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Saft
Die Stahlgerippe der einstigen Gebäude zeichneten sich schwarz und kantig vor dem glühenden Himmel ab. Einige wirkten wie mahnende Finger, die jeden Passanten einschüchterten und ihn schnell tiefer in die Schatten der Mauerreste huschen ließen. Noch etwas Anderes kontrastierte mit dem Hintergrund: Die Silhouetten von drei Jugendlichen, die Behälter auf jeweils zwei kleinen Rädern hinter sich herzogen.
“Ihr seid gemein!”, empörte sich Ludmilla.
“Haha, Lu, war nur ein Spaß! Wir füllen dir den Kanister doch wieder auf!”, lachte Robert und klopfte auf Ludmillas Behälter, was einen hohlen Klang erzeugte. Er rülpste. Die Schwaden, die ihm dabei entwichen, hätten jeden normalen Menschen zum Würgen gebracht. Gee sagte nichts, er konnte nicht ganz so locker damit umgehen, dass sie Ludmilla mehr wertvollen Saft gestohlen hatten als geplant. Er selber hatte gar nicht so viel davon getrunken, aber Robert hatte ordentlich zugelangt. Sie hatten wie so oft mittags ein Tief gehabt und sich auf ein Blechdach gelegt. Ludmilla war eingeschlafen und Robert hatte den Schlauch von ihrem Kanister genommen und gesoffen, als ob es kein Morgen gäbe. Auch Gee hatte auf sein Angebot hin davon getrunken. Dass der Kanister am Ende fast leer war, hatte ihn dennoch überrascht. Ludmilla hatte ihnen nach einigen wilden Beschimpfungen schließlich erklärt, dass sie einem durchreisenden, hungernden Flaki begegnet war und ihm über die Hälfte ihres Vorrats abgegeben hatte.
Flaki war die Kurzform von “Flaschenkind”, wie die Betroffenen dieser nach dem großen Krieg entstandenen Krankheit abfällig genannt wurden. Je nach Geschlecht sagte man “der” oder “die” Flaki. Ludmilla, Gee und Robert trugen diesen Stoffwechselfehler ebenfalls mit sich herum. Betroffene konnten normale Nahrung nicht mehr verwerten und ihr Organismus konnte einige lebenswichtige Stoffe nicht mehr selbst herstellen. Es war nicht genau bekannt, welche dies waren, denn die medizinische Versorgung und Forschung existierte so gut wie gar nicht mehr. Nur eine Lösung war bekannt: der Konsum von verflüssigtem Menschenfleisch – die Flakis selber sprachen untereinander nur vom Saft. Bis ungefähr zum zwölften Lebensjahr entwickelten sich die Kinder ganz normal, dann begann der Metabolismus, langsam zu degenerieren. Sie wurden von der Gesellschaft verstoßen. Selbst die wenigen von ihnen, die nicht direkt nach ihrer Geburt getötet wurden. Da kein werdender Vater seine Identität als Flaki verheimlichen konnte, war schon vor der Geburt klar, dass sein Kind die Krankheit erben würde. Bei etwa 10% brach die Krankheit nicht aus, aber darauf wollten es die meisten Eltern nicht ankommen lassen. Die wenigen Kinder, die überlebten, fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen, die auf der Suche nach Nahrung bestimmte Gebiete durchstreiften. Trotz der lebensfeindlichen Umwelt und der hohen Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung war es nicht einfach, an menschliche Leichen zu kommen. Die meisten wurden immer noch notdürftig bestattet und bewacht, damit kein Flaki den Leichnam aus der lockeren, trockenen Erde freischarren könnte. Es war oft lohnenswert, alte und kranke Leute im Auge zu behalten. Wenn jemand todkrank war, dann bekamen das die Flakis mit und hielten sich möglichst unauffällig in seiner Nähe auf. Wenn das potentielle Essen noch viele Angehörige hatte, die ihm zur Seite standen, konnte man es abhaken. Selbst verwesende Leichname waren für einen Flaki noch verwertbar. Von dem Menschenfleisch musste sich am Anfang jeder übergeben. Die Willenskraft spielte hier die Hauptrolle. Wer nicht den Willen aufbrachte, notfalls die eigene Kotze wieder hinunterzuwürgen, der verhungerte und wurde von seinen Leidensgenossen verflüssigt und getrunken. Nach etwa einem Jahr veränderte sich allerdings die Wahrnehmung, so dass der Saft köstlich schmeckte.
Ludmilla, Robert und Gee trotteten schweigend durch die schartige Kulisse der Ruinen. Von irgendwo her erschollen rhythmische, wenn auch schräge, elektronische Klänge. Unwillkürlich orientierten sie sich daran und konnten schließlich einen Steinwurf entfernt die Quelle ausmachen. Einige heruntergekommene, mit Drogen vollgepumpte Gestalten tanzten auf dem Grundriss eines Hauses zu den kruden Klängen, die einer von ihnen auf einem Knäuel aus Elektroschrott fabrizierte. Es sah mehr wie ein Tanz gegeneinander aus, so oft stießen sie zusammen. Der MC sah die Flakis und brachte sein Gerät erst zum Kreischen, dann zum Verstummen. “Hey! Da ist elendes Geschmeiß, Leute!” Plötzlich wirkten einige der Tänzer fast geistesgegenwärtig. Einer nahm ein Stück verrostetes Metall und schleuderte es ihnen mit den Worten “Verpisst euch!” entgegen. Robert fing es auf, ließ es jedoch ungerührt fallen. “Kommt”, sagte er nur und sie gingen ein paar Schritte zu einer Mauer und setzten sich dahinter, ihre Kanister neben sich. Kurz darauf ging die Musik wieder los. Robert lugte über die Mauer und konnte sehen, wie die Typen ungebremst weitertanzten. Seufzend ließ er sich wieder in eine Sitzposition gleiten. “Tja, aus den Augen, aus dem Sinn”, kommentierte er. Gee und Ludmilla entspannten sich. “Das mit dem Saft, Lu … das tut mir leid. Ich wusste ja nicht, dass du fast trocken warst. Kannst was von mir haben.” Er hielt ihr den Schlauch seines Kanisters hin und Ludmilla trank daraus. “Aber nicht so viel”, sagte Robert halb im Scherz, was sie erst recht zum Ansporn nahm, so schnell zu trinken, dass sie sich verschluckte und ihr das Zeug aus der Nase schoss. “Arsch”, stieß sie hustend hervor und gab Robert den Schlauch zurück. Nachdem sie eine Weile finster ins Leere gestarrt hatte, sagte sie: “Der Flaki, dem ich den Saft gegeben habe -”
“Was sehr lobenswert war”, warf Robert ein.
“Der hat mir so eine komische Story erzählt”, fuhr Ludmilla unbeeindruckt fort.
“M-hm?”, brummte Gee mit geschlossenen Augen. Er hatte seine Phasen, in denen er nicht sehr gesprächig war.
“Echt jetzt, Jungs, hört mal zu. Der Typ hat gesagt, er sei auf dem Weg zum Saftsee.”
Robert sah sie schief an. “Ist das das, was ich denke? Ey komm, Lu! Der Kerl hat dich verarscht.”
“Pff…”, machte Gee.
“Klappe, ihr Saftdiebe. Das ist natürlich kein großer See, sondern eher ein Baggersee oder so. Und der ist auch nicht komplett mit Saft voll. Über dem Saft ist eine mehrere Meter dicke Wasserschicht. Sieht wohl von außen ganz harmlos aus.”
Gee öffnete halb die Augen. Sie waren bionisch optimiert und reflektierten das Sonnenlicht schillernd bernsteingelb. “Sag bloß … möglich wär’s”, sagte er mit seiner stets leicht heiser und irgendwie lässig klingenden Stimme.
