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Sabrina schläft
Die Dunkelheit lullt mich ein und ich kämpfe nicht länger dagegen an. Warum sollte ich auch? Paul und Emilia sind in Sicherheit. Mein Bruder ist da, er bringt uns hier raus. Vielleicht hat er doch recht. Das mit Sabrina ist echt übel. Womöglich ist Gregor ein einziges Mal nützlich in seinem Leben.
Es gefällt mir nicht, Sabrina in seine Obhut zu geben. Aber ich bin zu müde, um eifersüchtig zu sein.
Ich heiße die Dunkelheit willkommen, will endlich schlafen. Was soll dieser Lärm? Müssen die so einen Krach machen? Und warum schreit Gregor unablässig meinen Namen? Warum schlägt er mich, verdammt?
Meine Augenlider flattern.
»Tommy, wach auf!«
Gregor steckt noch immer in seinem lächerlichen Schutzanzug. Das unschuldige Weiß ist jedoch ruiniert. Er ist mit roter Farbe beschmaddert. Die Gesichtsmaske beschlägt von Gregors hektischem Atem.
»Wach endlich auf, Tommy!«
Wieder will er mir eine Backpfeife verpassen, doch ich fange seine Hand ab. Das hat er schon früher gern getan, seinen kleinen Bruder schikaniert. Bis ich feststellte, dass Gregor zwar älter, aber nicht stärker war als ich. Während er hinter seinen Büchern welkte, schuftete ich auf dem Hof. Mit achtzehn hatten wir unsere letzte Keilerei. Damals schlug ich ihm einen Zahn aus. Und hätte Sabrina mich nicht zurückgehalten ...
Ich schubse ihn von mir und richte meinen Oberkörper auf. Mir wird schwindelig. Es rauscht in meinen Ohren. Als die Schlieren sich lichten, erkenne ich, wo ich bin.
»Was zum ...?«
Ich befinde mich noch immer im Flur meiner Wohnung. Nur dass das Sofa an die Haustür gerückt wurde.
Dann nehme ich die Geräusche von draußen wahr. Stöhnen, Kreischen, hastende Schritte, ein Schuss in der Ferne.
»Es sind zu viele gewesen.« Gregors Stimme klingt gedämpft durch den Anzug. »Sie waren plötzlich überall. Ich habe uns gerade noch hier reingebracht.«
Ich kraxel auf das Sofa und linse durch den Spion.
Auf der Straße zähle ich acht Menschen in Schutzanzügen, aber keiner von denen regt sich mehr. Meine Nachbarn machen sich über ihre Leichen her.
Ich erkenne Irene unter den Fressenden. Sie hat manchmal auf Paul und Emilia aufgepasst. Ich glaub, sie steht auf mich. Keine große Schönheit, aber wenn sie lacht, kann einem ganz anders werden. So schnell würde ich sie wohl nicht mehr lachen sehen. Irgendetwas hat ihr den Unterkiefer weggerissen.
Da sie das Fleisch nicht wie ihre Artgenossen mit den Zähnen abnagen kann, reißt sie rot triefende Brocken aus den Leichen und stopft sie sich in den Rachen. Dann reckt sie den Kopf nach hinten und würgt ihre Beute wie ein Raubvogel runter.
Ich setze mich auf das Sofa, mir schwirrt der Schädel. Ich wühle in der Sofaritze und werde fündig. Sabrina versteckt hier oft eine Notzigarette. Sabrina. Ich muss gleich mal nach ihr gucken. Aber dafür brauche ich einen freien Kopf.
»Du willst jetzt einen kiffen?« Gregors Stimme überschlägt sich fast.
»Die sind erstmal beschäftigt«, sage ich, nehme Joint und Feuerzeug aus dem Zipbeutel und zünde die Tüte an. Ich inhaliere tief, halte den Atem, lass das Dope seine Wirkung tun. Ich atme Gregor den Rauch ins Gesicht und es geht mir gleich viel besser.
»Dein Anzug ist übrigens undicht.«
»Scheiße, wo?«
Panisch sucht Gregor das Leck. Er erinnert mich dabei an einen Hund, der den eigenen Schwanz fangen will.
»Da!«, sage ich und senge ihm mit dem Feuerzeug ein Loch in den Anzug.
