- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Sage um des Teufels Kirchlein
Der Alltag der Menschen, welche den vorderen Teil des sonst noch unbewohnten Tösstals urbar machten, war durch magisches Denken mitbestimmt. Dies schloss Angst vor Unerklärlichem und Ehrfurcht vor den Naturgöttern ein. Um sich gegenseitig vor Übergriffen schauerlicher Kobolde oder anderer Gefahren zu schützen, bauten sie ihre Hütten dicht beisammen. An diesem Ort wohnten das Mädchen Goldlöckli und der Knabe Isefüschtli. An einem schönen Hochsommertag war es deren Aufgabe, am Waldrand Beeren zu pflücken, die in voller Reife standen. Ab und zu steckten sie sich auch selbst eine in den Mund. Eigenartig war, dass die Beeren, je weiter im Waldesinneren sie reiften, umso intensiver schmeckten. Wohl wussten Goldlöckli und Isefüschtli, dass sie nicht in den Wald hinein gehen durften, da tief drinnen eine andere, verzauberte Welt vorherrschen soll. Es war eben jene von schrecklichen Kobolden, die durch die Siedlungsbewohner selbst noch nie gesehen wurden, was die Vorstellung über diese aber nur noch wirrer und phantasievoller gestaltete. Mit den Eltern zusammen waren sie manchmal schon bis zu etlichen Baumlängen weit in den Wald vorgestossen, um Fallholz zu sammeln. In diesem Gebiet müsste es also noch ungefährlich sein. So wurden sie von den immer süsser werdenden Beeren tiefer und tiefer in den Wald gelockt. Sie merkten gar nicht, dass der Waldrand sich mehr und mehr entfernte. Hin- und herlaufend, kletterten sie über Felsstücke und von Stürmen geknickte Bäume, darob die Zeit und die Welt vergessend.
Die Sonnenstrahlen warfen ein liebliches Licht durch das grüne Laub. Heiteres Vogelgezwitscher ertönte, und manchmal huschte weiter entfernt ein scheues Waldtier vorbei. Sogar die Blumen an den lichten Stellen schienen einen betörenden Duft auszuströmen.
Es musste schon später Nachmittag sein, als plötzlich ein tiefes, urweltliches Grollen ertönte, als ob alle Drachen, von denen sie aus alten Sagen hörten, hier zusammentrafen. Ein heftig aufkommendes Gewitter kündigte sich an. Sie wussten um die Gefahren, wenn die Götter der Natur grollten. In dieser rauen Gegend war ihre Gewalt allgegenwärtig, ihrer Macht alles Leben untertan. Die Sonnenstrahlen verschwanden schlagartig. Die lieblichen Laute des Vogelgezwitschers verwandelten sich in ein unruhiges Rufen und Zetern.
Goldlöckli und Isefüschtli schauten sich erschreckt an, es war Zeit sich schnell auf den Heimweg zu machen. Sie packten ihre Beerenkörbe, die prall gefüllt waren, obwohl sie etliches gleich vernascht hatten, und machten sich auf die Suche nach dem Waldrand. Der Regen begann auf das Blätterwerk zu prasseln und ein heftiger Wind kämmte durch den Wald. Richtungen, die vorher leicht begehbar waren, schienen nun plötzlich undurchdringbar, als ob Gehölz und Geröll zu einer kompakten Wand zusammengeschlossen sei. Goldlöckli und Isefüschtli hielten sich trotz der schweren Körbe fest an der Hand, um einander nicht zu verlieren. Isefüschtli hatte nur geringe Angst, er war als mutig bekannt, und Goldlöckli wusste sich von ihm beschützt.
Da war ein Bach, es musste jener sein, der aus dem Wald tretend nahe an ihrer Siedlung vorbei in einen Fluss mündete. Jetzt hatte er sich allerdings in ein tosendes Wildwasser verwandelt, da der starke Regen kein Ende nehmen wollte. Goldlöckli und Isefüschtli wählten den Heimweg nun am Bachlauf entlang, damit sie sich nicht verirren. An einer Stelle mussten sie ganz dicht am Ufer entlang gehen, da das Dickicht undurchdringbar war. So geschah es, dass Goldlöckli ausrutschte und Isefüschtli, der sie nicht losliess, mit in die Fluten riss. Isefüschtli war zwar ein guter Schwimmer, aber in diesem hochgehenden Wasser nutzte dies auch nicht viel. Die Körbe mit den Beeren waren verloren. Ein vom Sturm in die Fluten gerissener Baumstrunk, der in den Wasserstrudeln mit trieb, gab ihnen rechtzeitig einen rettenden Halt. Das glaubten sie im Augenblick wenigstens. Doch das Quirlen, Gluckern und Tosen des Baches ging plötzlich in ein anderes Geräusch über, ein tiefes Brummen und Stampfen, wie aus einem Höllenschlund. Es wurde immer lauter und lauter, die Strömung hingegen behutsamer.
Goldlöckli und Isefüschtli, sich am Baumstrunk als auch aneinander festhaltend, mussten plötzlich erschreckt feststellen, was da auf sie zukam. Es war ein Wasserfall. Ein Moment schien alles stillzustehen, dann wurde der Baumstrunk wie mit einer Riesenfaust durch die Luft geworfen, gewirbelt und schien dann endlos zu fallen, bis er auf der Wasserfläche in der Tiefe aufschlug. Hier musste der Übergang in eine andere Welt sein.
Goldlöckli und Isefüschtli wurden durch den fürchterlichen Sturz ohnmächtig, aber wie ein Wunder geschah ihnen sonst nichts. Von der durch den Wasserfall vorhandenen Sogwirkung wurden sie hinab gezogen, aber bald darauf wieder hinauf gestossen und auf eine Sandbank geworfen, die sich in einer höhlenartigen Vertiefung der Felswand bildete.