“Du meinst technisch betrachtet?”
“Jepp.”
“Und sonst?”
“Bullshit.”
Ludmilla sah genervt zu Robert. “Und du?”
“Naja, ob es machbar ist, keine Ahnung. Aber bist du sicher, dass das keine Urban Legend ist?”
“Ich weiß, dass mich der Typ nicht angelogen hat. Er hat mehrere Wochen einer gefährlichen Reise vor sich. Das macht man doch nicht einfach so! Und er war einfach zu … ehrlich. Versteht ihr? So mitgerissen von der Sache. Hat so geschwärmt …”
Ludmilla ging einen Moment in sich, dann strahlte sie plötzlich. “Ja, und die Flakis dort wären nicht verachtet und es wäre eine riesige Community! Das hat er gemeint, und dass alle den See mit füllen würden!”
Robert tippte sich nachdenklich mit dem Zeigefinger ans Kinn. “Der müsste schon verdammt viel Fantasie haben. Aber du kannst Leute gut einschätzen. Ich gehe mal davon aus, dass da was dran ist.”
Sie sahen beide zu Gee. Doch der bedeutete ihnen, zu schweigen, er wirkte konzentriert. Dann merkten es die beiden anderen auch: Die elektronische Musik hatte aufgehört.
Sie hoben vorsichtig die Köpfe über die Mauer. Einige der Freaks schienen erstarrt, andere völlig außer sich. “Du Mörder!”, schrie ein Kerl mit einem Eisenhelm hysterisch einen anderen an. Die Mauern des ehemaligen Hauses zogen sich größtenteils etwa hüfthoch um den Grundriss, aber im Blickfeld der Flakis war eine Lücke, wo vermutlich einst eine Tür gewesen war. Einer der Tänzer trat zur Seite und gab den Blick auf den blutüberströmten Kopf eines dort liegenden Jungen frei. “Dafür wirst du büßen!”, rief der mit dem Eisenhelm und stach mit einem Messer einige Male auf den des Mordes Beschuldigten ein, bevor er von anderen aufgehalten wurde. Unter wilden Flüchen und Beschimpfungen packten einige die Leiche des Mordopfers und trugen sie davon. Der Rest zog es vor, abzuhauen. Der Mörder, von den Messerstichen schwer verletzt, wurde liegen gelassen. Robert grinste Ludmilla nur an. Seine Saftschuld wäre bald beglichen. Sie warteten, bis die Luft rein war, dann rannten sie zum Ort der Tragödie. Der Boden war voller Blut, eine zerbrochene Flasche schien die Tatwaffe gewesen zu sein. Der Mörder lag mit geschlossenen Augen da und blutete den rissigen Betonboden voll.
“Die Plane, Gee!”, sagte Robert hastig. Doch Gee hatte bereits eine Plane aus einem Seitenfach seines Kanisters gezogen. Sie waren ein eingespieltes Team, und in wenigen Sekunden war die Plane ausgebreitet und der Mörder daraufgerollt. Während Gee und Robert die Plane um die Füße des Kerls schlugen und verschnürten, sog Ludmilla mit einem Stofftuch das Blut aus einer Mulde auf und wrang es danach über der Plane aus. Sie ließen nichts verkommen. Anschließend standen sie zufrieden wie Handwerker nach getaner Arbeit da und betrachteten ihren Fang.
“Das wird ein exzellenter Saft”, sagte Robert.
“Und den Rausch gibt’s gratis dazu”, merkte Gee an.
“Meinst du, der hatte auch ordentlich was im Blut?”
“Klar. Haben die alle.”
“Hey”, rief Ludmilla aus, “die haben bei ihrer Flucht sogar das Instrument vergessen!”
Gee eilte zu ihr und begutachtete es. Technik war sein Ding. “Hm. Billiger Schrott. Nur den Signalgenerator können wir noch bei der Alten verhökern.”
“Ok, pack ihn ein, wir ziehen Leine”, beschied Robert, “Die kommen bestimmt bald zurück.”
Gee hängte sich den Signalgenerator an eine Schlaufe am Gürtel und nahm den linken Arm des Mörders. Robert nahm den rechten, und sie schleiften ihn fort. Ludmilla lief hinterher. Sie prüfte, ob Blut austrat, aber es sammelte sich zuverlässig im verschnürten Fußbereich. Sie mussten gar nicht absprechen, wohin sie liefen, denn sie handelten nun nach einem einstudierten Schema. In der Nähe befand sich ein kleiner Wald, der zu einer Parkanlage gehörte. Dort würden sie den Leichnam in eine Grube legen und mit zersetzenden Bakterien beträufeln. Sie liefen erst eine kurze Weile, als Ludmilla einen Laut der Überraschung ausstieß. Gee und Robert drehten sich abrupt um.
“Der hat die Augen aufgemacht! Der lebt noch!”
Nun sahen es auch die Jungs. Einen Moment standen sie unschlüssig herum.
“Abwarten”, meinte Gee schließlich. Robert zuckte mit den Schultern und sie zogen weiter. Sie gelangten zum Waldstück und gingen weiter hinein, bis sie Sichtschutz hatten und an ihrer Grube ankamen. Dort legten sie den Mörder hinein und schlugen die Plane an den Wänden der Grube hoch. Die Konstruktion war effektiv wie eine Badewanne. Sie zogen ihm die Klamotten aus und warfen sie auf einen Haufen. Der Kerl atmete flach. Es war traditionell Ludmillas Aufgabe, den Zersetzungsprozess einzuleiten. Die Jungs machten es sich auf dem weichen Waldboden bequem und schienen dem weiteren Geschehen absichtlich keine Aufmerksamkeit mehr zu widmen. Ludmilla hockte neben der Grube mit dem noch lebenden Typen.
“Wir können ihn in dem Zustand nicht auflösen”, meinte sie.
”Technisch ginge es”, spielte Gee trocken auf ihr früheres Gespräch an. Er lehnte sitzend an einem Baum und untersuchte den Signalgenerator.
“Du könntest ihn ja erst erwürgen”, schlug Robert vor. Entschlossen legte Ludmilla die Hände um den Hals des Schwerverletzten. Sie biss die Zähne zusammen, aber brachte es nicht einmal fertig, ihm die Haut einzudellen.
“Tötungshemmung”, meinte Gee. “Das beweist, dass du noch ein Mensch bist.”
“Dann klopf keine Sprüche, mach du es doch!”, entgegnete Ludmilla aufgebracht.
“Bin ich denn kein Mensch?”, fragte Gee, während er sie provokativ aus seinen bionischen Augen ansah. Ludmilla gab seufzend auf. Da erhob sich Robert mit einem Ruck und sagte: “Der ist so gut wie tot. Wir wollen keine Zeit verlieren. Gib mir die Biester.” Widerwillig und mit abgewandtem Blick reichte Ludmilla ihm die Flasche mit der trüben Bakterienlösung. Robert beugte sich über den Mörder und fragte übertrieben langsam und betont: “Wie heißt du?” Keine Antwort. Er hatte die Augen noch offen, aber Ludmilla war sich nicht sicher, ob er noch atmete. “Siehst du”, meinte Robert. “Vielleicht ist der schon tot. Außerdem isser ‘n Mörder.” Er öffnete den Mund des Kerls und goss den halben Inhalt der Flasche hinein. Dann setzte er sich wieder an seinen ursprünglichen Platz zurück. Ludmilla schüttelte den Kopf und setzte sich zu den Jungs. Nun hieß es abwarten und die Beute bewachen. Es war Nachmittag und die Sonne schien schräg durch das spärliche Blätterdach, das die knorrigen Bäume trugen. Keiner sagte etwas und die Langeweile wurde zu Müdigkeit.
