Saltycake
Hallo, mein Name ist Mikki Kusanagi, aber meine Mitschülerinnen nennen mich Saltycake, weil ich angeblich süß aussehe, wenn ich weine.
Wenn das stimmt, sehe ich jetzt gerade süß aus.
Ich bin siebzehn Jahre alt und ich werde bald sterben.
Geboren wurde ich am 12.Mai 2138 auf Honshu in Japan. Ich war eines der letzten Kinder, dessen Gene bei der Geburt rein durch die Vermischung der Gene ihrer Eltern bestimmt wurden. Es war mein Großvater, Anno Kusanagi, der bestimmte, dass keine Manipulation an meinem Erbgut vorgenommen werden durfte. Meine Mutter Tokiko war darüber sehr traurig.
Ich liebe meinen Großvater für diese Entscheidung. Leider habe ich ihn niemals kennen gelernt, denn er starb bereits wenige Wochen nach meiner Geburt.
Kurz nach Großvaters Tod ertränkte mich Tokiko in der Badewanne und behauptete es wäre ein Unfall gewesen.
Es gab damals ein Gesetz, das es erlaubte, Kinder die im Alter von unter sechs Monaten an einem Unfall starben, zu klonen, um den Eltern die Trauer zu ersparen.
Da Großvater tot war, und sie seine Zustimmung nicht mehr einholen musste, hatte sie diesen Weg gewählt, um meine Gene doch noch an den Trend der Zeit anzupassen. Sie wollte nicht, dass ich dickes, schwarzes Haar und mandelförmige Augen bekam, in einer Welt wo alle Mädchen meines Alters westliche Gesichter, Haare und Brüste trugen.
Die Rechnung bezahlte sie mit Großvaters Erbe.
All das wusste ich damals nicht und ich wuchs sorgenlos und glücklich auf.
In der Schule hatte ich gute Noten, wie alle meine Mitschülerinnen. Ich war im Gymnastikteam und wir errangen internationale Preise.
Für die traditionelle Ferienreise vor dem Abschlussjahr gab es in der Regel nur zwei Ziele. Entweder man verbringt die Zeit auf einer der Inseln vor Dubai, oder in der schwebenden Stadt.
Ich wollte eigentlich gerne mit ein paar Freundinnen nach Dubai, während Tokiko meinte, eine so billige Reise würde unserem Ansehen schaden.
Wir hatten einen Streit, bei dem sie mir vorwarf undankbar zu sein und aufzählte, welche Opfer sie bereits für mein Wohlergehen gebracht hatte.
An diesem Tag erfuhr ich die Wahrheit über mein Äußeres.
Vater war hilflos, versuchte aber sein Bestes uns zu beschwichtigen. Schließlich erwähnte er, dass Großvater Anno bei meiner Geburt gesagt hatte er wolle eines Tages mit mir nach Kopenhagen reisen, um mir die Stadt zu zeigen, in der der letzte Krieg entschieden worden war.
Es machte mir nichts aus, dass ich in Kopenhagen genau so allein sein würde, wie auf der schwebenden Stadt. Vielmehr bereitete es mir Vergnügen Tokiko zu zwingen, sich diesem Wunsch von Großvater zu beugen.
Also bestand ich auf der Reise nach Dänemark.
Kopenhagen war, wie alle europäischen Städte, alt und dünn besiedelt. Die meisten Menschen lebten oder arbeiteten in den riesigen Pflegecentern auf dem Land, wo die alten Menschen aus der ganzen Welt ihre Tage verbrachten.
Am dritten Tag, als ich mir die Stadt ansah, lernte ich ein Mädchen kennen. Sie war ungefähr in meinem Alter und sie hatte eine Krankheit.
Eine Krankheit ist eine Störung von Körperfunktionen. In früheren Zeiten war so etwas weit verbreitet, aber heute ist Krankheit in unserer Gesellschaft weitgehend unbekannt.
