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Saharasand
Ich glaube, das war vor drei Wochen oder so. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, nur dass es ein Donnerstag war, weil ich am Donnerstag in der ersten Stunde immer Mathe habe.
Jedenfalls konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Am Morgen beim Zeitungslesen habe ich diesen Artikel gesehen, von diesen Sektentypen und so, die glaubten, dass die Welt untergeht. Mir macht das immer etwas Angst. Ich meine, ich glaube ihnen nicht, aber irgendwie finde ich es trotzdem unheimlich. Das passiert mir öfters, dass ich Angst habe und gar nicht weiss wovor. Ich glaube, vielen Leuten geht es ähnlich.
Also, ich war in der Schule und eigentlich war nicht viel los. Ich sitze immer in der zweithintersten Reihe, weiss nicht weshalb, und meistens denke ich dann über irgendwelche Dinge nach. Ich habe in der Schule auch schon Briefe an meine Schwester geschrieben. Sie heisst Eliane. Sie ist vier Jahre älter als ich und sehr hübsch mit ihren langen, schwarzen Haaren und den traurigen Augen. Ich mag sie sehr, auch weil sie klug ist und weil sie mir immer Briefe schreibt mit verzierten Buchstaben und Blumen am Seitenrand.
An diesem Donnerstag aber hockte ich einfach nur in der zweithintersten Reihe und dachte über die Sekte nach und den Weltuntergang und alles. Die wollten sich umbringen, war in der Zeitung gestanden, weil dann würde ihre Seele irgendwie direkt in den Himmel transferiert. Ich verstehe nicht, wie Menschen auf solche Gedanken kommen. Ich verstehe viele Dinge nicht. Ein Lehrer hat mir mal gesagt, das sei nicht schlimm. Es gehe allen Leuten so. Das finde ich deprimierend, aber er sagt, es sei gut so.
Am Nachmittag dann geschah etwas Seltsames. Mein Vater erklärte mir später, dass es an den Winden aus dem Süden lag, die Saharasand aufgewirbelt und den ganzen weiten Weg übers Mittelmeer geweht hatten. Der Himmel verfärbte sich gelb. Aber nicht nur der Himmel, auch meine Kleider und die Bäume und Häuser wurden gelb. Es gab keine anderen Farben mehr, kein Rot oder Grün oder Blau, nur noch helles Gelb und weniger helles Gelb. Ich fand das unheimlich. Ich meine, es faszinierte mich, wirklich, ich sass draussen und sah den Himmel an. Dabei war es recht kalt. Es muss schon November gewesen sein oder wenigstens die letzte Oktoberwoche.
Beim Abendessen erklärte mir Vater alles über den Saharasand und so, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Sand so weit und so hoch fliegen kann. Nicht mal Vögel können das und die haben Flügel. Papa wusste es auch nicht so genau, aber es interessierte ihn auch nicht wirklich. Mein Vater liest sehr viele Bücher, aber richtig interessieren tut ihn eigentlich nichts. Ich weiss nicht, weshalb er die Bücher überhaupt liest. Er ist Buchhalter, glaube ich. Ich finde es langweilig, wenn er von der Arbeit erzählt. Mutter geht es gleich, aber sie sagt es ihm nie. Mutter ist sowieso sehr still, manchmal oder sogar meistens. Ich mag stille Menschen.
An diesem Abend konnte ich nicht recht einschlafen. Ich musste an die Sekte denken und an den gelben Himmel und hatte dabei immer dieses Gefühl, dass irgendwas schief ging, dass etwas nicht stimmte. Ich meine, es war so eine Art Vorahnung und ich hatte etwas Angst. Ich habe sehr oft Angst, ehrlich gesagt. Einmal musste ich zu einem Psychiater, weil ich die ganze Zeit Angst hatte und mein Zimmer nicht mehr verlassen wollte. Er gab mir Tabletten und so und seither habe ich weniger Angst. Der Psychiater hat mir gesagt, man könne sogar Sterben vor Angst. Er hat mir auch gesagt, dass es keinen Sinn hat, Angst zu haben vor Dingen, die wir nicht beeinflussen können. Das habe ich verstanden. Ich meine, wenn die Welt untergeht, dann kann ich doch nichts dagegen unternehmen, oder? Also, weshalb sollte ich Angst haben? Aber manchmal habe ich halt trotzdem Angst und dann kann ich nicht schlafen.
