Augen, etwas Wertendes. Ein Mädchen kicherte nervös.
Er sah mich an. „Ist hier frei?“
„Ja.“
Er setzte sich. „Ich bin Ben.“
„Hallo, ich bin Dani. Wo kommst du her?“
„Ich wohn jetzt in Lichtenheim.“
„Ich auch.“
Er sah mich an. „Fährst du mit dem Zug zur Schule?“
„Ja, jeden Tag ... wie alt bist du?“
„Vierzehn.“ Er holte ein Heft aus der Tasche. „Hab die Sechste wiederholt.“
Wir trafen uns jeden Morgen in dem Park hinter dem Bahnhof.
Eines Tages, wir kannten uns vielleicht einen Monat, erwartete er mich mit einem breiten Grinsen unter dem Klettergerüst. Es war dunkel. Die Luft war frisch, roch nach verbrannten Blättern. Bens Haare leuchteten im Licht der Straßenlaternen.
„Was ist?“, fragte ich.
Er hielt einen Fünfzigmarkschein nach oben. „Hab ich gefunden.“
Er grinste wieder, ein Ausdruck, der sich in den kommenden Jahren noch deutlicher in seinem Gesicht abzeichnen würde.
„Erzähl nicht ...“
„Doch, lag dort hinten auf dem Boden!“
Ich staunte. So etwas Unglaubliches war mir in meinem Leben noch nie passiert.
„Was machst du damit?“
Er zuckte mit den Achseln.
„Zeig mal her.“ Ich nahm den Schein, hielt ihn nach oben gegen das Licht. Mein Atem hüllte ihn in eine Dampfwolke.
Ben riss das Geld aus meiner Hand. „Komm, wir verpassen den Zug.“
Wir rannten durch den Park. Vor der Unterführung trafen wir auf einen alten Mann. Er saß auf einer Bank, eingewickelt in einer Decke. Er hielt eine Flasche Bier in der Hand.
Ich wollte weiterrennen, doch Ben blieb stehen.
Der Mann nahm die Kopfbedeckung ab, eine graue Baskenmütze. „Hast mir vielleicht ein paar Pfennig?“ Eine Stimme wie Kiefernholz.
Ben holte drei Mark aus der Tasche, das Geld, das er jeden Morgen von seiner Mutter bekam, und legte es in die Mütze.
Der Mann sah sich das Geld an, brummte verblüfft, und zog dann einen zweiten, imaginären Hut.
„Du bist ein guter Junge“, sagte er.
Ben nickte, sagte nichts.
Der Zug fuhr ein.
„Auf geht’s“, sagte ich, „wir müssen los.“
Ben bewegte sich nicht, sah den Mann einfach nur an.
„Los Junge, du musst zur Schule! Schau, dass du auch was lernst!“
„Okay“, sagte Ben, und dann rannten wir zum Zug.
Im Zug sagte ich zu Ben: „Das versäuft er doch eh.“
„Meinst du?“
„Ja, sicher, der trinkt jetzt schon Bier.“
Er zuckte mit den Achseln. „Egal ... hab doch fünfzig Mark gefunden. Gehen wir nachher Kippen kaufen?“
„Auf jeden.“
Nach der Schule rauchte ich meine ersten Zigaretten. Ich hustete, bis ich Sterne sah und mich übergeben musste. Ben lehnte sich zurück, blies Rauchringe und lachte mich aus.
Danach lud er mich zum Eis ein: eine Kugel Stracciatella und eine Kugel Joghurt. In der Waffel. Das weiß ich noch ganz genau. Das Eis ging durch meine Kehle wie Seelenschnee.
„Und? Hast was gelernt in der Schule?“, fragte der Mann, als wir aus der Unterführung kamen. Er trug Jeans und einen dreckigen Wollpullover, hatte die Arme über die Banklehne gelegt und sonnte sich. In der Linken das Bier.
Ben schüttelte den Kopf. „Nee.“
„Nee? Ha!“ Zähne blitzten durch den Vollbart. „Dann musst du besser aufpassen!“
Ben gab ihm ein paar Pfennig.