»Bist du völlig irre?«
Ich pruste vor unterdrücktem Lachen. »Wenn du weiter so rumkeifst, wissen die, dass wir hier sind.«
»Warum hast du das getan?«
»Das war für dein Rumgeficke mit Sabrina.«
»Das ist 20 Jahre her! Und du hast mir einen Zahn ausgeschlagen.«
»Und dafür, dass du Vater im Stich gelassen hast.«
»Du weißt nicht, was du tust!« Gregor reißt sich den Schutzhelm vom Kopf. »Ich bin der Einzige, der das Virus aufhalten kann. Wenn ich sterbe, wird es niemand stoppen.«
»Du meinst, wenn ich sterbe. Schließlich ist es mein Blut, das du brauchst.«
»Kannst du den Wirkstoff entwickeln?«
»Typisch, lässt wieder den Doktor raushängen. Hast dich kein Stück geändert. Zum Kotzen!«
»Sieh dich mal an!« Gregor schreit jetzt. »Kiffst dir deine letzten Gehirnzellen aus dem Schädel und lebst noch immer in der Vergangenheit. Es tut mir leid mit Sabrina und es tut mir leid um Dad. Es tut mir leid! Willst du mir noch einen Zahn ausschlagen? Bitte, tu es! Tu es, verdammt!«
Schlurfende Schritte nähern sich. Ich lege einen Finger an die Lippen.
Gregor wird kreidebleich, seine Augen glubschen ihm fast aus dem Schädel. Er hält sich selbst den Mund zu. Der Anblick ist so komisch, dass ich kaum das Lachen unterdrücken kann. Das Rütteln am Türknauf hilft mir, mich zu beherrschen. Es rüttelt so heftig, dass wir auf dem Sofa durchgeschüttelt werden.
Gregor wird noch blasser, ist kurz davor, unsichtbar zu werden. Ich kann das Kichern nicht länger zurückhalten, ich muss sofort etwas tun. Also versiegle ich meinen Mund mit der Tüte und inhaliere, inhaliere so tief, als hinge mein Leben davon ab - und genauso ist es ja auch. Erst als sich die schlurfenden Schritte entfernen, atme ich wieder aus.
»Schön«, sage ich heiser. »Dann wäre das geklärt.«
»Wir brauchen jetzt einen klaren Kopf«, murmelt Gregor.
»Ich glaub, es ist das Dope, das mich immun macht.«
»Tommy.« Gregor legt mir beide Hände auf die Schultern und sieht mich mit ernstem Glubschaugenblick an. »Wir müssen uns zum Sammellager durchschlagen. Alles hängt nun von uns ab.«
»Das ist ein langer Weg«, nuschle ich. »Du solltest auch lieber immun sein.«
Ich halte ihm die Tüte hin.
Gregor greift mit spitzen Fingern nach dem Stummel, macht aber keine Anstalten, daran zu ziehen. Das hat er noch nie getan. Er vergaß auch nie, zu erwähnen, dass Marihuana eine schlechte Angewohnheit sei.
Am Rande meines Bewusstseins kratzt etwas. »Ich muss nach Sabrina sehen.«
»Sabrina schläft. Sie ... muss sich ausruhen.«
»Ich will wissen, ob es ihr gut geht.«
Gregor drückt mich auf das Sofa zurück. »Lass mich das machen. Ich bin schließlich der Arzt hier.«
Ich nicke. Der Weg ins Schlafzimmer scheint mir plötzlich sehr weit. Wieder schwappt die Erschöpfung über mir zusammen. Soll sich der Herr Doktor mal nützlich machen, schließlich ... Das Bild von Gregor und Sabrina im Schlafzimmer zerreißt die Müdigkeit. Nie wieder lass ich zu, dass Gregor seine Doktorspielchen mit Sabrina treibt.
Widerwillig gibt mich das Sofa frei. Ich torkle die Treppen hoch ins Schlafzimmer.
Gregor hat Sabrina von ihren Fesseln befreit und sie ins Bett gelegt. Ertappt fährt er hoch, versucht mir den Weg ins Zimmer zu versperren. »Ihr geht es gut, Tommy. Sie schläft, sie muss sich ausruhen!«
Ich schubse ihn beiseite.
Gregor hat Kissen um Sabrinas Kopf drappiert, eins liegt sogar auf ihrer Stirn. Die Bettdecke ist hochgezogen bis an das Kinn. Nur eine Kleinigkeit stört das friedliche Bild. Kleine Blutblumen bilden sich auf der Bettdecke.