Es herrschte Dämmerung, als sie schließlich alle wieder wach waren. “Ich seh mal nach dem Essen”, sagte Robert. Wie zur Antwort kam ein Rülpsen aus der Grube. Angespannt trat Robert näher an sie heran. Der Brustkorb des Toten hatte sich gehoben. Mit einem langen, wehklagenden Seufzer stieß der Mörder einen übelriechenden Luftschwall aus und der Brustkorb senkte sich. “Puh”, machte Robert. “Nur die Bakterien”, sagte er zu Gee und Ludmilla. Die Bakterien erzeugten während ihrer Arbeit Gase, die klangvoll aus den Körperöffnungen entwichen. Deshalb gossen Flakis die Lösung normalerweise auf die Oberfläche des Leichnams. Robert nahm einen Stock und stocherte an dem toten Körper herum, um die Konsistenz zu prüfen. Schließlich schob er den Stock zwischen die Wand der schmalen Grube und die Rippen und hebelte. Es knirschte. Mit leisem Gluckern lief der Körper aus und sackte langsam zusammen wie eine Luftmatratze. An verschiedenen Stellen drückte Robert den Körper hinunter, wobei er auch den ein oder anderen mürbe gewordenen Knochen brach. Was von der Körperhülle übrig war, lag schließlich zum Teil unter der Oberfläche des Saftes. “Das wird was”, meinte Robert fachmännisch, legte den Stock beiseite und setzte sich wieder zu den anderen. “Habt ihr schon seine Klamotten durchsucht?” Die anderen beiden schüttelten müde den Kopf. Robert kroch zu dem Kleidungshaufen und durchsuchte die Taschen. “Hm, ein Feuerzeug. Nicht übel.” Er wühlte weiter. “Ah, er hatte Pillen dabei. Aber total mit Blut vollgesogen.” Beiläufig warf er die Drogen zwischen die Bäume. “Tja, sonst nichts. Oh, hier ist noch ein Foto von einem Mädchen. Seine Freundin? Auch viel Blut dran.”
Gee forderte das Bild mit einer trägen Handbewegung, Robert warf es ihm zu. Gee betrachtete das Bild kurz. “Eher seine Schwester. Hat die gleichen Ohren.” Robert und Ludmilla lachten auf. Gee sah sie ratlos an. Unfreiwillige Komik war sein Spezialgebiet. Sie schwiegen eine ganze Weile.
“Wird langsam dunkel”, sagte Robert schließlich. “Wir könnten das Feuerzeug mal testen.”
Zusammen hatten sie in kurzer Zeit genügend Laub und trockene Äste gesammelt, um einen Haufen nahe der Grube aufzuschichten. Das Feuerzeug funktionierte und setzte die Blätter in Brand, die unter starker Rauchentwicklung schwelten. Mit vereintem Atem konnten sie die Flammen anfachen, und schon bald saßen sie wohlig um das knisternde Lagerfeuer herum. Sie begnügten sich lange Zeit damit, im Tanz der Flammen zu versinken und sich gelegentlich vor den grotesk zuckenden Schatten der verwachsenen Bäume zu gruseln. Keiner achtete auf die Zeit, sie hatten schließlich bis zur Dämmerung geruht. Gee holte ein altes, fleckiges Sammelkartenspiel mit Panzern hervor und forderte Robert zum Duell heraus. Jeder bekam eine Hälfte der Karten.
“25000 Kilowatt”, sagte Gee.
“28000. Her damit. Mündungsenergie 150 Megajoule.”
Ludmilla, die sich nicht für so etwas interessierte, kroch zum Bakterienbad ihres Opfers. Die Zersetzung war sichtlich fortgeschritten. Sie legte sich davor, den Kopf auf die Hände gestützt und lauschte lange den leisen Geräuschen, die von Zeit zu Zeit aus der Lösung aufstiegen. Sie sog den Geruch ein, der bei einer so frischen Leiche während der Umwandlung sehr angenehm war.
“Scheiße! Du hast gewonnen, Gee.” Robert warf Gee die letzte Karte provokant durch das Feuer zu.
Ludmilla nahm keine Notiz davon, sie war gedanklich schon beim Auffüllen ihrer Kanister. In einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen sinnierte sie über die Gelegenheiten, zu denen sie Leichen zersetzt hatten, die schon tagelang in der Sonne gelegen und von Maden und Käfern gewimmelt hatten. Flakis waren nicht besonders empfindlich gegen das Gift, das sich in verwesendem Fleisch bildete.
“Wusstet ihr”, sagte sie leise, “dass Botulinum Toxin früher als Botox verkauft und unter die Haut gespritzt wurde?” In der spiegelnden Oberfläche der Bakterienlösung betrachtete sie ihr Gesicht, das einseitig vom Feuer erleuchtet wie ein Halbmond in einem See schimmerte. “Man sagt, die Frauen wurden dadurch … schön.”
Robert hatte sich unbemerkt angeschlichen und stippte sie mit den Fingern gleichzeitig in beide Seiten, dass sie zusammenzuckte. “Du bist doch schön”, meinte er.
“Das Gift aus verwesenden Leichen haben die sich gespritzt?”, ließ sich Gee vernehmen. “Kein Wunder, dass es nur noch bergab ging.”
“Wenn das Zeug schön macht, müssten wir ja eigentlich alle sehr gut aussehen”, meinte Robert. “Also, ich meine Ludmilla und mich. Weiß nicht, ob das auch bei Leuten mit bionischen Augen wirkt …”
“Klappe. Sieh mal in den Spiegel.”
“Oho”, stieß Ludmilla hervor, “bleibt mal geschmeidig, Jungs! Hab euch beide zum Fressen gern!”
“Klingt komisch, wie du das sagst”, scherzte Robert. “Immerhin haben wir jetzt den Typen da. Unsere Schuld ist mehr als beglichen.”
“Hehehe”, lachte Gee meckernd. “Du solltest besser nicht einschlafen.”
Als sei dies das Stichwort gewesen, gähnte Ludmilla. Robert tat es ihr nach. Es war eine laue Sommernacht. So rollten sie sich am Feuer zusammen und schliefen mit dem wohligen Gedanken an den frischen Saft ein.
“Frühstück!”, scholl Roberts fröhlicher Ruf durch den Wald.
Gee und Ludmilla streckten sich und krochen im Halbschlaf gemächlich zur Grube. Der Saft enthielt keine sichtbaren festen Stücke mehr, war orangerot und sehr trübe. Dies war der Zeitpunkt, zu dem fast alle Bakterien an ihren eigenen Stoffwechselprodukten zugrunde gegangen waren und die Flüssigkeit nun ungefährlich und genießbar war. Solange eine gewisse Konzentration an Bakterien nicht überschritten wurde, konnte das menschliche Immunsystem sie problemlos besiegen.
“Das ging schnell”, meinte Ludmilla.
Sie hängten ihre Trinkschläuche in die Grube und frühstückten gemeinsam. Danach füllten sie ihre Kanister auf. Es blieb immer noch etwas übrig, so dass sie beschlossen, die Grube bis zum Nachmittag mit vereinten Kräften zu leeren.
Schließlich schlürfte Robert angestrengt den letzten Rest. “Oh mann, was für ein Gelage.”
Gee und Ludmilla lagen auf dem Rücken. Auf dem Bauch ging nicht mehr.
“Mir kommt’s fast hoch”, ächzte Ludmilla.
“Wir wollten doch noch mit dem Signalgenerator zur Löthexe”, erinnerte Gee. “Also kotz dich aus und wir gehen.”
“Das ist nicht witzig.” Ludmilla stand vorsichtig auf. Kurz darauf spie sie einen Schwall Saft aus und verharrte eine Weile mit der Hand auf dem Bauch. “Ich … ich glaube, jetzt geht’s.”