Der Mann zog wieder den imaginären Hut. „Vielen Dank, Junge!“
„Bitte Schön.“
So ging das los. Am nächsten Morgen war der Mann wieder da. Und am Nachmittag auch. Und nach den Herbstferien. Und nach Weihnachten ...
Und immer hatte Ben ein paar Pfennig für ihn dabei. Er griff in die Tasche, als wäre der alte Mann ein Zollbeamter auf der Fahrt zum Meer. Gelegentlich wechselten sie ein paar Worte über das Wetter oder die Bundesliga, manchmal machte der Mann auch große Augen, wenn wir mit Mädels durch die Unterführung gingen – da lächelten wir immer –, doch meistens zog er nur den Hut.
Schlief er wirklich jede Nacht auf der Bank? Gab es auch andere Orte, an denen er sich aufhielt? Was machte er am Wochenende?
Ich wusste es nicht.
Es gab Tage, da trug er plötzlich saubere Kleidung, hatte die Haare nach hinten gekämmt und war rasiert, grinste wie frisch gewichste Schuhe.
Manchmal fragte ich mich, wie es sein konnte, dass er plötzlich so normal aussah.
Wenn das schon möglich war, warum nicht immer?
Aber diese Gedanken waren selten. Mit dreizehn denkt man nicht so viel über alte Alkoholiker nach. Sie sind einfach da, und wenn der beste Freund meint, einem jeden Tag ein paar Pfennige zu schenken, dann ist das halt so.
In der achten Klasse wurden Ben und ich richtige Skater. Wir ließen uns die Haare wachsen, drehten unsere ersten Joints, bekamen Fress- und Lachflashs und flippten fast aus.
War eine spannende Zeit.
„Mensch, gehst denn nie zum Frisör!“ fuhr der alte Mann Ben eines Tages an, obwohl er im puncto Style nicht wirklich auf der Höhe war. Er sah meistens völlig zerfleddert aus, wie ein nasser Pudel, sein Bart manchmal so lang wie unser Haar.
Aber Ben blieb stehen, hatte anscheinend wieder Lust, sich mit ihm zu unterhalten.
„Das ist halt cool“, erklärte er.
„Cool nennt man das? Du siehst doch aus wie ein Mädchen!“
„Aber die Mädchen stehen drauf ...“
„Die Mädels mögen das?“
„Absolut.“
„O je ...“ Der Mann schüttelte den Kopf. (O je …) „Na dann hoffen wir, dass du recht hast, und es wirklich die Frauen sind, die das mögen.“
Gegen Ende der achten Klasse checkte sich Ben Melanie Kolb ab, ein Mädchen aus unserer Parallelklasse. Sie war gerade vierzehn geworden und hatte einen Körper wie eine Colaflasche. Sie wohnte auch in Lichtenheim, also teilten wir mit ihr den Heimweg.
Als der Mann Ben und Meli zum ersten Mal händchenhaltend sah, kam ein richtig dreckiges Lächeln über sein Gesicht. Ben gab ihm an diesem Tag eine ganze Mark.
Der Mann zog den Hut, und dann meinte Meli, ganz laut: „Aber das versäuft er doch eh.“
Ben ging weiter, wusste nichts darauf zu sagen.
„Warum gibst du ihm eigentlich immer Geld?“, hakte sie nach.
Er antwortete nicht.
Am nächsten Morgen hatte Ben kein Geld für den Mann dabei. Er ging schnell an ihm vorbei und sagte nichts.
In der Schule war er dann abwesend. Das kam schon hin und wieder vor, dass Ben nicht viel zu sagen hatte, doch an dem Tag war er stumm. Ich wollte ihn fragen, was los war, ließ es aber sein.
Nach der Schule trafen wir uns mit Meli. Ben legte den Arm um sie und lächelte, schien wieder er selbst zu sein.
Dann kamen wir zur Unterführung. Jetzt war es hell draußen, Ben würde sich nicht verstecken können. Er hörte auf zu reden, doch Meli quatschte weiter, wurde irgendwie lauter. Lachte. Ben hielt den Kopf gesenkt, und dann war der Mann da, auf der Bank, wie immer. Als wir ihn passierten, wagte Ben einen Seitenblick.