Die Dämmerung brach herein, als das Gewitter endgültig wegzog und zunehmend einem friedlichen Sternenhimmel Platz machte. Goldlöckli und Isefüschtli lagen wie in einem tiefen Schlaf auf der Sandbank. Sie sahen darum die wüsten Kobolde nicht, die am Ufer auf der anderen Seite herum sprangen und nach einer Möglichkeit suchten, das Gewässer zu überqueren, um der beiden Kinder habhaft zu werden. Doch es waren da keine Steine, über die sie springen konnten, da der Wasserstand noch viel zu hoch war. Auch gab es keine starken, hinüberragenden Äste, die tief genug hingen. So sprangen die Kobolde nur mit vor Lust geifernden Mäulern herum, die Blicke nicht von der Sandbank lassend. Dadurch bemerkten sie, das durch die Luft schwebende Elfenpaar nicht, das von dem Koboldgeschrei aufgeschreckt, nach dem Rechten sehen kam.
Den zwei Menschenkindern musste schnell geholfen werden, denn wenn der Bach wieder einen normalen Wasserlauf hat, könnten die Kobolde diesen überqueren und die Kinder in ihre Höhlenunterwelt verschleppen.
Schnell holten sie einige weitere Elfen herbei, die trotz ihrer Zierlichkeit die beiden Kinder durch die Luft wegzutragen vermochten. Die zottelhaarigen Kobolde fielen in ein grauenhaft tönendes Wutgeschrei aus, denn sie wussten, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten. Die Elfen entschwanden mit den Kindern in Richtung des Reichs der guten Fee Sanftmuet, die sich den schönsten Platz des Waldes zu Eigen machte und gegen deren Zaubermittel die Kobolde hilflos waren.
Als die Kinder erwachten, lagen sie in einem weichen Bett aus Moos und wurden von der warmen Morgensonne angelacht. Elfenmusik ertönte, so schön, fein und zart wie diese lieblichen Geschöpfe selbst waren. Es war ein friedlicher Ort in einer Wunderwelt. Aus der Höhe floss reines, kristallenes Wasser. Es war eine Quelle, die sich über einen von Moos völlig überwucherten Felsen verbreitete. Er glich einem riesigen Edelsteinfeld, denn in der Morgensonne glitzerte es vielfarbig im feuchten Moos.
Der Elfengesang verkündete das Erwachen der Kinder, und die gute Fee Sanftmuet kam zu ihnen. Sie war edel und gütig anzusehen, so dass Goldlöckli und Isefüschtli sich in dieser unbekannten Zauberwelt keinen Moment fürchteten. Das Frühstück, das ihnen gereicht wurde, war besonders köstlich. Milch, Honig und Beeren von einem solch mundenden Geschmack, wie sie es noch nie kosteten.
Sie waren überglücklich und könnten sich gut vorstellen, für immer hier zu bleiben. Doch nachdem sie fast den ganzen Tag mit den Elfen spielten, ermahnte die gute Fee Sanftmuet die beiden Kinder, sie müssten wieder nach Hause zurückkehren, da ihre Eltern sicher sehr traurig seien. Diese mussten annehmen, dass die Kobolde sie verschleppten. Damit ihnen nichts mehr zustiess, beauftragte die Fee einige Elfen, die Kinder bis zu ihrem Wohnort zu geleiten und auch viele Beeren sowie Honig mitzunehmen.
Die Kinder jedoch bat sie um Stillschweigen über das Zauberhaft friedliche dieses Ortes, da sonst Menschen hier eindringen und das Feen- und Elfendasein ein Ende nähme. Sie sagte ihnen, sie sollten so berichten, wie es früher an diesem Ort war, als der Teufel ihn beherrschte. Damals hatte hier an dieser Quelle ein Teufel gehaust, der von der berauschenden Landschaft begünstigt, alles Liebliche in seinen Bann zog. In einer Grotte unter dem Quellgebiet hatte er einen täuschend schönen Kirchenchor eingerichtet und den moosigen Felsen pries er als paradiesischen Altar, so dass es den Eindruck erweckte, hier sei ein Platz der Götter. Faune dienten ihm als Untertanen dazu, mit List und Musik andere Wesen anzulocken. Wer sich jedoch nicht vorsah und sich täuschen liess, wurde immer tiefer ins Innere des «Tüfels-Chilen» geführt, um an einer finsteren Stelle über einen Abgrund in den Höllenschlund gestossen zu werden.
Ein bitterer Zaubertrank, den die gute Fee Sanftmuet anpflanzte - der noch heute dort in Kräutern zu finden sein soll -, schützte die Bewohner vor dieser argen Zeit, die niemand mehr heraufbeschwören soll.
Als sich die Kinder von den Elfen geleitet wieder sicher zu Hause einfanden, beladen mit Beeren und Honig von besonders köstlicher Qualität, hörten sich die Eltern und die andern Bewohner der Siedlung furchtsam und zugleich die beiden Kinder bewundernd, die Erlebnisse um dieses Teufels Kirchlein an. Noch mehr als die Kobolde, fürchteten sie fortan den Teufel und seine «Tüfels Chilen».
Irgendwann muss dann doch jemand bis dort vorgestossen sein, der diesen wunderschönen Ort frevelte, denn seit langem wurde die gute Fee Sanftmuet mit ihrer lieblichen Elfenschar nicht mehr gesehen. Doch der Teufel soll sich dank des nachhaltigen Zaubers auch nicht mehr eingenistet haben.