S-Bahn Wagen 1127
S-Bahn Wagen 1127
Heiße Luft drang durch die geöffneten Oberlichter des S-Bahn Wagens. Die unerträgliche Hitze die schon seit Tagen wie ein schweres Tuch über der Stadt lag verwandelte sich in eine warme und klebende Schwüle die einem die Luft zu atmen nahm. Wie eine große Hand drückte sie meine Kehle zu und presste mir die letzten Tropfen Feuchtigkeit aus meinem Körper. Bestimmt waren schon irgendwo ergiebige Gewitter am Werk aber hier in der Stadt, in der Bahn, war davon noch nichts zu spüren.
Ich stand direkt an der Tür um möglichst schnell am Bahnhof die S-Bahn zu verlassen. Ich musste noch den Anschlusszug erreichen. Auch an diesem Tag war ich schon wieder spät dran. Aus irgendeinem Grund stand der Zug wieder minutenlang im Nirgendwo der Großstadt, wartete und zischte gequält vor sich hin. Nervös schaute ich auf die Uhr. Die Zeit würde noch reichen aber einen Dauerlauf die Rolletreppen hoch würde ich wohl auf mich nehmen müssen, wie fast jeden Tag. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Schwerfällig und kraftlos, so als würde auch der Bahn die Hitze zu schaffen machen. Der Zug fuhr in die nächste Station ein. Der kühlende Fahrtwind erlosch wie eine Kerze im Wind. Drückende Luft gewann wieder die Oberhand. Die Türen öffneten sich. Es stiegen nur wenige Menschen aus, dafür wollten um so mehr in den Zug hinein.
Ein Mann in einem unmodernen grauen Anzug drängte sich noch in die Bahn während sich die Türen schlossen. Mit Glück konnte er gerade noch seinen Körper, zwischen den sich schließenden Türen, in das Abteil zwängen. Schweiß stand auf seiner Halbglatze. Er lockerte seine Krawatte und öffnete den oberen Hemdknopf, der Mann rang sichtlich nach Luft.
Direkt an der Tür stehend, leicht in die Ecke gedrängt, ließ ich gelangweilt meinen Blick schweifen. Ein andere Mann, Mitte fünfzig, ergrautes Haar und einem weißen Oberlippen Bart stand in mitten der Menge. Er trug bunte Bermudas. Ein weißes Hemd spannte sich über seinen Kugelbauch. Sein Atmen rasselte, diese Enge musste die Hölle für ihn sein.
Eine dicke, fast fette Frau mit schwammigen Oberarmen unterhielt sich lautstark mit einer nicht minder hässlichen Frau. Billige Dauerwelle, blond gefärbt, vulgär aufgetragener roter Lippenstift, dazu Liedschatten in Türkis über die ganzen Augen verteilt, schwatzte sie über Arbeitskollegen und ließ an keinem ein gutes Haar. Die andere Frau, klein, untersetzt, mit krummen Beinen, war ständig debil am kichern. Mit dem Kopf nickend, hatte sie sichtlich ihren Spaß. Was ich nicht behaupten konnte. Genervt und angewidert schaute ich weg. Wahrscheinlich machte ich gerade ein Gesicht als müsste ich mich jeden Moment übergeben.
Ja, das wäre eine gute Idee. Der fetten Frau ganz gezielt auf ihr hellblaues Satin Hemd
kotzen. Ich würde mich dann kurz entschuldigen um dann noch mal eine volle Ladung nach zu legen. Direkt auf ihr Dekollete, welches aussah wie zwei prall aufgepumpte LKW Schläuche, die schon etwas zu lange in der Sonne lagen und in einer überdimensionalen Wurstpelle zusammen gepresst wurden.
Welcher Mann konnte das Verlangen haben so was freiwillig anzufassen ? Na dann lieber nichts zu Weihnachten.
