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Sally
Nome, Alaska, Sonntag, den 24. September 1899,
vormittags um zehn Uhr am Strand
Trotz der Kälte lief sie barfuß durch den Schlick. Sie brauchte diese Abwechslung, diese Reize an ihren Füßen, die sie wieder zur Besinnung kommen ließen. Die Reize, die einen Schmerz an ihren Kopf meldeten, sobald sie auf eine der großen Muschelscherben trat, die in großen Mengen am Strand lagen. Oder wenn sie mit den nackten Zehen gegen einen unerwartet großen Stein stieß. Ihre zerstoßene Seele sehnte sich nach diesen Reizen. Wollte erkennen, dass da noch etwas anderes ist als die Schmerzen, die ihr so oft angetan wurden.
Die Reize, die von der Luft ausgingen. Sie atmete das Salz, das sich in ihrer Kehle und ihrem Rachen vom Atem niederschlug. Sie nahm die Luft durch den Mund auf, da sie schnell lief, beinahe so, als ob sie floh.
Der Kapitän der »Portland« hatte ihr einen ausgesprochen schlechten Preis für ihr Gold gegeben. Das Gespräch mit ihm und dem Zahlmeister verlief unerfreulich. Der Preis für das Gold war durch die reichen Funde hier und am Klondike River gesunken. Deshalb hatte sie das Schiff wütend wieder verlassen. Trotzdem liebte sie diesen Dampfer.
Sie kannte seinen Fahrplan, brachte er doch immer wieder die so wichtigen Vorräte nach Nome und trug ihre Briefe, vollgeschrieben mit ihren Impressionen, an ihre Ziehmutter, Cathy Woodstock, der Wirtin des The Washington Inn, nach Seattle. Wenn sie es einrichten konnte, so wollte sie diese einzige Verbindung zur zivilisierten Welt sehen. Seine beiden Schornsteine verbreiteten schwarzen Rauch, den sie bis zu sich an den Strand wahrnahm. Sie liebte diesen Rauch, diesen glutartigen, dennoch würzigen Duft nach brennender Kohle, vermischt mit Wasserdampf, Meersalz und Öl. Eine fast atemberaubende Gestanksmischung. Allein ihrer Seele tat diese alles andere als angenehme Luft gut.
Dieser Geruch bedeutete für sie Freiheit, Flucht aus dieser menschenfeindlichen Wildnis, in die sie sich vor zwei Jahren zusammen mit Jason O'Connor, dem Reporter der Seattle Morning Post, dessen Freund, dem Fotografen Sam Porter und ihrer Freundin und Kollegin Lizzy Oldfield begeben hatte.
Die Massage der feinen Sandkörner, die Eiseskälte des Wassers, die Schärfe des Salzes, all das regte zunächst die Durchblutung in ihren Füßen an. Die Wärme durchströmte sie. Zunächst ihre Zehen, den Rist, ihre Hacken. Und nahm anschließend ihren Weg durch ihren ganzen Körper. Sie spürte, wie die Bewegung der Füße in ihr Innerstes eindrang. Wie es etwas in ihr bewegte, veränderte. Hier am Strand war sie geborgen und einsam. Es war ihre Heimat, ihr ganz persönliches Stück Alaska. War der Salon einer Frau mitten in der Wildnis im nordwestlichsten Zipfel des Nordamerikanischen Kontinents. Ihre gute Stube mitten im Niemandsland der arktischen Wildnis.
Sie hatte sich weit entfernt von der Siedlung Nome, die aus Bretterbuden bestand, welche keinerlei Komfort baten, den sie aus Seattle gewöhnt war. Das einfache Leben machte ihr nichts aus, allein ihr fehlte die Zerstreuung einer großen Stadt, die Beschäftigung mit Musik, ihre Bücher, die Unterhaltung mit ihren Kunden und lieben Menschen. Die Straßen und Wege zwischen den einzelnen Blockhütten waren durch den Novemberregen zu schier undurchwatbaren Matschpfützen geworden. Behelfsmäßig hatte man Bretter verlegt, um nicht allzu tief im einzusinken.
Wie Nadelstiche schossen windgepeitschte Regentropfen in ihr Gesicht. Sie spürte sie aber nicht. Sie rannte, ohne es zu merken. Eiswasser umspielte ihre Füße, ohne dass sie dies spürte. Sie fror nicht, sie empfand Hitzewallungen in der Kälte.
Die Kälte drang, von Sally unbemerkt, in ihre Füße ein, kroch allmählich weiter nach oben und entzündete ein Feuer des Widerstandes in ihren Beinen. Ein Brennen, ein Glühen.
Aber dies waren nur Äußerlichkeiten, nichts im Verhältnis zu ihren inneren Schmerzen. Den Qualen, derer sie sich hier ausgesetzt hatte. Den Qualen, den sie hier für wenigstens einmal eine Stunde entrinnen wollte.
»Siebenundzwanzig Jahre. Mein Gott«, sagte sie leise vor sich hin. Sie blieb stehen, konnte nicht weiter. Sie spürte Schmerzen am ganzen Leib. Ein Brennen. Kein verlangendes, nein, ein vernichtendes Brennen. Sie verglühte innerlich. Sie kniete sich nieder, trotz Schneeregens am Strand. Die Kälte des Wetters verzischte auf ihrem heißen Körper, es stieg ein sanfter Nebel von ihr auf.
Dumpfes, unaufhörliches Rattern schwang derb und laut durch die Luft. Maschinen fraßen sich durch den Sand, getrieben von der allgegenwärtig einsetzbaren Dampfmaschine. Schwarze Ungeheuer, denen die Elemente Feuer, Wasser und Luft Leben einhauchten.
Jason ließ seinen Schreibblock sinken. Er nahm noch einen Schluck Kaffee aus der Blechtasse. Jemand spielte Klavier. Eine einsame Stimme der Kultur, menschlichen Genusses, in dieser rauhen Einöde. Walzerklänge.
»Wie unpassend hier!«, dachte er bei sich. Er betrachtete die einfache Einrichtung dieses Etablissements. Grob behauene Tische und Stühle, unlasiert, kaum glattgehobelt. Die Währung hier oben waren Goldstaub und Nuggets, kaum Dollar. Entsprechend glitzerte es hier und dort in den Ritzen und Spalten des Tresens. Der Kellner, ein ehemaliger Cowboy aus Tennessee, spülte das Geschirr vom Vortag. Er war ein wortkarger Geselle. Keine Unterhaltung für Jason, keine neuen Informationen heute morgen. Jason klappte seinen Block zu und grübelte. Gedankenfetzen flogen durch sein Bewusstsein und spiegelten sich in einem dreckigen Whiskyglas auf seinem Tisch.
Sally. Der Abschied von ihr würde ihm Schmerzen bereiten. Das wusste er. Sie wollte schon lange weg von hier, fliehen aus dieser kalten, trostlosen Landschaft, zurück nach Seattle. Warum blieb sie bei ihm hier oben? Er wusste es nicht. Das Gold?
Sally und Lizzy gehörte der »Golden Gate Saloon« gemeinsam. Sie hatte es mit Lizzy zusammen mit einfachsten Mitteln selber aufgebaut und Anfang des Jahres 1898 eingeweiht. Sally, das Mädchen. Sein Mädchen. Ihre Seele erschien ihm unergründlich tief. Für ihn unbegreifbar im wahrsten Sinne des Wortes. Fremd, denn trotz aller Widerlichkeiten wusste er, dass sie gerne hier bleiben würde.