Was ich noch weiss ist, dass irgendwann nach Mitternacht eine Katze im Garten zu miauen begann. Dann bin ich eingedöst, aber nicht richtig. Ich habe gehört, wie die Haustüre quietschte und auch die Schritte meiner Schwester, aber ich war nicht richtig wach und habe gar nicht darüber nachgedacht. Wahrscheinlich hätte ich sonst vor Schreck einen Herzstillstand gehabt oder so und wäre wirklich vor Angst gestorben. Mein Psychiater hätte die Geschichte sicher weitererzählt, glaube ich.
Wenn ich mich jetzt so zurückerinnere, weiss ich noch, wie leicht die Schritte geklungen haben. Ich kann die meisten Menschen nur an ihren Geräuschen erkennen. Wie sie atmen, wie sie gehen und so. Meine Schwester klingt immer als würde sie gleich vom Boden abheben und durch die Gegend schweben. Sie ist nicht magersüchtig, sie ist eigentlich sehr hübsch, aber sie ist eben auch elegant und leichtfüssig und sie fliegt eher als dass sie geht. Ich mag sie sehr, wirklich.
Ich weiss noch, dass sie dann in mein Zimmer geschlichen kam. Sie machte das Licht nicht an, aber ich sah sie trotzdem. Ihre Silhouette bewegte sich im Mondlicht. Etwas glitzerte in ihren Augen. Sie hat so Augen, die ständig ein wenig glitzern. Mich erinnert das immer an Feen aus den Märchen.
„Was machst du hier?“, war glaube ich die erste Frage, die ich ihr stellte. Es war nicht sehr freundlich, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Ich freute mich eigentlich, sie zu sehen. Ich hatte sie sogar richtig vermisst. Aber es war ein Uhr oder so, mitten in der Nacht. Ich wusste nicht, weshalb sie hier war. Eigentlich hätte sie jetzt in Genf sein müssen, bei der Arbeit. Sie arbeitet nämlich dort, an der Rezeption in einem Billighotel oder einer Jugendherberge oder so. Ich weiss es nicht. Sie schrieb ein paar Mal in den Briefen darüber. Vor allem über die Gäste. Sie schreibt am liebsten über Leute, die ihr begegnen. Manchmal kamen komische Leute in der Nacht bei ihr vorbei. So uralte Leute mit Runzeln, die ihrerseits schon wieder Runzeln hatten und die stockbesoffen waren und die fragten, ob Eliane ihnen Geld für ein Bier geben könne. Ich hätte Angst gehabt. Betrunkene Leute machen mir immer Angst. Sogar mein Vater, manchmal. Früher hat er mich einmal geschlagen, als er betrunken war, und ich habe die ganze Nacht hindurch geweint. Er hat auch mal Eliane geschlagen, aber sie hat nicht geweint. Sie ist ein starkes Mädchen, sehr sogar. Ich glaube, Vater hat wegen ihr mit dem Trinken aufgehört.
An die Antwort meiner Schwester kann ich mich noch genau erinnern. „Ich wollte dich sehen“, raunte sie durch die Nacht. „Es ist nicht so wichtig, aber ... Ich wollte dich sehen.“ Sie klang sehr nachdenklich. Sie hat so eine Stimme, die immer nachdenklich klingt, fast als wäre sie eine Art Philosophin. Sie ist auch sehr klug, glaube ich. Hätte Vater nichts dagegen gehabt, wäre sie ans Gymnasium und hätte Medizin studiert oder so. Ich zog meine Beine an, damit sie sich auf die Matratze setzen konnte. Sie hatte nur ein T-Shirt an, merkte ich, obwohl es recht kalt war.
