- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Salto Mortale
Sie steht auf der Terrasse. Ihr Doppelkinn spiegelt sich in der frisch geputzten Scheibe des viel zu grossen Wohnzimmerfensters.
Heiss gebrühter Kaffe dampft in der Tasse vor ihr.
Ein ganzes Viertel hat sie aus der Schwarzwälder Torte herausgeschnitten und auf dem viel zu kleinen Teller platziert.
Eine Wespe kann dem Duft nicht widerstehen und schwebt im Landeanflug auf die Torte herein. Die roten Kirschen wirken auf sie, wie Positionslampem auf einem Flughafen.
Noch drei Meter.
Trotz des fülligen Körpers ist die Tortenbesitzerin unglaublich flink.
Zwei kurze Schritte Anlauf. ein Sprung so hoch wie der Sonnenschirm neben ihr, dann eine schnelle Drehung mit dem Kopf nach vorne, das Doppelkinn im Busen eingeklinkt - springt sie einen astreinen Salto und kommt mit beiden Füssen am Boden donnernd auf.
Die Fliegenklatsche in der rechten Hand wurde dabei sauber mitgeführt und bringt die Wespe durch die starken Turbulenzen aus der Flugbahn, so dass sie - wie diese einmotorigen Flugzeuge aus dem ersten Weltkrieg - schräg in die Tasse Kaffe stürzt und ihr Leben sofort beendet.
"Note 10", brummelt ihr Gatte, für den das Ganze nichts Besonderes ist. Schliesslich war seine Frau deutsche Meisterin im Bodenturnen - vor 10 Jahren.
Geschickt fingert er die Wespe aus der Tasse und präsentiert sie seiner Frau auf dem Tisch.
"Damit Du sie nicht schluckst", meint er. "Soll einem nicht bekommen - hab ich mal gelesen."
Verächtlich schiebt die Tortenbesitzerin das Insekt vom Tisch.
Unbemerkt holt ein kleiner Tross Ameisen - wie in einem Trauerzug - die Beute in ihr Nest.
Sorgfältig platziert sich die Herrscherin der Schwerelosigkeit, wieder in Ihren Liegestuhl neben ihren Gatten und meint zu ihm:
"Ich habe gelesen, dass die Zecken bald Saison haben. Du solltest wieder mal was dagegen tun!"
Brummig stellt er seine Bierflasche neben sich und steht auf und bemerkt im weggehen:
"Zecken leben nur im hohen Grass."
Er weiss das - er ist belesen.
Er geht in die Garage und holt den Mäher. Der Tank ist noch halbvoll. Er nimmt den Seilzug in Hand. Mit einer gekonnten Bewegung haucht er dem kleinen Viertakter Leben ein.
Die frisch geschliffenen Messer beginnen ihre mörderische Arbeit.
Unzählige Insekten werden längs oder quer zerteilt. Ärmchen und Beinchen wirbeln mit dem Gras in die Luft. Schnecken quellen aus ihren zermalmten Häusern. Ein Regenwurm wird enthauptet. Ein kleiner Laubfrosch hat keinen Rücken mehr.
Der Rasenmäher hinterlässt eine Schneise der Verwüstung.
Mit einem breiten Grinsen beobachtet die Tortenbesitzerin, wie der Rasen gestutzt wird. Diesmal werden die Zecken bei ihr keine Chance haben.
Das Mähmesser rotiert schnell. Ein Stein, nicht grösser als ein Vogelei, wird von dem Messer auf eine enorme Geschwindigkeit beschleunigt und mit einem hässlichen Geräusch - wie wenn ein Hammer auf einen Amboss geschlagen wird - aus dem Mähschacht befördert.
Die Besitzerin der Torte bäumt sich kurz auf - soweit es ihr Körperbau zulässt. Dann fällt sie in sich zusammen. Der Stein hat sie genau zwischen die Augen getroffen. Nur ein kleiner roter Fleck verrät die Stelle, in die das Geschoss eindrang. Ganz leicht sickert Blut aus dem Schädel.
Schnell hat es sich herumgesprochen, dass die Gefahr am Tortentisch vorbei ist. Von allen Seiten kommen die Insekten und schneiden sich Stücke aus dem Kuchen. Andere lösen Zucker mit ihrem Speichel auf und saugen den Saft gierig in sich hinein. Eine gelbschwarz - schön taillierte - Wespe macht sich an dem Bier zu schaffen. Zuerst am Flaschenrand, dann weiter in die Flasche. Zu spät stellt sie fest, dass sie ohne fremde Hilfe nicht mehr ihrem gläsernen Gefängnis entkommen kann. Verzweifelt schwimmt sie im Kreis und beobachtet, wie der Bierbesitzer plötzlich auf sie zukommt.
"Verdammte Steine - machen mir die Messer stumpf."
Er setzt sich erschöpft, für eine kleine Pause neben seine Gattin - ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen.
Strafe muss sein - hat sie ihm doch wieder mal geschickt die Arbeit aufgebürdet.
Durst plagt ihn und er schüttet sich das Bier hinein. Wie ein goldener Quell stürzt es in seinen Schlund. Noch schwimmt die Wespe in der Flasche und kämpft um ihr Überleben. Da wird sie mit einem ungeheuerlichen Sog in die Tiefe gerissen. Schon befindet sie sich im Inneren des Bierbesitzers. Sie versucht auf der Zunge noch Halt zu finden. Aber ein weiterer Schluck befördert sie in die Kehle. Mit letzter Kraft wehrt sie sich. Nur ein kleiner Stich in die Schleimhaut. Automatisch entleert sich ihr kleiner Giftsack in die Wunde.
Mit einem Schwall Bier wird sie wieder ins Freie befördert. Dann schwindet ihr Bewusstsein.
Als sie auf der Terrasse wieder zu sich kommt, sieht sie den Bierbesitzer noch zucken.
Sein Gesicht ist violett - fast so schön wie die Veilchen auf dem noch nicht bearbeiteten Wiesenabschnitt.
Ein Tross Ameisen hat Beute ausgemacht und macht sich wieder auf den Weg.
Diesmal werden sie Nahrung für einen ganzen Sommer haben.