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Sag ich doch
Sag ich doch
Schon wieder. Warum nimmt er überhaupt den Schulbus? Jeden Tag...
Der alte Mann.
Die Person, die es immer wieder schafft, innerhalb weniger Sekunden den ganzen Bus in Aufruhr zu versetzen. Immer die selben Nörgeleien. Kein Respekt, keine Sitten, keine Moral. Nichts hätte noch Wert für uns, maulte er immer.
Anfangs nahmen wir es noch gelassen zur Kenntnis, dass ein verbitterter Mann meint, es wäre seine neue Lebensaufgabe, uns zu erklären wie wir was zu tun hätten.
Immer wieder baute er in seine Sätze "Sag ich doch" ein. Wir konnten nur vermuten, er wollte damit seiner Aussage mehr Wirkung verleihen.
Das hörte sich dann ungefähr so an: Ihr undankbaren Rotznasen werdet sogar zur Schule gefahren. Sag ich doch. Verweichlicht seid ihr! Wir waren in eurem Alter schon froh, wenn wir die Zehn Kilometer zur Schule in Schuhen gehen durften. Sag ich doch.
Das nahm dem Gesagten immer, etwas unfreiwillig, den Ernst. Wenn wir es aber wagten, zu lachen drohte er uns mit seinem Stock. Einmal musste er sogar aus dem Bus aussteigen, weil er jemanden mit dem Stock schlagen wollte. Der Busfahrer hatte angehalten und ihn rausgeworfen. Seitdem war er vorsichtiger geworden, was seinen Stock angeht. Aber der Respekt blieb. Mich hatte er schon immer besonders auf dem Kieker. Warum, weiß keiner so genau.
Er bleibt neben mir stehen. Einen Sitzplatz hat er keinen. Wer hat schon Lust sich die ganze Busfahrt lang irgendwelches Gemaule, über die heutige Jugend anzuhören? Er fordert mich nicht sehr dezent auf, den Platz für ihn zu räumen. Ich versuche ihn freundlich davon zu überzeugen, dass meine Freundin neben mir unbedingt etwas unglaublich wichtiges zu erzählen hat und deswegen nicht von mir getrennt werden sollte. Plötzlich geht es wieder los. Einer neuer Grund auf Gott und die Welt zu schimpfen ist gefunden worden. Den Speichel nicht immer hinter seinen Lippen gefangen haltend, klärt er mich über den Mangel meiner Manieren und sonstiger lebenswichtiger Dinge wie Patriotismus und (Sag ich doch) Arbeitsmoral im Krieg auf.
Jetzt sehe ich diesen Mann schon seit zwei Jahren in diesen Bus ein- und aussteigen und nie hat er mich so auf die Palme gebracht wie jetzt.
Mir seine ekelhafte Spucke vom Gesicht wischend, bleibe ich sitzen und versuche kramphaft seinem starren Blick standzuhalten. Immer wieder dieses Gelaber von irgendwelchen Richtlinien und Gesetzen hörend, spüre ich wie der Drang, es ihm zurückzuzahlen steigt.
-"Was glaubst du eigentlich, hast du dir selber verdient? Nichts! Sag ich doch. Und weißt du warum? Weil dir alles gebracht und geschenkt wird. Und anstatt deinen Eltern dafür zu danken, sitzt du hier in diesem Bus und lässt nicht mal einen alten Veteranen Platz nehmen."
-"Verdammt wenn sie so dringend an diesen Platz wollen, dann können sie mich doch wie ein normaler Mensch fragen, anstatt hier so loszumeckern."
-"Ich muss normal fragen? Ich habe mein Vaterland bis aufs letzte verteidigt und muss nach diesem Platz fragen? Ich bin älter als du und deine Freundinnen zusammen und muss nach diesem Platz fragen?"
Für was hält der sich eigentlich? Das muss ich mir doch nicht gefallen lassen.
-"Sie alter Sack. Was glauben sie denn wer sie sind? Ich fass es einfach nicht. Sie bilden sich ein, jeden Platz angeboten zu bekommen, nur weil sie Steinalt sind. das glaub ich einfach nicht. Was für ein Mensch sind sie überhaupt? Soll ichs ihnen sagen? Ein alter verbitterter Sack sind sie!"
Was hatte ich da getan? Ich hatte einen alten Mann beleidigt und angeschrien. Und das krasseste war, dass der ganze Bus mir zugejubelt hatte. Nur ein paar wenige schlugen sich auf die Seite des Alten. Hochrot hatte sich dieser zur Tür gedrängt und war bei der nächsten Gelegenheit ausgesitegen.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Dieser Mann war in seinem Stolz verletzt. Das einzige was ihm wahrscheinlich nach seinem langen Leben noch geblieben war.
Den ganzen Tag überlegte ich wie ich es wieder gutmachen könnte. Ich beschloss am nächsten Tag aufzustehen und ihm meinen Platz anzubieten um ihm wenigstens zu zeigen, dass es mir leid tut.
Aber er kam nicht.
Er sollte nie wieder kommen.