„Hast du heute Nachmittag den Himmel gesehen?“, wollte ich wissen.
„Ja, hab' ich. Er war gelb. Es sah seltsam aus.“
„Mhm.“
Sie schwieg eine Weile. Sie hat ein sehr dominantes Schweigen, finde ich. Wenn sie schweigt, bin ich meistens auch ruhig. Sie redet sowieso nicht viel, genau wie Mutter. Ich mag Leute, die nicht viel reden. Meistens sind sie die viel netteren Menschen als die, die die ganze Zeit reden und reden.
„Wie geht's in der Schule“, fragte sie nach einer Weile.
„Okay. Nichts Spezielles.“
„Hast du noch immer Probleme mit diesem Toby oder wie der Kerl heisst?“
„Nein“, sagte ich, auch wenn es nicht stimmte. Es war gelogen, eigentlich, weil mich Toby erst ein paar Tage vorher zusammengeschlagen hatte bis ich weinend unter dem Tischtennistisch lag. Ich weine sehr oft, obwohl ich schon elf bin. Manchmal hasse ich mich dafür. Jungs sollten nicht weinen. Ich hasse auch immer diese Leute in den Kinofilmen, die weinen weil ihr Vater in den Krieg zieht. Und dann weine ich selber wegen irgendwelchem Unsinn. Ich wollte jedenfalls Eliane nichts davon erzählen.
„Wie geht es Mama und Papa?“
„Sie schlafen, glaube ich. Willst du sie wecken?“
Sie schüttelte den Kopf. Ich merkte, dass sie ganz nach vorne gebeugt dasass und das Kinn auf ihre Hände stützte. Haarsträhnen fielen ihr vor's Gesicht. Ich fand, dass sie irgendwie traurig aussah.
„Bist du mit dem Auto gekommen?“
„Mhm“, sagte sie. „Ich muss bald weiter.“
„Wohin?“
„Ich weiss nicht. Ich habe keine Ahnung.“ Sie stand auf. „Ich muss ein paar Sachen aus meinem Zimmer holen. Bleibst du wach?“
„Mhm.“
Als sie das Zimmer verliess, richtete ich mich etwas auf und machte das Licht an. Eliane hatte die Türe einen Spalt offen gelassen und im Flur war es ganz finster. Ich finde das immer unheimlich. Ich stelle mir dann vor, dass sich dort Wölfe und Krokodile verkriechen. Oder noch schlimmer. Einmal, in einem Albtraum, bin ich aus dem Bett aufgestanden und ins Dunkel geschritten. Das Schlimme war: Es befand sich einfach nichts dahinter. Nur gähnende Leere, absolut schwarz und ohne Ende. Mir wird noch heute ganz kalt wenn ich so daran denke.
Eliane brauchte nicht lange. Sie ist meistens schnell. Als sie ins Licht trat, fielen mir ihre roten Augen auf, die aussahen als hätte sie die ganze Fahrt hindurch von Genf bis hierher geweint. Aber das konnte nicht sein. Sie ist viel tapferer als ich. Auf den Schultern hatte sie einen Rucksack. Darin waren vor allem Kleider und so, erklärte sie, weil sie vergessen hatte, ihre Sachen aus Genf mitzunehmen.
Sie hockte wieder aufs Bett und sah mich lange an. Bei den meisten Leuten hasse ich es, wenn sie mich ansehen, aber Elianes Blicke waren nicht neugierig oder so. Sie sagte: „Ich habe dir Schokolade mitbringen wollen, aus Genf. Ich habe alles vergessen.“
Dann schwieg sie und schaute aus dem Fenster. Einmal sah es so aus, als wolle sie etwas sagen, aber sie überlegte es sich dann doch anders. Nach einer Weile legte sie mir eine Hand auf die Wangen. Die Finger waren ganz kalt, aber dann umarmte sie mich und ich merkte, wie warm ihr Körper eigentlich war. Ich mag das, von meiner Schwester umarmt zu werden. Meine Mutter tut das nie. Meine Mutter hat Angst davor, mich auch nur anzufassen. Ich glaube, sie mag mich nicht sehr. Aber meine Schwester, sie ist immer nett zu mir.