Gee marschierte unverzüglich los und die beiden anderen schlossen sich ihm an. Nach kurzer Zeit verfielen sie in einen gemächlichen Laufrhythmus. Ludmilla sagte: “Möglicherweise ist eure Schuld beglichen.”
“Aber darüber muss die Dame noch gründlich nachdenken, wie es scheint”, meinte Robert spöttisch. “Du hast gekotzt!”
“Ok, wir sind quitt.” Ludmilla kickte trotzig einen Stein nach vorne. Als sie ihn kurz darauf erreichten, trat Robert ihn. Das Spiel wiederholte sich einige Minuten, bis der Stein seitlich von Roberts Schuh absprang und hinter einem Mauerstück verschwand. Er wollte ihn gerade holen, als der Stein zurückgeschossen kam. Einen kurzen Moment sahen sie ihm alle verblüfft hinterher, wie er über den staubigen Boden hoppelte. Dann sahen sie zum Mauerstück und warteten angespannt ab. Hervor trat ein sehr großer, schlaksiger Mann von vielleicht 50 Jahren. Er trug ein metallenes Gerät auf dem Rücken, aus dem eine Halterung ragte, die ihm strahlenförmig angeordnete Speichen wie schützend über den Kopf hielt. Es sah aus wie ein Regenschirm ohne Stoffbespannung. Außerdem trug er einen flachen schwarzen Hut mit breiter Krempe. “Na, Kinder? Was macht – oh, ihr seid Flakis.” Das scharf geschnittene Gesicht des Fremden verzog sich kurz und kaum merklich, aber der Ekel war erkennbar. Gee trat vor. “Die Bezeichnung junge Erwachsene trifft auf uns eher zu.”
“Äh, ja.” Der Mann hatte diese Antwort anscheinend nicht erwartet. “Ich geh dann mal weiter. Und ihr wohl auch, nehme ich an? Also dann.” Er ging an ihnen vorbei, ohne sie nochmals anzusehen. Die Freunde drehten sich um und sahen ihm nach. “Korrekte Antwort, Gee”, sagte Ludmilla. “Und ich habe das Gefühl, es war die bestmögliche.” Robert nickte nachdenklich.
Gee sah sie beide an. “Ich weiß nicht, wovon ihr redet, aber … merkt ihr das auch?” Robert und Ludmilla tauschten einen fragenden Blick aus und hielten konzentriert inne. Langsam breitete sich ein Grinsen auf Roberts Gesicht aus. Kurz darauf spürte auch Ludmilla, wie tausend kichernde Spinnen in ihr aufstiegen. Gee breitete die Arme aus und lachte: “Den Rausch gibt’s gratis dazu! Hab ich doch gesagt!”
“Das hatte ich schon vergessen! Aber besser spät als nie!”, jubelte Ludmilla.
“Auf zur Löthexe!”, rief Robert und stieß die Faust entschlossen in die Luft.
Kurz vor der Abenddämmerung erreichten sie die Blechhütte der Löthexe. Die schiefwandige Behausung stand einen Steinwurf von der Siedlung entfernt. Was zu früheren Zeiten als Slum gegolten hätte, war nun der Normalfall. In der Ruhe des ausklingenden Tages saßen die Erwachsenen vertraut redend vor den mit Planen, Blechteilen und Holz abgedichteten Ruinen, während die Kinder vor ihnen im Dreck spielten. Überall schimmerten Lichtquellen verschiedenster Art hindurch, die für eine flächendeckende Beleuchtung jedoch nicht annähernd ausreichten.
Die Wirkung der Drogen hatte Robert, Gee und Ludmilla ein gutes Stück des Weges beflügelt, war nun aber fast abgeklungen. Gut gelaunt trat Robert die leicht offen stehende Tür auf, dass es schepperte. “Hey, Nora!”
Aus den Schatten im hinteren Bereich schälte sich nun die Kontur einer alten, leicht gebückt gehenden Frau. “Ach, ihr seid es, Kinder.”
Diesmal entgegnete auch Gee nichts. Obwohl er bereits neunzehn Jahre alt war, würden sie alle für diese uralte Ersatzoma immer Kinder bleiben. Sie war einer der wenigen Menschen, die den Flakis nicht feindlich gegenüberstanden. Vielleicht lag es daran, dass sie ebenfalls eine Außenseiterin war, die sich nicht gern mit normalen Menschen abgab. Aber sie hatte ein gutes Herz und ein unübertroffenes elektrotechnisches Fachwissen, weshalb sie unverzichtbar für die kleine Siedlung war, an deren Rand sie lebte. Richtig hell war es in der Hütte niemals, weil sich sogar vor den kleinen Fenstern die Geräte und Platinen stapelten. Gee winkte mit dem Signalgenerator. “Wir haben etwas für dich.” Nora trat näher und nahm Gee das Gerät zur Begutachtung ab. “Hmm … oh! Ich kauf doch nicht mein eigenes Zeug! Das ist genau der Signalgenerator, der mir neulich von ein paar Junkies gestohlen wurde! Wo habt ihr den her?”
“Den haben wir ihnen wieder abgenommen. Die haben etwas zu hart gefeiert”, sagte Robert.
“Zwei sind nun tot. Ich hoffe das gibt einen Zuschlag zum Finderlohn”, ergänzte Gee.
Nora musterte sie skeptisch. “Ihr habt sie doch nicht etwa umgebracht?”
Robert winkte eilig ab. “Ähm, nein. Aber vielleicht hätten wir einen retten können. Wir haben es jedoch vorgezogen, ihn zu konsumieren.”
“Schön gesagt”, lobte Ludmilla.
Nora atmete erleichtert auf. “Ich wusste doch, dass meine Kleinen so etwas nicht tun würden. Aber die Nachricht ihres Ablebens ist mir auch einen Bonus wert.” Sie zwinkerte Gee zu. “Irgendeinen Typen hat es gestern zerrissen. Da ist ein Blindgänger hochgegangen. Seine Beine hab ich noch retten können, sie liegen im Bottich hinter meiner Hütte.”
“Danke, dass du an uns gedacht hast!”, freute sich Ludmilla.
“Immer doch”, entgegnete Nora lächelnd, “Ihr könnt euch außerdem noch irgendein kleines Teil hier aussuchen. Wartet, ich mach mal das Licht an …” Nora reichte an einen Schalter an ihrem Arbeitstisch, und viele unregelmäßig verteilte gelbe LEDs tauchten den Raum in ein dumpfes Licht. Die Jugendlichen sahen sich nach Brauchbarem um, wobei sie aufpassen mussten, nichts umzustoßen oder in einer der Kabelschlingen hängenzubleiben, die von der Decke baumelten. “Einige Ecken sind immer noch recht duster”, klagte Ludmilla. “Gee, kannst du mal ein Auge hierauf werfen?”
Gee kam zu Ludmilla – sein linkes Auge strahlte nun einen grellen Lichtkegel aus – und half ihr beim Durchforsten einer Kiste mit mechanischen Gegenständen und murmelte dabei vor sich hin. “Schrott … Schund … wieder Schrott … aah! Müll!”
Schließlich zog Ludmilla aufgeregt etwas aus der Kiste. “Sieh mal, ein kurbelbetriebener Rührer! Damit könnte man den Saft umrühren, sogar schaumig schlagen!”
Gee rieb sich das Kinn. “Okeee … das wäre vielleicht brauchbar.”