Sie erklärte mir, Dänemark sei einer der wenigen Länder, in denen man mit einer Krankheit leben darf. In den meisten anderen Staaten, inklusive meiner Heimat, gab es Gesetze gegen Menschen mit Krankheiten.
Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, aber nicht nur wegen ihrer körperlichen Beeinträchtigung. Sie schien unaufhörlich nachzudenken. Immer wieder stellte sie Fragen über die seltsamsten Dinge, ohne je eine Antwort zu erwarten. Wenn man sich mit ihr über ein bestimmtes Thema unterhielt und auch nur einen Moment Pause machte, um etwas zu betrachten oder weil man abgelenkt war, gerieten ihre Gedanken und Assoziationen inzwischen völlig außer Kontrolle, und im nächsten Augenblick sprach sie von etwas völlig anderem.
Ich fand sie faszinierend. Was als eine Reise aus Trotz gegen Tokiko begonnen hatte, entpuppte sich als die schönste Zeit in meinem bisherigen Leben.
Ich verbrachte meine ganze restliche Zeit mit ihr, und wir taten auch Dinge, die Tokikos Meinung nach meinem Ansehen sehr geschadet hätten.
Unser Abschied war für mich sehr schmerzhaft. Ich konnte sie nicht wiedersehen, da sie sich weigerte virtuelle Medien zu benutzen, und aufgrund ihrer Krankheit war es ihr nicht erlaubt, Briefe zu versenden.
Es begann bereits auf dem Heimflug. Eine kleine Stelle zwischen meiner rechten Brust und der Schulter begann zu jucken.
Sie hatte mir ihre Krankheit gegeben.
Zuhause musste ich mich auf mein Abschlußjahr in der Schule vorbereiten.
Die Krankheit war anfangs nicht weiter hinderlich, aber die Stelle rötete sich schon bald, und juckte stärker.
Ich erklärte meinen Eltern, dass ich plante im letzten Jahr aus dem Gymnastikteam auszuscheiden, und auch kein anderes Sportfach wählen würde. Stattdessen wollte ich Biogenetik und Medizinhistorik in meinen Lehrplan aufnehmen.
Tokiko war entsetzt und meinte, diese Fächer wären wertlos und würden mich nicht weiterbringen. Ich setzte mich aber schließlich durch.
Die Vorbereitungen erwiesen sich als schwierig. Selbst, wenn es für manche ausgefallenen Fächer nicht unbedingt einen realen Lehrer gab, waren Lehrstoff und Unterricht jedoch gewährleistet. Doch für mich war es vorerst unmöglich, die zutreffenden Informationen im Web von den frei erfundenen zu unterscheiden. Zusätzlich genügten mir die zur Verfügung gestellten Lernunterlagen nicht. Es gab soviel was ich über das Leben früher wissen wollte. Die Auswirkungen von Krankheiten auf die Gesellschaft und das Individuum interessierten mich besonders. Solche Informationen waren erhältlich, aber der Suchvorgang erwies sich als zeitraubend, da sie noch auf Papier gedruckt waren.
Inzwischen wurde der Fleck größer. Es juckte unaufhörlich, und ich musste mich sehr diszipliniert verhalten, um mich nicht zu verraten.
Der Umstand, dass für meine Studien antiquierte Bücher notwendig waren, erwies sich als Vorteil.
Zwar wurde ich in der Bücherei nicht gerne gesehen, weil man jungen Menschen nicht die notwendige Sorgfalt im Umgang mit den alten Werken zubilligte, aber man durfte mir auch den Zutritt nicht verweigern. Drinnen herrschte ständig kühles Klima, um das Material zu schützen. Auch wurde darauf bestanden, Handschuhe zu tragen und generell jeglichen Hautkontakt mit den Büchern zu vermeiden.
Dadurch erhielt ich einen Vorwand, lange Kleidung zu tragen.