Der Mann nickte nur, ganz langsam. Ich sah Ben in die Augen und mochte den Ausdruck darin nicht. Er mied meinen Blick und schwieg, bis er zuhause war.
Zu meiner Überraschung – und sicherlich auch Melis – führte Ben sein Ritual am nächsten Morgen fort. Er löste sich beinahe zeremoniell von Melis Griff, holte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie direkt in die Mütze. Der Mann gab ein bellendes „Du musst zum Frisör!“ zur Antwort.
Ben lächelte.
„Aber das versäuft er doch eh!“, sagte Meli, als er zurückkam.
Er ignorierte sie, und sie zischte genervt.
Sie waren eigentlich ein nettes Paar. Sie neckten sich, gingen ins Kino, machten rum. Eben all die Dinge, die man so macht, wenn man in der achten Klasse ist. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Und auch wenn ich mir manchmal wie das dritte Rad vorkam, so fühlte ich mich in meiner Freundschaft zu Ben nie bedroht. Meli war immer nett zu mir, stellte mir auch ihre Freundinnen vor, also eigentlich hatte ich sie gern.
Doch jedes Mal, wenn wir in die Nähe der Unterführung kamen, legte sich eine Last auf unser Gemüt. Meli hörte bald auf, eine Erklärung für Bens Verhalten zu suchen, sie hörte auch auf, zu betonen, dass der Alkoholiker das Geld ja nur versaufen würde, doch dieses Zischen, dieses genervte Seufzen, das ließ sie nie weg. Kein einziges Mal. Zweimal am Tag musste ich es hören. Manchmal höre ich es noch immer, es zuckt in meinem Geist wie eine Kobra.
Nach drei Monaten trennten sie sich.
In der neunten Klasse hatte Ben eine richtig heftige Schlägerei. Er hatte sich mit einem gewissen Patrick Schweitzer angelegt, ein Junge aus der Elften, und sich dabei mächtig verschätzt. Ben war klar unterlegen, kämpfte aber immer weiter. Er spuckte hinterher Blut ins Waschbecken und warf sein T-Shirt in den Mülleimer.
„Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?”, fragte der Mann.
„Hab mich geschlägert”, sagte Ben, und senkte den Kopf. Die Schlägerei hatte auf dem Schulhof stattgefunden, und er hatte sich vom Rektor einiges anhören müssen. Man hatte sogar mit dem Schulverweis gedroht.
„Und? Hast gewonnen?”
„Nein.”
Der Mann zog die Brauen zusammen. „Ja, hast dich wenigstens tapfer geschlagen?”
Er sah auf. „Also ... ich denke schon.”
„Na dann, du wächst ja noch. Das kannst ihm sicher noch heimzahlen. Du musst immer fest zuschlagen, weißt du?” Der alte Mann ballte eine Faust, schlug in die Luft. „Wenn du zuschlägst, dann immer so fest du kannst. Mit halber Kraft bringt des nichts. Wenn schon, dann richtig.”
„Okay.”
„So fest du kannst!”
„So fest ich kann.”
Die neunte Klasse war die letzte, die ich mit Ben zusammen verbrachte. Er bekam eine neue Freundin, wurde sechzehn und hatte keinen Bock mehr auf Latein. Ich versuchte ihm zu helfen, aber als er endlich anfing, sich hinzusetzen, war es schon zu spät; die Grammatik wuchs ihm über den Kopf.
Als er die vorletzte Fünf bekam, war er ziemlich fertig.
„Was ist mir dir los?“, fragte der Mann.
„Läuft nicht so gut in der Schule.“
„Wieso? Hast wieder nichts gelernt?“
„Doch schon ... also jetzt auch nicht so viel, aber ...“
„Na woran hakt's denn? Mathematik?”
„Nein, Mathe passt schon, Latein ist das Problem.”
„Ach, Herrgott! Latein. Sind doch eh alles Arschlöcher, die Lateiner! Die mit ihren Sprüchen! Werd bloß nicht so ein Klugscheißer, Junge, bloß nicht.”
„Nein”, sagte Ben, „werde ich nicht.”