Ich riss mich von meinen Gedanken, die mir übrigens wirklich das Mittagessen in die falsche Richtung trieben, los und verfolgte den Flug einer ordinären Fliege. Wilde Flugmanöver vollführend versuchte sie sich auf die Brille des rasselnden Mannes zu setzen
Die Fliege war kaum gelandet und begann sich zu putzen da wedelte der Mann sie mit seiner Hand weg. Die Fliege schwirrte ab. Ein neuer Versuch, direkt von der Haltestange auf die Brille zu. Kurz abgesetzt, der Mann wedelte sie abermals weg. Sie flog hoch, schwirrte weiter und heftete sich mit Ihren klebrigen Fliegebeinen an ein Schild, welches an der Kopfseite des Abteil, kurz unterhalb der gewölbten Decke, zwischen zwei Werbepostern angebracht war, auf dem stand: SIE BEFINDEN SICH IM S-BAHN WAGEN 1127.
Wie lange fuhr ich jetzt schon mit dieser Bahn ? Ein Jahr, zwei Jahre, es fiel mir im Moment nicht ein. Es musste schon eine Ewigkeit sein aber dies war das erste Mal das mir dieses Schild auffiel. Ich grinste leicht und machte mir Gedanken wem dieser Hinweis von Nutzen sein könnte. Von mir unbemerkt fuhr der Zug schon in die nächste Station ein um ächzend zum stehen zu kommen.
„Junger Mann, könne sie mich evenduell ma hier nei lasse ?“
Eine ältere Frau mit Frankfurter Dialekt holte mich wieder in die Realität zurück. Irgendwie musste ich dieser alten Dame im Weg gestanden haben. Sie versuchte noch in den überfüllten Zug zu kommen. Ich machte mich etwas dünner. Dicht eingezwängt neben dem Mann mit der Halbglatze, der alten Dame, der Tür und der Trennwand zu den Sitzplätzen hoffte ich bald den Bahnhof zu erreichen.
„Danke, junger Mann.“
„Pffffffttt.“ Die Türen wurden automatisch mit Druckluft geschlossen, die Bahn setzte sich schwerfällig in Bewegung.
„Ist net immer so einfach für mich wenn die Bahn so voll is.“
Ich nickte zustimmend und hoffte das sie ihren Mund hält.
Fahrtwind strömte wieder aus den Oberlichtern direkt in mein Gesicht. Angenehme kühle verbreitet sich wäre nicht da dieser aufdringliche Gestank, eine Mischung aus Schweiß und Parfüm. Ich meinte auch den Duft des Todes der die alte Dame umgab zu riechen.
Ich glaube das der Sensemann alten Menschen immer dicht auf den Fersen ist und die Leute mit seinem Duft des Todes umhüllt ohne das sie es selbst bemerken.
In Wirklichkeit ist es aber wohl nur der Eigengeruch der alten Dame vermischt mit billigem Duftwasser und Linseneintopf gewesen.
Ich hatte Glück, die Dame war auf keine tiefer gehende Konversation aus.
Menschen in Anzügen, Menschen ohne Anzüge in Sommerkleidung, zwei Jungs mit schlabber Hosen die auf mich den Eindruck erweckten als wären sie gerade beim wichsen erwischt worden, Frauen unter anderem die Fette und die debil lachende, die alte Dame, der Mann mit der Halbglatze und der rasselnde Brillenträger , alle standen oder saßen sie in diesem Wagen 1127. Der Wagen war wirklich brechend voll.
In der Regel dauert meine S-Bahn fahrt nur fünfzehn Minuten, ich sag’s Ihnen das können die schlimmsten Minuten Ihres Lebens werden.
Meist ist es nur Routine, nichts als Routine. Mal mit joggen, mal gemütlich die Rolltreppe hochgehend. Letztendlich einfach verschwendete Zeit, die man nicht wieder bekommt. Wenn ich mal hochrechne das ich zweimal am Tag fünfzehn Minuten, das ganze an zwanzig Tagen im Monat, das dann an zweihundert Tagen im Jahr mache habe ich am Ende des Jahres hundert Stunden oder ungefähr vier Tage, die Verspätungen nicht eingerechnet, in diesem Zug verbracht. Vier Tage in einem Wagen eingesperrt wie diese Nummer 1127, mit aller Sorten Menschen und Fliegen. Über die anschließende einstündige Zugfahrt zurück in das Nest der Landeier wie ich eins bin, möchte ich hier gar nicht drüber sprechen. Das ist eine andere Geschichte.