»Sie schläft also, ja?«
»Es ist nicht so, wie es aussieht.«
Ich schiebe sanft das Kissen von Sabrinas Kopf. In ihrer Stirn klafft ein centgroßes rotes Loch.
»Ich war das nicht«, beeilt sich Gregor zu versichern. »Die Soldaten haben ihre Befehle nicht von mir. Du musst das verstehen. Sie war Kategorie Null. Sie war nicht mehr die Sabrina, die du kanntest ...«
Ich streiche Sabrina zärtlich über die Wange. Sie riecht nach Sonnencreme. Dann wende ich mich meinem Bruder zu. »Ich verstehe das sehr wohl.« Plötzlich sehe ich die Dinge ganz klar.
»Weil du sie nicht haben konntest, gönnst du sie auch mir nicht.«
»Beruhige dich, Tommy!« Gregor hebt beschwichtigend die Hände.
»Erst bringst du Vater um.« Ich mache einen Schritt auf Gregor zu.
»Jetzt mach mal halblang. Vater ist ...«
»... an gebrochenem Herzen gestorben. Weil du uns im Stich gelassen hast und wir den Hof nicht allein bewirtschaften konnten. Du hast ihn auf dem Gewissen.« Ich mache einen weiteren Schritt auf ihn zu.
»Das kann doch nicht dein Ernst sein.« Gregor weicht vor mir zurück.
»Und was ist mit Paul und Emilia?«, frage ich mit einem unschuldigen Lächeln. »Geht es ihnen gut? So gut wie Sabrina vielleicht?«
»Tommy, du bist ja vollkommen high!«
Er steht mit dem Rücken zur offenen Tür, die Augen weit aufgerissen. Wieder weicht alle Farbe aus ihm. Noch blasser als auf dem Sofa. Er will sich unsichtbar machen, wie damals, als wir ihn am nötigsten gebraucht haben auf Vaters Hof. Verschwand einfach. Aber er würde sich nicht noch einmal seiner Verantwortung entziehen.
Gregor schreit, als ich mich auf ihn werfe. Ineinander verkeilt poltern wir die Treppen hinunter in die Stube. Wir kugeln über den Fliesenboden, rammen den Glastisch, Glasscherben überall.
Ich komme auf Gregor zu liegen. Sein Gesicht ist mit Schnitten und Kratzern übersäht. Blut läuft ihm von der Stirn ins linke Auge. »Meine Beine«, keucht er. »Ich spüre meine Beine nicht.«
Ich kann mein Glück kaum fassen. Ich bin genau neben dem Dope gelandet, das ich verloren habe, als Gregor mit seinen Aliens das Haus gestürmt hat.
Ich ignoriere Gregors Gewimmer und das wilde Gerüttel an der Haustür, drehe mit zitternden Fingern eine Tüte.
»Ich fühle meine Beine nicht, Tommy ...«
»Weißt du, Gregor, du hättest ein einziges Mal das Richtige in deinem Leben tun können.« Ich lecke über das Blättchen und klebe den Joint zu. Das Rütteln an der Tür wird energischer. Wir haben bei unserem Sturz einen Höllenlärm gemacht. »Wer weiß, vielleicht hätte ich dir sogar verziehen. Aber du hast es wieder mal versaut.«
Ich puste Gregor eine Rauchwolke ins Gesicht. Er hustet.
Die Tür wird langsam aufgedrückt, das Sofa kratzt über den Boden. Zu Krallen geformte Hände langen durch den Spalt in die Wohnung.
»Willst du auch einen Zug? Ich sag dir, es macht immun. Außerdem ist das Zeug gut gegen Schmerzen. Aber wem erzähle ich das, du bist doch der Doktor.« Ich kichere.
Mit zitternder Hand greift mein Bruder nach dem Joint.
Ich ziehe die Tüte wieder weg. »Andersrum ist Marihuana eine schlechte Angewohnheit, du solltest jetzt nicht damit anfangen.«
Ich will die Tüte auf einen Zug rauchen. Ich inhaliere so tief ich kann, blende das krachende Geräusch aus, mit dem die Haustür aus den Angeln bricht. Durch die Rauchwolke sehe ich Gestalten auf mich zurennen. Ganz vorne ist Irene. Sie grinst ein kieferloses Grinsen und sie ist scharf auf mich.