Danach verloren wir uns aus den Augen. Zwar schworen wir uns, weiterhin Homies zu bleiben – schließlich wohnten wir in derselben kleinen Stadt –, doch bald hatte ich eine Freundin, und er einen neuen Freundeskreis, und so ging halt jeder seinen Weg.
Eines Mittags, mitten in der zehnten Klasse, ging ich von der Schule nach Hause. Ich hatte Kopfhörer auf. Die Sonne schien. Lena wollte nachher vorbeikommen, und ich freute mich schon. Ich ging durch die Unterführung und dann merkte ich plötzlich, dass der alte Mann nicht mehr da war.
Wann hatte ich ihn das letzte Mal gesehen?
Ich runzelte die Stirn, drehte mich im Kreis.
Er war einfach verschwunden, so wie ein Kleidungsstück, das man früher häufig getragen hat, und dann irgendwann nicht mehr.
Ich nahm die Kopfhörer ab, suchte den Boden nach Bierflaschen ab.
Er war nicht mehr da.
Ich sah mich noch ein wenig um, dann setzte ich mich auf die Bank und breitete die Arme aus, spürte die Sonne auf meinem Gesicht. Die Schüler stampften an mir vorbei, die kleinen mit den bunten Rucksäcken, quietschend im Gespräch vertieft. Dann die großen: Hände in den Hosentaschen, dunkle Kleidung, Kopfhörer ...
Ich dachte an Ben und fragte mich, wie es ihm ging, und ob er noch mit Sina zusammen war. Ich fragte mich auch, ob der Alkoholiker noch lebte.
Irgendwann stand ich auf, und ging meinem Leben nach.
Eine Woche nach meinem achtzehnten Geburtstag bekam ich einen Anruf.
„Es ist für dich“, sagte mein Vater und reichte mir das Telefon.
„Hallo?“
„Hab gehört, du bist achtzehn geworden, du Hosenscheißer.“
Ich lächelte. „Ganz richtig ...“
„Na dann müssen wir das feiern. Heute Abend Zeit?“
„Heute Abend?“
„Ja, heute ist Freitag.“
„Also ... ja, eigentlich schon. Treffen wir uns in der Stadt?“
„In der Stadt? Welche Stadt denn? Lichtenheim, oder was? Wir fahren mit dem Zug nach Stuttgart, Mann. Du bist jetzt achtzehn!“
Wir trafen uns, wie all die Jahre zuvor, am Spielplatz. Ben war noch immer einen Tick größer als ich, aber nicht mehr so viel. Als er mich sah, schenkte er mir ein breites Grinsen. „Alles klar?“
„Ja, Mann.“
Ihm ging's gut. Er war von daheim ausgezogen, hatte eine eigene Wohnung in Lichtenheim, machte eine Lehre als Werkzeugmechaniker. Er wollte wissen, was mit Lena passiert war. Ich fragte, was mit Sina passiert war.
Als wir zur Unterführung kamen, traute ich meinen Augen nicht. Der alte Mann war zurückgekehrt. Er saß auf der Bank, trank sein Bier. Er war grauer und schmaler geworden, seine Wangenknochen traten hervor, doch die Mütze saß so schräg wie eh und je, und als er uns sah, da erwachte er zum Leben. Er grinste richtig, und mir fiel auf, dass es genau dasselbe Grinsen war, das mir Ben vorhin geschenkt hatte. Wirklich genau dasselbe. Manchmal denke ich, es war dieses Grinsen, das sie verband.
„Du hast ja deinen Freund wieder gefunden!“, sagte er.
„Ja“, sagte Ben. Er lächelte und klopfte mir auf die Schulter.
„Er ist ja auch groß geworden!“
„Das stimmt.“
„Wie geht’s dir?“, fragte mich der Mann.
„Ganz gut ...“
Alle lächelten.
„Ich bin Karle“, sagte der Mann.
„Ich bin Dani, freut mich.“
Ich reichte ihm die Hand, und er drückte sie fest.