Irgendwann flüsterte sie: „Ich muss bald gehen.“ Sie presste die Lippen zusammen und starrte die Decke an. Gequält fügte sie hinzu: „Mein Freund wartet auf mich. Wir müssen schnell weiter, bevor ... Er ist nur wegen mir hierher gekommen, eigentlich hätten wir gleich über die Grenze sollen. Aber ich ...“
Die Worte gingen in Gemurmel unter. Ich weiss nicht, wen sie mit 'Freund' gemeint hat. Sie erklärte es mir nicht. Sie hat auch nie in ihren Briefen über einen Freund geschrieben. Aber ich glaube, sie mag ihn sehr. Sonst hätte sie nicht so schnell aufbrechen wollen.
„Danke“, sagte ich. „Ich meine, dafür, dass du mir Schokolade bringen wolltest.“
„Schon gut, ich hab' sie ja vergessen.“ Eliane seufzte. Sie stand auf und trat ans Fenster. Von dort aus kann man direkt in den Wald sehen mit all seinen Ungeheuern. Ein paar Minuten lang starrte sie hinaus. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ich glaube, sie hat auch etwas geweint. Manchmal hörte ich sie wimmern. Als sie sich dann wieder zu mir wendete, stammelte sie ohne Pause zwischen den Worten: „Dario, willst du mitkommen?“
„Wohin?“
Sie schloss die Augen. Sie war ganz verkrampft, irgendwie. Als würde ihr Körper gleichzeitig vorwärts und zurück schreiten wollen. Doch schliesslich schüttelte sie den Kopf und wurde ruhiger. Sie flüsterte: „Das alles macht keinen Sinn. Ich sollte endlich gehen.“
„Wie lange gehst du denn fort? Ich habe morgen Schule und wenn Pa mich nicht ...“
„Lange, Dario“, sagte Eliane. „Zu lange. Es tut mir Leid. Ich muss gehen.“ Sie trat zur Türe. Sie schluckte ihre Tränen hinunter, auch wenn es ihr schwer fiel, glaube ich. Aber Eliane kann sehr streng mit sich sein. Ich glaube aber, sie hatte Angst. Bevor sie mein Zimmer verliess, hat sie mir noch einen Blick zugeworfen. Mit ihren glitzernden Augen. Daraufhin habe ich Hühnerhaut bekommen und es wurde mir ganz kalt.
Sie ist dann gegangen. Ich konnte noch ihre Schritte hören und wie sie mit dem Auto davon fuhr. Danach wurde es still und dunkel.
Ich habe sie nicht mehr gesehen und sie hat auch keine Briefe geschrieben. Pa redet nicht über Eliane. Nur über seinen Job. Und Mutter ist sehr still, wie immer. Ich glaube, meine Schwester ist irgendwohin gegangen, zum Reisen und so. Vielleicht nach Australien, wobei ich das nicht weiss. Vielleicht schreibt sie ja bald einmal eine Karte.
Selber bin ich wieder unter die Decke geklettert und habe über viele Sachen nachgedacht. Wenn ich nachdenke, kann ich nie schlafen. Ich kann auch nicht einfach aufhören zu denken. Es kommen immer neue und neue Gedanken und meistens sind sie wirr und dann vergesse ich sie auch gleich wieder. Ich weiss noch, dass ich sehr deprimiert war. Etwas an Eliane hat mich so traurig gemacht. Sie hatte nicht gelacht, die ganze Zeit über, und ausserdem war sie irgendwie weit weg gewesen, weiter weg als Australien. Ich glaube, sie wäre lieber bei mir geblieben. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wirklich nicht. Aber Eliane ist manchmal sehr streng mit sich. Ich verstehe das nicht, doch letztlich verstehe ich sowieso fast überhaupt nichts.
Ich erinnere mich aber noch daran, dass der Himmel am nächsten Morgen nicht mehr gelb war. Vielleicht noch ein bisschen, aber nicht mehr so wie am Donnerstag.