Ludmilla zeigte das Gerät Nora, die sich einverstanden erklärte. Nachdem die Freunde aufgehört hatten, in den Kisten und Regalen zu wühlen, kehrte Ruhe ein. Erst jetzt hörten sie den kleinen Aufruhr, der sich draußen in der Siedlung abspielte. Wütende Worte, dazwischen vereinzelt Schluchzen, das Raunen einer kleinen Menschengruppe. Robert gestikulierte wild, dass sie zum Fenster kommen sollten. “Das ist der Typ, dem wir begegnet sind!” Sie drängten sich alle um das Fenster und sahen hinaus. “Er ist uns offenbar gefolgt, ohne dass wir es gemerkt haben”, meinte Gee. Nora zuckte zusammen. “Der Rattenfänger! Mach dein Licht aus, Gee!” Nora hielt ihm hastig die Hand vor das leuchtende Auge und er tat wie geheißen.
“Rattenfänger?”, fragte Robert leise.
Nora raunte: “Die Bezeichnung geht auf eine alte Sage zurück, aber ich will euch damit nicht langweilen. Was er eigentlich fängt … sind Seelen.”
Gee drehte seinen Kopf langsam zu Nora und sah sie zweifelnd an. Robert schluckte unbehaglich.
“Die verachtenswerteste Person dieses Planeten”, fuhr Nora fort. “Er tötet Kinder und fängt ihre Seelen – oder ihren Geist, wie immer man es nennen mag – in einer Art Kraftfeld. Seht ihr die Leute, die um ihn herumstehen?”
“Einige knien sogar vor ihm”, flüsterte Ludmilla mit leicht zittriger Stimme, “sie flehen ihn anscheinend an.”
“Das sind die Eltern”, erklärte Nora. “Sie wissen, dass er ihre Kinder umgebracht hat und ihre Seelen gefangen hält – aber sie wagen es nicht, ihm etwas anzutun, diesem Ungeheuer. Wisst ihr warum? Weil sein Leben an das der Kinder gebunden ist. Wenn er stirbt, sterben die Kinderseelen oder kommen angeblich an einen schrecklichen Ort.”
“Aber warum flehen sie ihn an?”, fragte Ludmilla.
“Weil er dann die Eltern vielleicht mit ihren Kindern reden lässt. Aber natürlich verlangt er dafür auch einen Gegenwert.”
Robert schnaufte durch die Nase. “Warum sperren sie ihn nicht ein? Dann könnte er nicht mehr sein Unwesen treiben”, sagte er grimmig.
“Er droht damit, dass er die Seelen unermesslichen Qualen aussetzen würde. Weit jenseits der Vorstellungskraft von uns körpergebundenen Wesen.”
“Fuck …”, entfuhr es Gee. “Das nenne ich Überlegenheit durch Technik. Das Arschloch hat die Geiselnahme perfektioniert.”
“Dabei ist es nicht einmal seine eigene Technik”, erklärte Nora, “man erzählt sich, dass er das Gerät aus einem unterirdischen Forschungslabor hat, das durch die Bomben frei gelegt wurde.”
“Menschlicher Geist in Schaltkreisen. Ich wusste nicht, dass sie schon so weit waren”, sagte Gee.
“Seht”, sagte Nora, während sie mit einem krummen Finger auf das Geschehen deutete, “er lässt diesen Mann mit seinem Kind reden.”
Ein kurzes Stück unter einer der metallenen Speichen, die über dem Kopf des Rattenfängers schwebten, bildete sich ein gelblicher, schwach leuchtender Lichtpunkt, der unruhig in der Luft schwebte. Nora und die drei Freunde waren zu weit entfernt, um einzelne Worte zu verstehen, aber sie konnten wahrnehmen, dass der Mann mit tränenerstickter Stimme zu dem Lichtpunkt sprach. Immer wieder versuchte er unwillkürlich, den Lichtpunkt zu umarmen, aber griff hindurch. Der Lichtpunkt, das Kind, antwortete mit einer klaren Stimme. Einige der umstehenden Menschen sahen betreten zu Boden, aber es war zu erkennen, dass viele die Fäuste ballten. Der Rattenfänger schien sich jedoch sehr sicher zu fühlen. Fast wie ein Gebieter stand er im roten Licht der nun untergehenden Sonne, sein großer hagerer Körper stach aus der Menge hervor und die Speichen über seinem Kopf wirkten wie eine schaurige Krone. Nora drehte sich energisch vom Fenster weg. “Das sollte man sich nicht ansehen.”
“Ist es so schlimm?”, kam eine unbekannte Stimme aus dem mit einem Vorhang abgetrennten Bereich hinter dem Arbeitstisch hervor. Die Jugendlichen sahen Nora fragend an.
“Du bist also wach. Komm doch heraus, damit meine Freunde dich kennenlernen können”, sagte sie. Der Vorhang wurde beiseite geschoben und ein entkräftet wirkender Junge von etwa zwölf Jahren trat hervor. “Hallo.”
“Wie heißt du denn?”, fragte Ludmilla.
Nora atmete geräuschvoll aus und antwortete an seiner Statt: “Das will er nicht sagen. Um seine Eltern zu schützen, wie er sagt. Sein Metabolismus stellt sich gerade um. Tapferer kleiner Kerl.”
Ein kurzes, betroffenes Schweigen begann sich auszubreiten, aber Robert unterbrach es: “Du brauchst einen Namen, Kleiner. Such dir eben einen neuen.”
“Niemand.”
“Du kannst nicht einfach ‘Niemand’ heißen. Das würde dauernd Missverständnisse geben. Wer hat Ludmillas Kanister leer getrunken? Niemand. Hm, andererseits …” Die anderen beiden lachten. Nun hatte Gee einen Vorschlag. “Wie wäre es mit ‘Nihman’ mit H? Klingt wie ein richtiger Name. Und beinahe wie ‘Niemand’.”
Der Junge nickte. “Ich bin Nihman.”
Robert hielt ihm die Hand hin. “Schlag ein, Nihman! Du bist jetzt einer von uns!”
Nihman schlug zögerlich ein. Dann füllten sich seine Augen mit Tränen und er sagte mit zittriger Stimme: “Ich will aber keiner von euch sein.”
Ludmilla trat zu ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände und sah ihm in die Augen. “Du musst ganz stark sein. Und zwar hier.” Sie tippte sich an die Schläfe. “Du hast es alleine bis hierher geschafft. Nun sind wir bei dir.”
Plötzlich umarmte Nihman Ludmilla und seine Schultern bebten.
Nachdem er sich gefasst hatte, brachte Ludmilla ihn wieder in den kleinen Raum hinter dem Vorhang, wo er sich ausruhen sollte, um keine Kräfte zu vergeuden. Mit Sorge im Gesicht kam Ludmilla zurück. Nora las ihre Gedanken. “Er tut sich schwer mit der Umstellung.”
“Wie verträgt er denn den Saft?”, fragte Gee.
“Schlecht. In zwei Wochen ist er entweder auf dem Weg der Besserung oder …”
Das unausgesprochene Wort schwebte eine Weile zwischen ihnen. Die gelbe Beleuchtung wirkte einen kühlen Hauch düsterer als vor ein paar Sekunden.
“Ihr solltet auch schlafen, Kinder”, sagte Nora.
“Gute Idee”, bestätigte Robert. Nora wünschte gute Nacht und zog sich ebenfalls in den Raum hinter dem Vorhang zurück.
Für Ludmilla, Robert und Gee war zwischen all dem Gerümpel gerade noch genug Platz auf dem Boden. Sie nahmen ihre dünnen Thermodecken von den Halterungen an den Kanistern und rollten sich darin ein.
“Aufgewacht!” krächzte Nora. “Ich löte schon seit einer Stunde an den Platinen!”
“Ich liebe den Geruch von Lötzinn am Morgen”, grummelte Gee.
Ludmilla streckte sich ausgiebig und strich sich die Haare einigermaßen glatt.
Robert ächzte: “Ich habe krumm liegen müssen. Mein Nacken ist verspannt.”