Deutscher Hip-Hop war zu der Zeit voll in, und Stuttgart war, das glaubt man kaum, die Hauptstadt der Szene. Fanta Vier, Freundeskreis, Massive Töne ... alle aus Stuttgart. Ich war seit einer Woche achtzehn, hatte auch schon gefeiert, doch als ich am Stuttgarter Hauptbahnhof aus dem Zug stieg und die große Halle durchschritt, als ich all die jungen Menschen sah, den Alkohol roch, das Gelächter hörte ... da wusste ich, dass ich volljährig war.
Über so manchen Geburtstag habe ich mich schon gefreut, doch nie so sehr über einen wie in diesem Augenblick. Ich spürte es kribbeln in den Fingern, mein Herz schlug gegen meine Brust. Eine Handbremse war gelöst worden, und ich war mehr als bereit, Fahrt aufzunehmen. Rückblickend war dieser Ausflug nach Stuttgart vielleicht das coolste Geburtstaggeschenk, das ich je bekommen hab.
Ben lachte. „Wir sind noch nicht mal da, Mann.“
Er kannte sich wirklich aus. Er quatschte mit den Türstehern, stellte mir Unmengen Leute vor, zeigte mir zwei, drei Bars, und nahm mich mit in die „Röhre“. Wir tranken Bacardi aus der Flasche, bouncten auf der Tanzfläche und fühlte uns einfach nur verdammt cool.
Wir nahmen den ersten Zug um 5:20. Zu dritt. Ben hatte ein Mädchen dabei.
„Das ist Clara“, sagte er. „Sie kommt mit.“
„Hallo“, sagte sie.
„Hallo.“ Ich sah Clara an, stellte mir vor, wie meine Mutter sie im Bad antraf, wünschte mir auch eine eigene Wohnung.
Es regnete in Strömen, als der Zug in Lichtenheim hielt. Wir stiegen lachend aus, Claras Schuhe hallten durch die Unterführung.
„Hey Karle!“, sagte Ben.
Er lag auf dem Boden, bewegte sich nicht.
„Karle! Hey, alles klar?“
Er sah erschrocken auf, rieb sich die Augen, sah Claras Beine, rieb sich nochmal die Augen.
Ben lächelte, griff in die Hosentasche und legte eine Handvoll Kleingeld auf die Decke.
„Das versäuft er doch nur”, sagte Clara.
Ben ging weiter, nickte und dann, etwas leiser: „Und ich fick dich doch nur.”
„Was?”
„Hm?”
„Was hast du gerade gesagt?”
Ben wandte sich an mich. „Hab ich was gesagt?”
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich hab nichts gehört.”
Wir gingen bald jedes Wochenende zusammen nach Stuttgart. Glühten in Bens Wohnung vor und rannten dann zum Bahnhof.
„Auf geht’s, Karle wartet!“
Das war unser Spruch, wenn die Zeit knapp wurde. Weiß gar nicht, wer damit angefangen hat, war aber irgendwann Tradition: „Auf geht’s, Karle wartet!“
Und wenn er nicht da war, waren wir enttäuscht. Es gehörte einfach dazu, dass er da war. War der Auftakt in die Nacht. Ohne ihn dauerte es ein bisschen länger, bis Ben er selbst war und die Party starten konnte. Bis der Alkohol und das Gras und die Frauen und die Beats und alles andere folgen konnte.
Und dann kam der Winter. Wir trugen fette Bomberjacken, hatten beide eine Flasche Bier in der Hand.
Karle saß auf der Bank. „Hallo Jungs.“ Er hob das Bier in die Höhe.
Wir stießen an.
„Ziemlich kalt, was?“, sagte Ben.
Karle rieb die Hände ineinander. „Das ist eine Scheißkälte, sag ich dir, eine Scheißkälte!“
Er sah eigentlich munter aus.
Ben gab ihm etwas Geld. „Vielleicht setzt du dich wo rein ...“
„Ja, ja ... ihr mit eurer komischer Musik da ... passt ihr besser auf euch selbst auf! “
„Okay, Karle.“
Am Ende der Nacht waren wir ziemlich betrunken. Wir übertrieben es gerne damals. Wenn wir nicht irgendwann das Gefühl hatten, durch ein Loch im Kopf ins Weltall zu stürzen, war es kein gelungener Abend. Damals war das mit den Hangovers auch nicht so das Problem.
