Mitglied
- Beitritt
- 11.02.2017
- Beiträge
- 1
S11-Altona
Hamburg Altona, dort, wo die großen Züge eintreffen.
Es ist ein kalter Herbstmorgen an einem kalten und hektischen Bahnhof.
Leute irren umher. Migranten sprechen Wildfremde an und suchen verzweifelt nach Arbeit, Obdachlose essen die kalten Fritten vom Vortag, die andere Leute weggeschmissen haben.
Inmitten dieses Gewusels sitzt der kleine James mit seinem Vater auf einer Parkbank und füttert Tauben mit jenen Brotkrümmeln, die in seiner Butterbrotsdose übriggeblieben sind. Er beobachtet das Geschehen.
In die eine Richtung gehen Leute mit schicken Anzügen und Aktentaschen, in die andere gehen Leute mit zerrissenen Kleidern und Bierflaschen. Er fragt sich wohin all diese Leute gehen.
Auf einmal ertönt ein lautes Signal und eine schrille Stimme ruft durch einen der zahlreichen Lautsprecher, dass die S11 bald eintreffe.
„Steh auf!“, sagt James Vater und reißt ihn aus seinem Gedankengang. „Unser Zug kommt, wir müssen los“, brummt er. Sie eilen zur Straßenbahn und bahnen sich ihren Weg zu den Eingangstüren der S11. Diese öffnen sich, Menschen strömen hinaus. Hektik- sie wurschteln sich ihren Weg in die Straßenbahn mitten ins Getöse, vorbei an Kopfhörer- und Smartphonejunkies, die lieber in ihrer eigenen kleinen, perversen Welt der Sicherheit und Anonymität gefangen bleiben, als sich ihren Mitmenschen mitzuteilen. James nimmt das donnernde Getöse und Rauschen immer intensiver wahr, das sich durch die Mischung der verschiedenen Musikrichtungen aus aller Welt und das Tippen der Finger auf diversen elektronischen Geräten ergibt. Ein furchtbarer Lärm- der Klang der Verzweiflung aufgrund von gescheiterter Kommunikation, hervorgerufen durch den technischen Fortschritt, ein Schrei nach Hilfe, den niemand realisiert vor lauter Informationsfluss und Bling-Bling der leuchtenden Apfeltelefone. James fragt sich wo all diese Menschen hinwollen, welchen Weg sie gehen.
Und so rangeln sie sich durch das Abteil bis hin zu zwei aneinander liegenden freien Plätzen. Sie nehmen Platz. Gegenüber von ihnen sitzen ein alter Mann, der ebenfalls das Schauspiel innerhalb des Waggons betrachtet und eine junge blonde Dame, die ebenfalls der Sucht der Smartphones und Kopfhörer verfallen ist. Der alte Mann wundert sich, wie so viele Menschen nebeneinander sitzen können ohne miteinander zu sein.
„Papa?“ fragt James. „Wohin gehen eigentlich all diese Leute?“
„Die meisten Leute gehen zur Arbeit, James“, antwortet der Vater.
„Und warum gehen all diese Leute so früh zur Arbeit?“, hinterfragt James weiter.
„Nun…also das machen Menschen eben. Sie machen das, um glücklich zu werden…also, um sich ihre Träume erfüllen zu können“, behauptet der Vater entschlossen das Richtige gesagt zu haben.
„Aber diese Leute hier sehen alle nicht glücklich aus“, stellt James fordernd fest.
Erstaunt blickt der Vater sich um und starrt in lauter leere und geistlose Fratzen, die noch müder aussehen als ein dutzend bekiffter Koalabären. Er war sprachlos. Plötzlich lacht der alte Mann, der ihnen gegenüber sitzt aus vollem Hals:
„Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische, aber der Junge hat Recht! Niemand hier sieht wirklich glücklich aus! Niemand hier weiß wirklich wohin er geht, weil die Meisten diese Frage aus den Augen verloren haben!“
Der Vater schweigt.
„Wieso haben die meisten Leute diese Frage aus den Augen verloren?“ entgegnet James dem alten Mann.
„Nun ja…das ist einfacher als es zu sein scheint…aber die Antwort lautet- der Geist der Zeit. Es ist die Familie und es ist die Gesellschaft, die die Leute vergessen lassen, wohin sie wirklich gehen wollten und stattdessen fragen sich viele Leute ihr Leben lang die schlimmste aller Fragen: Was wäre gewesen, wenn...?- Der Geist der Zeit…“, philosophiert der alte Mann.
Ein lautes Signal ertönt- Haltestelle. Der alte Mann erhebt sich und verschwindet mit einem Lächeln in seinem faltigen Gesicht, bevor das Gewusel der Smartphonezombies und Schlipsträger ihn verschlingt.
Der Vater murmelt entgeistert die letzten Worte des alten Mannes vor sich hin.
Der Geist der Zeit…was wäre gewesen, wenn…?
Hamburg Altona, dort, wo die großen Züge eintreffen.
Nichiavelli