“Frag mich mal”, klagte Gee, “ich musste mit dem Kopf in einem Winkel liegen, wo dauernd Spinnen reingelaufen sind. Aber heute morgen war keine mehr da.”
“Sei doch froh!”, sagte Ludmilla.
“Ganz im Gegenteil. Es beunruhigt mich. Ich hab im Schlaf oft den Mund offen.”
“Oh mann!”, amüsierte sich Robert, “erzähl diese Horrorstories bloß nicht Nihman! Wie geht es ihm eigentlich?”
Nora erhob sich von ihrem Stuhl hinter dem Schreibtisch. “Wir müssen reden.” Sie hatte sich offensichtlich Gedanken über den weiteren Verbleib Nihmans gemacht. Er sollte mit den Jugendlichen mitziehen, weil ein dauerhaftes Wohnen bei ihr ohnehin ausgeschlossen war und sie beide in Schwierigkeiten bringen würde. Außerdem hing alles allein von seiner Umstellung auf den Saft ab. Auch bettlägerig würde er im Zweifel nicht viel länger überleben. Sie einigten sich darauf, täglich nur ein kleines Stück weiterzuziehen, um Nihman nicht zu belasten.
Nach dem Gespräch holten sie Nihman hinzu und unterrichteten ihn kurz über ihre Pläne. Er nahm sie schicksalsergeben an.
“Fürs Erste kannst du aus unseren Kanistern trinken, und du wirst auch eine Decke von uns bekommen”, sagte Ludmilla. “Wir werden mit der Zeit eigene Sachen für dich finden.”
“Vergesst nicht euer Geschenk hinter meiner Hütte”, erinnerte Nora lächelnd.
“Achja, die Beine!”, jauchzte Ludmilla. “Komm Nihman, jetzt wirst du lernen, wie man den Saft zubereitet!”
Wie nicht anders zu erwarten, hielt sich Nihmans Begeisterung in Grenzen. Allein beim Anblick der zwei Tage alten Beine fing er schon an zu würgen. “Keine Sorge”, beruhigte Ludmilla, “du wirst die nicht essen müssen. Unsere kleinen Bakterienfreunde machen eine Flüssigkeit daraus.”
“Ganz genau!”, bestätigte Robert. “Und irgendwann wirst du auf das Zeug total abfahren!”
Ludmilla träufelte die Bakterienlösung auf die Beine. “Siehst du das, Nihman? Es reichen wenige Tropfen. Von dieser Stelle aus fressen sich die Bakterien nun durch alle Zellwände. Am Ende lassen sie genau die Nährstoffe übrig, die wir brauchen.”
Nihman war sichtlich bemüht, interessiert zuzusehen, aber seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst und sein Blick war unstet.
“Die Bakterien schuften nun bis zum Abend, während wir faulenzen”, erklärte Ludmilla.
Gee war unbemerkt hinzugekommen. “Ohja, faulenzen”, sagte er ohne echte Begeisterung.
Nihman sah unglücklich aus. “Aber ich habe so Hunger!”, jammerte er. “Ich kann nicht mal mehr faulenzen.”
“Nimm das hier”, sagte Ludmilla und hielt ihm den Schlauch ihres Kanisters hin. Nihman zuckte zurück. Dann nahm er zögerlich das Ende des Schlauches in den Mund. Er verzog angeekelt das Gesicht. Für einen Neu-Flaki war schon das Aroma, dass der Schlauch angenommen hatte, widerlich.
Ludmilla öffnete das Lufteinlassventil am oberen Teil das Kanisters und legte demonstrativ die Hand an die Klemme, die nah am Ursprung des Schlauches angebracht war. “Ich werde nun die Klemme öffnen. Dann trinkst du einfach so viel, wie du kannst.”
Nihman nickte mit geweiteten Augen. Ludmilla öffnete die Klemme. Der Junge krümmte sich unter unmenschlicher Anstrengung, als er gegen seinen Würgereiz kämpfte. Ludmilla legte ihre Hand an seinen Hinterkopf, schloss das Lufteinlassventil wieder und drückte vorsichtig eine Stange in den Kanister hinein. Nihman schoss der Saft aus dem Mund und er fiel auf Hände und Knie nieder. “Ich … ich kann … nicht!”, hustete er.
“Das wird noch”, meinte Robert, “Das ist ein ganz exzellenter Saft, glaub mir. Du hast gerade einen Typen gekostet, der ” – er unterbrach sich, als Ludmilla ihm einen warnenden Blick zuwarf.
Gee hingegen grinste Robert zu, dann wandte er sich an Nihman. “Das menschliche Gehirn hat seine Stärke in der relativen Wahrnehmung. Wenn du jahrelang nur Saft trinkst, wirst du irgendwann jede Nuance schmecken und die ganze Vielfalt entdecken. Auch du wirst noch zu einem echten Gourmet werden, Kleiner.”
“So ist es”, pflichtete Robert ihm bei.
“Dir kommt es doch nur auf die Menge an”, schalt Ludmilla Robert scherzhaft. “Aber wenn man einen guten Geschmackssinn hat und diesen auch beachtet, kann man sehr viel Freude daran haben”, erklärte sie an Nihman gewandt. “Es ist ein Garten aus Aromen. Den Duft einiger Blumen atmet man gerne ein. Andere Pflanzen sieht man sich lieber nur aus der Entfernung an. Du kannst die Lebensgeschichte vieler Leute schmecken. Der Saft von dicken Menschen ist appetitanregend und du trinkst mehr davon als du solltest. Säufer hingegen schmecken bitter. Ihre kaputte Leber konnte nicht mehr alle Giftstoffe filtern. Aber es gibt auch kaum beschreibbare Geschmäcker, an denen du Mann und Frau, jung und alt, rege und faul unterscheiden kannst. Manche Flakis können sogar Haarfarben recht gut erraten. Komischerweise schmeckt es gut, wenn der Mensch vor seinem Tod lange gelitten hat, aber mich belastet das immer so.”
Nihmann hörte den Ausführungen mit bleichem Gesicht zu.
Ludmilla seufzte. “Nihman, wir probieren es heute Abend noch mal mit dem neuen Saft. Vielleicht verträgst du den besser. Hältst du bis dahin durch?”
Nihman nickte langsam.
“Braver Junge. Ich weiß, wie hart es ist.”
“Da sind wir alle durchgegangen”, bestätigte Robert.
Am Abend musste die Gruppe leider feststellen, dass die Beinknochen noch fast vollständig waren und die Flüssigkeit noch keinen fertigen Eindruck machte. “Verdammt!”, entfuhr es Ludmilla. “Das wird wohl noch bis deutlich nach Mitternacht oder bis morgen früh dauern.” Zu allem Überfluss kam auch noch die Löthexe um die Ecke und bat die Jugendlichen darum, abzureisen. “Seit ihr hier seid, hat sich kein potentieller Kunde mehr hier blicken lassen. Ihr wisst, ich bin auf die Leute angewiesen. Und manche werfen komische Blicke hierher.”
“Naja, ist eigentlich auch egal. Kein Problem”, sagte Ludmilla. “Wir müssen Nihman sowieso an das Leben da draußen gewöhnen. Und ein paar hundert Meter Abstand sollten reichen, oder?”
“Solange ihr nicht in Sichtlinie kampiert”, bestätigte Nora.
“Wir gehen zu der verlassenen Blechhütte hinterm Hügel”, bestimmte Robert.
“Gute Idee.”
“Oh, eine Sache noch. Der Saft ist noch nicht fertig. Würde es dir -”
“Jaja, nehmt ihn erstmal mit”, winkte Nora ab. “Den Bottich kann einer von euch morgen wieder zurückbringen.”