In der Nacht hatte es zu schneien begonnen. Karle lag in der Unterführung auf seiner Decke. Embryonalstellung.
„Hey Karle!“, jaulte Ben. „Yo Karle! Was geht, altes Haus?”
Karle bewegte sich nicht.
„Hey, Karle!“ Ben beugte sich vor, rüttelte ihn. „Hey, Karle!“
Er schubste ihn. „Karle!“
Und schüttelte ihn und schüttelte ihn und schüttelte ihn ...
Ich ergriff Bens Arm. „Er ist tot.“
Ben blieb lange Zeit still. Dann richtete er sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Es tut mir leid”, sagte ich, und es klang furchtbar platt in meinen Ohren.
Ben weinte, und ich wünschte mir, wir wären irgendwo anders, scheiß egal wo, Hauptsache nicht in diesem dunklen Scheißloch, das kalt war, und nach Pisse stank, und jedes von Bens Schluchzen lauter machte.
„Es war zu kalt”, sagte er.
„Ja ... war einfach zu kalt.“
Ben wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ballte eine Faust und schlug sich mit ganzer Kraft gegen die Brust. Dann tat er es wieder. Und wieder. Das Geräusch brummte durch die Unterführung.
„Hör auf”, sagte ich.
Er tat es, atmete durch, rang um Luft.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu. „Ben ...“
„Wir müssen ihn mitnehmen”, sagte er.
„Ben, er ist tot.”
„Aber wir können ihn doch nicht hier lassen ... bald kommen die Ratten.”
„Wir müssen die Polizei rufen, damit ...”
„Damit was? Er hat doch niemand. Wen soll denn der schon haben?” Ben kämpfte gegen die Tränen an. „Ich kann ihn nicht hier lassen, Mann.”
Ich seufzte. „Also gut, dann nehmen wir ihn halt mit.”
Er war federleicht. Ben nahm ihn auf den Arm und trug ihn aus der Unterführung. Karles Kopf ruhte auf seiner Brust.
Meine Augen blitzen in der Kälte hin und her. Ich versuchte Bens zielgerichteten Gang anzunehmen, möglichst normal zu wirken. Die großen Schneemonster fuhren vorbei und streuten Salz auf die Strassen.
Ben wohnte im obersten Stock eines alten Blockhauses. Er trug Karle nach oben, legte ihn auf den Balkon. Er war steif geworden, und wollte sich nicht in Sitzhaltung bringen lassen. Ich sah Ben zu, wie er mit Karles Muskelstarre kämpfte, wie er krampfhaft versuchte, Karles Beine zu krümmen und dabei schnaufte, verzweifelte, weinte. Ben ging auf die Knie, dann fiel Karle zur Seite, Ben fing ihn auf, dann ragten die Beine in die Luft.
„Ich helf dir.“
Ich hielt Karles Oberkörper fest, während Ben die Kniegelenke geschmeidig machte, auf und ab, auf und ab, wie ein Orthopäde. Und dann saß der Karle. Endlich saß er. Ich atmete auf.
Ben holte ihm eine Decke, wickelte ihn ein, setzte ihm die Mütze auf, drehte sie leicht zur Seite. So war's richtig. Nein, noch ein bisschen nach rechts. Er runzelte die Stirn. Oder doch so? Ja, ein bisschen nach rechts. Genau.
Ben richtete sich auf, bedachte seinen alten Freund mit einem liebevollen Blick.
„Was jetzt?“, fragte ich.
Ben blickte über das Geländer nach Lichtenheim. Es dämmerte.
„Willst du heim?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Okay, ich hol uns Decken.“
Wir setzten uns in eine Reihe auf den Balkon – Karle in unsere Mitte –, reichten eine Flasche Rotwein hin und her und schauten dem Sonnenaufgang zu. Es war bitterkalt draußen, aber der Wein floss gut und die Aussicht war schön. Vor uns taute Lichtenheim langsam auf. Rauch stieg aus den alten Fabriken, die ersten Autos schlitterten leise durch den Schnee, die Kirchenglocken läuteten.
Karls Augen waren noch offen, die Skleren gelb.