Bei meinen Nachforschungen entdeckte ich, dass es eine Pflanze gab, die fast überall auf der Welt wuchs, und die mir Linderung verschaffen konnte. Sie hielt die Krankheit nicht auf, aber das Jucken wurde erträglicher wenn ich die Blätter zerrieb und auf den Fleck auftrug.
Als die Schule anfing, hatte sich die Krankheit über meine gesamte rechte Brust ausgebreitet, sodass ich ständig die komplette Schuluniform trug, aus Angst jemand könnte etwas bemerken.
Der Unterricht selbst war enttäuschend. Da meine Hauptfächer sehr selten gewählt wurden, bekam ich dafür nur einen virtuellen Lehrer zugeteilt. Ich bemerkte schnell, dass ich bei meinen Vorbereitungen bereits mehr Wissen angesammelt hatte als er mir vermitteln konnte. Ich drängte ihn, mit dem Stoff schneller voranschreiten, aber er bestand auf der Einhaltung des Lehrplans.
Ich begriff auch nicht, warum ich noch in der Schule bleiben musste, wenn ohnehin für alle Fächer virtuelle Professoren angeboten wurden.
Seltsamerweise war das einer der wenigen Punkte von dem ich wusste, dass sich meine Meinung mit der Tokikos deckte, obwohl sie natürlich, mir zum Trotz, die gesetzliche Ansicht vertrat, dass die Schule als Ort des realen Zusammentreffens unverzichtbar für die soziale Entwicklung eines Menschen war.
Es war ein sehr heißer Sommer, und ich distanzierte mich zunehmend von den anderen. Bei jeder Gelegenheit stahl ich mich davon, um nach der Pflanze zu suchen und mich unbemerkt zu behandeln. Die Krankheit hatte bereits meinen Hals erreicht, und ich begann den Rollkragenpullover zu tragen, der erst für die kalte Jahreszeit vorgesehen war.
Ich vernachlässigte den Unterricht, der Lehrstoff bestand ohnehin nur aus grundsätzlichem Wissen und Daten, die für mich unerheblich waren. Stattdessen suchte ich nach Büchern im Netz, die ich mit denen aus der Bibliothek abgeglichen hatte. Ich las Romane und Biografien und ich sah mir Filme an. Ich war geradezu besessen davon, die Zeit zu verstehen, in der die Menschen zeitlebens mit Kriegen und Krankheiten konfrontiert waren.
Je besser ich die Vergangenheit verstand, desto klarer wurde mir, was mit der Gegenwart nicht stimmte.
Als ich meine Krankheit nicht länger verstecken konnte, holten sie mich direkt aus der Schule. Ich wurde in eine staatliche Institution überstellt, die für Menschen mit Krankheiten eingerichtet war.
Vater hat mich besucht und gemeint, er hoffe es würde alles in Ordnung kommen.
Tokiko war am Tag darauf gekommen, um mir Vorwürfe zu machen. Ich konnte ihr ansehen, dass sie wusste ich würde nicht zurückkommen.
Es macht mich traurig, dass sie die Situation anscheinend besser versteht als Vater.
Die unerfahrenen Ärzte brauchten drei Tage, um eine Diagnose zu erstellen. Danach brauchte die Maschine nur dreißig Minuten um mich zu heilen.
Sie haben mir meine Krankheit genommen.
Sie verstehen nicht, dass es zu spät ist, um mich zu heilen.
Die Menschen haben die Krankheit besiegt und den Krieg. Sie kennen keine Armut und keine Sorgen mehr. Aber was haben sie in den letzten hundert Jahren erreicht?
Ich kann nicht zurückgehen und so tun als wäre ich ein Teil einer Gesellschaft die mich anekelt.
Ich werde jetzt auf das Dach dieses Gebäudes steigen und diesen Brief und mich selbst dem Wind anvertrauen.
Die Schwerkraft wird uns beiden einen Platz in dieser Welt zuweisen.