Nach einem knappen Abschied zogen die vier los. Robert und Gee nahmen den Bottich mit dem halbfertigen Saft – es waren nur etwa 15 Liter – in ihre Mitte, Ludmilla kam mit Nihman an der Hand hinterher. Sie brauchten kaum zehn Minuten, um die heruntergekommene Blechhütte zu erreichen. Noras Behausung war nicht mehr in direkter Sichtlinie. Robert und Gee setzten den Bottich ab. “So”, sagte Robert, “gib mal den Kurbelrührer, Lu.”
Sie gab ihm das Gerät. Robert hockte sich vor den Bottich und tauchte den Rührer hinein. “Jetzt bringen wir mal ein bisschen Schwung in den Saft.” Er kurbelte so enthusiastisch los, dass sich die anderen vor dem herumspritzenden Saft in Sicherheit brachten. Zufrieden betrachtete Robert schließlich das Ergebnis. “Damit habe ich die Bakterien wohl aufgeweckt.”
“Dabei ist es eher Zeit zum Schlafen”, merkte Gee an. “Wir könnten uns auf das Blechdach legen.”
“Das war doch ohnehin der Plan, oder?”, meinte Robert. “Da geht nichts drüber. Das hat Nihman bestimmt noch nie gemacht.” Weiterer Worte bedurfte es nicht. Ludmilla und Gee nahmen ihre Decken und stiegen auf das Dach, während Robert erst seine Decke und ein Handtuch hinaufwarf und dann Nihman scheinbar mühelos hinaufhob. Dies lag nur zum Teil an Roberts Kraft. Anschließend zog sich Robert selbst hinauf, so dass er und Gee an den entgegengesetzten Rändern des Daches lagen, zwischen ihnen Ludmilla und Nihman. Letzterer bekam Roberts Decke und das zusammengerollte Handtuch als Kissen. Schweigend lagen sie eine Weile auf dem Rücken und sahen gedankenverloren in den sternenklaren Nachthimmel. Von irgendwoher erscholl ein abgehackter menschlicher Schrei. Niemand maß ihm Bedeutung bei. So lagen sie noch einige Minuten, bis sich Nihmans schwache Stimme vernehmen ließ: “Was passiert, wenn man stirbt?”
Es war Ludmilla, die antwortete. Sie wusste nicht, ob die anderen schon schliefen. “Nichts. Dann ist man eben weg. Für die anderen geht das Leben weiter”, sagte sie leise.
“Meine Großmutter …” – Nihmans Stimme stockte.
“Was ist mit ihr?”, fragte Ludmilla.
“Sie … sie sagte, man würde aufsteigen und zu einem Stern werden. Da oben.” Er wies zum Firmament.
Ludmilla sah eine Weile forschend in den Himmel. “Kann sein. Wer weiß.”
“Aber es sind schon so viele gestorben”, sagte Nihman. “Ich habe immer gesucht. Es sind keine neuen Sterne da.”
Eine Weile dachte Ludmilla nach. Dann sagte sie: “Es ist ein weiter Weg nach dort oben. Vielleicht sind sie noch auf der Reise.”
“Ich friere.”
Ludmilla zog Nihman an sich heran. Trotz der Decke zitterte er. Die Nacht war mild.
Gee und Robert wachten auf. “Was zum …”, begann Gee. “Verdammt!”
Er hatte soeben bemerkt, dass Ludmilla und Nihman nicht mehr auf dem Dach waren. Nun erkannte er, was ihn und Robert aus dem Schlaf gerissen hatte. Ludmilla saß neben ihrem Kanister, im Arm einen regungslosen Nihman.
“Trink! Trink, Nihman! Oh, mein Gott …!”
Die beiden Jungs sahen dem Geschehen wie betäubt zu.
Ludmilla betätigte verzweifelt die Pumpe ihres Kanisters.
Ihre Stimme war nun leise und tränenerstickt. “Trink. Oh, trink, bitte …”
Plötzlich zuckte Nihman. Der verflüssigte Kadaver schoss ihm aus Nase und Mund. Er krümmte sich in Krämpfen, focht einen stillen, erbitterten Kampf mit seinen eigenen Eingeweiden. Dann entspannte er sich.
Seine Stimme war für Robert und Gee kaum hörbar, als er hauchte: “Ich habe etwas drinbehalten. Ich vertrage den Saft nun besser.”
“Vielleicht”, sagte Ludmilla. “Es war der frische Saft von den Beinen.”
Roberts Blick zuckte zu dem Bottich, der nun leer war. “Du hast den neuen Saft aus deinem Kanister in Nihman reingepumpt. Wo ist der Saft, der vorher in deinem Kanister war?”
Ludmilla sagte nichts, aber ihr Blick wanderte langsam zu der Blechhüttenwand, die ihr am nächsten war. Robert musste näher an den Rand des Blechdaches treten, um diese Stelle einsehen zu können. “Musste das sein?”, fragte er tonlos.
“Ja.”
“Musste schnell gehen, hm?”
“Ja. Außerdem hatte ich kein anderes Gefäß. Es war einfach meine Hoffnung, dass er den neuen Saft besser vertragen würde.”
“Was ist eigentlich genau passiert?”
“Ich konnte ihn nicht mehr atmen hören und seinen Puls nicht mehr spüren. Vielleicht ist sein Kreislauf zusammengebrochen, was weiß ich.”
“Naja”, meinte Gee. “Hat auch sein Gutes. Der Bottich ist leer, so dass Robert ihn zurückbringen kann.”
“Was, wer? Ich?”
Ludmilla lachte, und sogar Nihman kicherte schwach.
Den Tag über wanderten sie in kleinen Etappen. Nihman nahm zwischendurch immer ein paar Schlucke vom frischen Saft, die er mit Mühe bei sich behielt.
“Du wirst bald deinen eigenen Kanister bauen müssen”, sagte Robert zu Nihman.
“Wie macht man das?”
“Am Anfang muss man die notwendigen Teile zusammenkratzen. Blech bekommt man zum Beispiel von Tonnen, die man zerschneidet und platt hämmert. Gummierte Räder kann man irgendwo heimlich abmontieren.”
“Vielleicht bei einem anderen Flaki?”
“Auf gar keinen Fall. Der Kanister ist überlebensnotwendig und vor allem persönlich. Jeder hat seinen selbst gebaut. Ludmilla hat als einzige von uns diese Pumpe.”
Ludmilla warf ein: “Der Inhalt eines anderen Kanisters ist dir offenbar nicht so heilig.”
“Sorry. Wir haben die Schuld doch längst beglichen. Sei nicht so nachtragend! Zurück zum Thema. Gees persönliches Merkmal sind die Haken. Er hat mehr Haken am Kanister als jeder andere, den ich je gesehen habe.”
Gee drehte sich halb zu Robert um. “Wenn man damit einmal anfängt, kann man nicht mehr aufhören. Ist irgendwie ‘ne Sucht. Die Dinger sind so … geil.”
“Äh, ja.” Robert hatte für einen Moment den Faden verloren. Nihman nutzte die Gelegenheit, um eine Pause zu fordern. Ludmilla stimmte zu: “Wir sollten für heute vielleicht ganz aufhören. Das Waldstück da vorne ist gut geeignet für ein Lager.”
Nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Gee und Robert machten sich aus purer Gewohnheit auf die Suche nach brennbarem Material, während Ludmilla auf Nihman und die Kanister aufpasste. Eine Weile später waren sie um ein kleines knisterndes Feuer herum versammelt, obwohl es nicht so kühl war, dass eines notwendig gewesen wäre. Robert sah zu Nihman herüber, der ihm gegenüber saß, Ludmilla an seiner linken Seite. Er wirkte nachdenklich und erschöpft und das Feuer spiegelte sich nur matt in seinen Augen. Aber er würde es schaffen. Noch behielt er selbst den frisch aus den Beinen bereiteten Saft nur mit Mühe drin, aber in wenigen Wochen würde er sogar verflüssigtes Aas hinunterwürgen können. Und irgendwann würde er sich nichts Köstlicheres mehr vorstellen können. Robert löste die Decke von seinem Kanister und warf sie Ludmilla zu. Sie verstand ihn wortlos, entfaltete die Decke und legte sie Nihman um die Schultern. So würde er eine Unterlage beim Schlafen haben.
Alle waren ungewöhnlich schweigsam. Sie legten sich früher als üblich schlafen.
Ludmilla wachte auf. Sie wusste, dass irgendetwas sie geweckt hatte, aber sie wusste nicht, was.
Etwas war neben ihr.
Sie drehte ihren Kopf langsam nach rechts und versuchte, kein Geräusch zu machen. Was immer da war, sie wollte es nicht auf sich aufmerksam machen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf.
Dann sah sie ihm direkt in die Augen.
Das wenige Licht des Mondes und des glimmenden Feuers reichten aus, um auch seine Gesichtszüge zu erkennen.
Es war der Rattenfänger.
“Er war so schwach”, flüsterte er. Wie eine Gottesanbeterin hockte seine hagere Gestalt über Nihmans Körper.
Die Augen des kleinen Jungen waren aus den Höhlen gequollen. Sein Gesicht war blau. Eine Schlinge aus einer dünnen Nylonschnur schnitt tief in seinen Hals. Er hatte nicht schreien können.
Ludmilla brachte selber nur ein flehentliches Flüstern hervor. “Aber … er war auf dem Weg der Besserung. Wir können ihn wiederbeleben.”
“Ich fürchte, es ist zu spät.” Der Rattenfänger hob seine Faust von Nihmans Brust. Sie hielt ein Messer, von dem Blut tropfte.
Endlich schaffte es Ludmilla, zu schreien.
Robert war zuerst auf den Beinen. “Was?!”
Dann sah er ihn.
“Nein!” Er sprang zum Rattenfänger und stieß ihn zur Seite. Als er Nihmans Leiche sah, war er für einen Moment wie gelähmt. Aber ohne Roberts Gesicht sehen zu können, erkannte Ludmilla, wie etwas in ihm entflammte.
Grenzenloser Zorn. Seine Schultern verhärteten sich sichtlich und seine Muskeln spannten sich zum Angriff. Sie hörte seine Zähne laut knirschen. Der Rattenfänger hatte die Situation längst erkannt und befand sich auf der Flucht. Aber er war erst ein kleines Stück weit gekommen, als Robert aufsprang und die Verfolgung aufnahm. Der ältere Mann hatte keine Chance. Robert fiel ihn aus vollem Lauf an, wobei er den Hinterkopf des Rattenfängers packte und ihn während des gemeinschaftlichen Sturzes mit aller Gewalt mit dem Gesicht voran auf den Boden schmetterte. Eine der Speichen schoß knapp an Roberts linkem Auge vorbei und fuhr ihm durchs Fleisch. Aber das spürte er nicht. Er drehte den Rattenfänger auf den Rücken. Sein Gesicht war blutig, seine Nase enthielt scheinbar keine Knochen mehr. Er versuchte panisch und ungezielt, Robert mit dem Messer zu treffen, doch dieser fing ihn am Handgelenk und entrang ihm die Waffe. Dann rammte Robert ihm die Klinge in den Hals und zog sie nach unten bis zum Brustbein. Gurgelnd hauchte der Rattenfänger sein Leben aus.
Gee und Ludmilla erreichten den Schauplatz des kurzen Kampfes.
“Du hast ihn umgebracht, Robert!”, rief Ludmilla aus. “Weißt du nicht mehr, was mit den Kinderseelen geschieht?! Er hat vermutlich Nihman!”
“Tut mir leid”, sagte Robert. Er stand von der Leiche auf. “Er ist gerächt.”
“Nein”, meinte Gee. “Wenn die Geschichten stimmen, gibt es keine denkbare ausreichende Rache für das, was die Seelen nun erleiden müssen. Aber ich verstehe dich.”
“Moment”, sagte Ludmilla. “Riecht ihr das auch?”
Die beiden Jungs schnupperten in die Luft.
“Riecht irgendwie … apfelig”, meinte Robert.
Kaum hatte er die Worte beendet, begannen sich Lichtpunkte an den Spitzen der Speichen des Rattenfängers zu bilden. Wie Luftblasen unter Wasser lösten sie sich ab einer bestimmten Größe und stiegen kerzengerade nach oben. Selbst der leichte Wind beeinflusste sie nicht im Geringsten. Unverständliche Kinderstimmen erklangen schwach und in wildem Durcheinander.
“Sie werden zu Sternen …”, murmelte Ludmilla zu sich selbst.
“Nihman!”, rief sie.
Das Stimmengewirr blieb unverändert.
“Nihman!”, wiederholte sie.
“Ludmilla”, konnte man es schwach vernehmen. Es klang verzerrt, war aber eindeutig Nihmans Stimme.
“Wo bist du?”
“Es ist dunkel. Ich muss -”
Dies waren die letzten Worte, die sie von Nihman jemals hörten. Ludmilla gab es irgendwann auf, nach ihm zu rufen. Bedrückt trotteten die Jugendlichen zu ihrem Lager zurück. Es glänzte feucht um das Feuer herum. Gee fand den Grund und fluchte: “Jemand hat die Schläuche geöffnet. Die Kanister sind so gut wie leer! Das muss vor einigen Minuten geschehen sein. Wisst ihr, was das bedeutet?”
“Dass er wahrscheinlich über alle Berge ist”, meinte Robert.
“Ja, das allein wäre nicht so schlimm. Aber er hat gesehen, dass wir den Rattenfänger getötet haben. Und da wird es zum Problem, dass wir ihn nicht mehr einholen können. Er wird es weitererzählen und – oh mann, ich will nicht dran denken, was passiert, wenn man uns für die ewige Qual der Seelen verantwortlich macht. Der Worst Case.”
“Vielleicht sind die Kinder einfach nur befreit worden. So sah es doch aus”, bemerkte Ludmilla. Eine verzweifelte Hoffnung lag in ihrer Stimme.
“Es spielt nur eine Rolle, was die Leute, die Eltern, denken. Und sie werden ihre Kinder angemessen rächen, glaub mir. Wir sollten schnellstens den Rattenfänger auf unsere Kanister aufteilen, die Biester zugeben und abhauen.”
Das ließen sich die beiden anderen nicht zweimal sagen, so dass die Freunde schon kurz darauf den Körper mit ihren Beilen und der Routine eines eingespielten Teams zerlegten. Normalerweise hätten sie den Körper komplett verwertet, aber aus Zeitgründen konzentrierten sie sich auf das Ernten leicht zu lösender Fleischbrocken und die Entnahme der inneren Organe. Das mühsame Zerhacken von Knochen konnten sie sich somit ersparen. Nach getaner Arbeit standen sie schnaufend um ihre Kanister herum. “Ok”, meinte Robert, “wohin sollen wir jetzt gehen?”
“Ludmilla”, sagte Gee, “du hast doch von diesem Saftsee erzählt …”
“Oh ja! Ich weiß noch, in welcher Richtung er liegen soll!”
Gee sah kurz zu Robert hinüber, dieser nickte bestätigend.
“Also dann”, sagte Gee, “auf zum Saftsee, du führst!”
Noch einmal sahen sie zurück zu den Seelen. Sie waren mittlerweile kilometerhoch, setzten ihren Aufstieg jedoch ungebremst fort. Über ihnen nur die Sterne.