Ich deutete mit dem Kopf in seine Richtung. „Willst du sie schließen?“
„Was denn?“
„Seine Augen.“
Ben lehnte sich zurück, nahm wieder einen Schluck Wein. „Noch nicht ... lass ihn noch die Dämmerung geniessen.“
„Lust auf Musik?“, fragte Ben nach einer Weile.
„Ja, das wär cool. Freundeskreis?“
„Karle mag kein Hip-Hop.“
„Was mag Karle?“
„Er mag die Stones.“
„Die Stones?“
„Ja.“
„Aber ...“ – ich musste lächeln – „die haben doch auch lange Haare.“
Ben grinste. „Das hab ich ihm auch gesagt.“
„Und was meinte er?“
„Dass Mick Jagger ja auch wie ein Mädchen aussehe.“
Wir sahen Karle an, lachten beide.
„Ja, hast du Stones?“, fragte ich.
„Ein Album.“
„Exile on Mainstreet?“
„Nein ... Beggar's Banquet.“
Ich nickte langsam. Kannte ich nicht.
„Ist glaub ihr bestes Album.“
„Was ist drauf?“
„Es beginnt mit Sympathy for the Devil.“
„Und womit endet's?“
„Salt of the Earth.“
„Was hat Karle früher gemacht?“
Er zuckte die Achseln. „Gearbeitet, gelebt ...“
„Wo hat er gearbeitet?“
„Ich weiß es nicht ...“
„Weißt du, warum er manchmal draußen schlief?“
„Nein.“
„Hast du ihn denn nie gefragt?“
Er schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?
Ben schloss die Augen, lehnte sich weit zurück. „Weil es nicht wichtig war.“
Ich runzelte die Stirn. „Warum nicht?“
„Weil ... es halt nicht wichtig war. Karle unterhielt sich lieber über Fußball ... stimmt's Karle? Der FCK, was? Der Otto hat's allen gezeigt!“
Die Zeit verstrich. Als Mick verstummte, erhob ich mich. Ben schien zu schlafen.
Ich machte die Schiebetür auf.
Er drehte sich schnell um. „Schaust du morgen vorbei?“
Ich nickte.
Drei Tage später. Ich saß im BK-Unterricht und versuchte etwas zu malen, das mich an etwas Konkretes erinnerte, ein Auto oder so was. Ich bin quasi malbehindert. Smiley-Sonne und Kringelwolke, mehr geht nicht. Ich seufzte, lehnte mich zurück, hörte meine Klassenkameraden quatschen. Die Stimmen schmolzen zu einem Geräuschbrei. Wie im Freibad. Ich sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, und der Schnee ... war am Schmelzen.
Ich sprang hoch stürmte aus dem Raum.
„Ich kann mir keine Bestattung leisten“, sagte Ben. „Und Karle auch nicht.“
Wir standen bei ihm in der Wohnung.
„Aber wenn uns jemand sieht ...“
„Wir machen das heute Nacht. Uns sieht niemand.“
„Ben ...“
„Entweder bist du dabei, oder ich mach das alleine.“ Er zuckte mit den Achseln, ging in die Küche. „Pizza?“
Da hätte ich ihm glatt ne Faust geben können.
Wir saßen auf der Couch, hörten Musik, zählten die Stunden.
„Weißt du was das bedeutet, Salz der Erde?“, fragte Ben.
Ich nickte. „Bergpredigt. Ihr seid das Salz der Erde, das Licht der Welt. Hat Jesus zu seinen Jüngern gesagt.“
„Und kennst du den Rest?“
„Welchen Rest?“
Er sprang auf und holte eine Bibel vom Regal. Ich runzelte die Stirn.
Ben mit einer Bibel in der Hand, das war schon ein verdammt komisches Bild.
„Bist du jetzt fromm geworden?“
„Matthäus 5:13. Ihr seid das Salz Erde. Aber wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten.“
Wir packten Karle und zwei Schaufeln in eine schwarze Campingplane und trugen ihn zum Park. Ich hatte wieder eine Scheißangst, aber es war genau wie beim letzten Mal, niemand schenkte uns einen zweiten Blick. Wir fanden eine Stelle zwischen den Bäumen, ungefähr zwanzig Meter hinter Karles Bank, wo der Boden weich aussah.
In den Filmen sieht das immer so leicht aus. Man gräbt ein Loch, versenkt die Leiche und gut ist's. Unser Boden war oben schlammig und unten gefroren. Und dann die Steine, und die Wurzeln ...
Nach einer halben Stunde kam ich ins Zweifeln. Ich schwitzte unter meiner Jacke, das Loch sah nicht besonders tief aus, und meine Hände ... wir hatten nicht an Handschuhe gedacht. Ich hätte sofort welche holen gehen sollen, tat ich aber nicht. Ich sah Ben zu, wie er die Schaufel in die Erde stieß, total konzentriert, die Bewegung geschmeidig und kraftvoll, und dachte: Ach, das schaffen wir schon ...
Wir arbeiteten eine Stunde, ruhten uns eine Weile aus, arbeiteten eine weitere Stunde, und kamen irgendwie nicht voran. Die Schaufeln waren Scheiße. Wir mussten Karle doch mindestens einen Meter unter die Erde legen.
Mindestens.
Mit den Blasen verging mir die Lust. Die Rückenschmerzen, die Arme ... alles okay, aber diese Blasen an den Händen, damit kam ich nicht zurecht.
Wir mussten uns aus dem Staub machen, bald würden die ersten Menschen auftauchen, und sich fragen, was wir hier machten.
Wir packen das nicht. Das wollte ich Ben sagen, die Worte lagen schon auf meiner Zunge, doch dann sah ich den Ausdruck in Bens Augen und die Wut, mit der er gegen die Erde kämpfte. Ich sah auch die Flüssigkeit, die seine Arme herunterrann, kein Schweiß, sondern Blut. Seine Blasen waren aufgeplatzt.
Wir packen das nicht.
Nein, das konnte ich ihm nicht sagen. Lieber packten wir es einfach nicht.
Ich stemmte die Schaufel in die Höhe und warf sie in die Erde.
„Ist das tief genug?“, fragte ich Ben, als die ersten Schüler komische Blicke in unsere Richtung warfen.
Er lehnte sich auf die Schaufel, wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Es muss tief genug sein.“
„Okay.“
Wir legten Karle in das Loch.
Ben blickte lange in das Grab hinab, wirklich sehr lange. Ich wollte ihn nicht drängen, wollte aber auch nicht erwischt werden.
„Willst du noch was sagen?“, fragte ich.
„Nein.“
Ich reichte ihm die Schaufel.
„Warte ...“ – er blickte wieder ins Grab, atmete tief durch – „ich werde dich vermissen, Karle.“
Er fing plötzlich zu weinen an, hielt sich die Hände vors Gesicht. „O fuck, Mann ...“ Er schüttelte den Kopf. „Was mache ich jetzt?“
„Fest zuschlagen, würde ich sagen.“
Ben sah mich an, wischte sich eine Träne aus dem Gesicht – und nickte.
Wir schreiben das Jahr 2006. Hip-Hop ist tot und wir haben eine Bundeskanzlerin. Die Twin Towers gibt’s nicht mehr und die Mark auch nicht. Die Stones sind gerade auf Tour, und die Bayern sind immer noch oben.
Ben hat mich letzte Woche angerufen. Wollte wissen, wie es mir geht, hat gefragt, ob ich ein Klugscheißer geworden bin. Wir haben uns eine Weile nicht mehr gesehen. Er war verheiratet, drei Jahre lang. Ich war bei der Hochzeit, nettes Mädchen aus Kirchheim. Ist vorbei jetzt. Kinder gibt's keine. Ben hat sich eigentlich nicht viel verändert, er lebt und arbeitet in Lichtenheim, fährt noch immer mit dem Zug nach Stuttgart, ab und zu in Urlaub.
Ich studier so vor mich hin, mach grad mein Master. Kann nichts Besonderes berichten. Hab jetzt eine eigene Wohnung.
Nächste Woche fahr ich heim. Ich denke, wir werden über alte Zeiten quatschen, Karle besuchen und dann ordentlich einen drauf machen.
So wie immer halt.