Ich glaube das die Fliege ein glücklicheres, wenn auch kürzeres, Leben führt.
Wer kann schon von sich behaupten das er jedem Menschen auf der Nase rumtanzen kann ?
Aber will ich das überhaupt ? Nein, vergessen wir das mit dem Fliegenleben.
Mittlerweile fuhr die Bahn in den Bahnhofstunnel ein, was aber nicht hieß das ich es jetzt geschafft hätte und diesem Viehtransporter entfliehen konnte um dann in den nächsten einzusteigen. An guten Tagen fährt der Zug bis zur Haltestation ohne Unterbrechung durch. An schlechten Tagen stoppt der Zug im Tunnel ab. Dieser Tag war ohne Zweifel ein schlechter Tag. Ein schlechter und heißer Tag.
Stellen sie sich vor sie haben in der Sonne gesessen, sie schwitzen, ihr Knorpel ist ganz trocken und sie sehnen sich nach einem kühlen Bier oder was auch immer sie jetzt trinken möchten. Sie bekommen aber keine Erfrischung sondern ihr Kopf wird in einen warmen Backofen gesteckt. Das müsste dem, was ich an solch einem Tag fühle wenn der Zug im Tunnel stehen bleibt, ziemlich nahe kommen.
Die Luft steht, Schweißperlen treten an die Körperoberfläche und haben Ihren Auftritt. Nichts gegen diese netten, stinkenden Perlen aber schwitzen vom nichts tun finde ich irgendwie nicht korrekt. Das ist doch wie ein Samenerguss bei einer Wurzelbehandlung.
Rumstehen, nichts machen aber schwitzen als hätte man den ganzen Tag nur gejoggt das passt ungefähr so zusammen wie Strapse zur fetten Frau. Nicht das ich irgendwie intolerant klinge aber tropisches Klima ist einfach nichts für mich. Also stand ich nun da und schwitzte vor mich hin, wie alle anderen Fahrgäste auch.
Mittlerweile waren das Geschwätz der fetten Frau und das debile gekichere der Dürren verstummt. Gemurmel, stöhnen und leise Flüche machten sich breit. In etwa fünfzehn Minuten würde aus den leisen Flüchen, böse, laute Flüche geworden sein. Noch mal zwanzig Minuten später würden sich die ersten Leute an die Gurgel gehen. Letzteres ist nur eine Vermutung von mir, da ich solange noch nie im Tunnel stecken geblieben bin.
Ich schaute auf die Uhr. Wenn ich meinen Zug noch erreichen wollte dann müsste schon ein Wunder geschehen. Ein Wunder in der Form das mein Anschlusszug Verspätung hatte. Ich kann Ihnen aber sagen ein Zug der sich verspäten soll hat nie Verspätung. Dies ist ein ungeschriebenes Pendler Gesetz. Also schied diese Form des Wunders schon mal aus. Die andere Möglichkeit bestand darin das ich mich aus dem Tunnel direkt durch die Decke katapultieren würde um direkt am Bahnsteig über mir heraus zu schießen, wie der Eiter eines aufgedrückten Pickels. Womit ich sagen will, die Hoffnung pünktlich bei meiner Freundin zu sein sank gegen Null. Dies ist der Punkt an dem dann auch ich etwas unleidlich werde obwohl ich sonst ein zurückhaltender Typ bin.
Der Zeitpunkt an dem man anfängt Leute zu hassen die einem gar nichts getan haben ist wirklich hässlich. Man merkt wie der Hass in einem hochsteigt, wie eine Quecksilbersäule in der Sonne. Man muss seinen Frust, seine Wut irgendwie kompensieren ohne auszuflippen.
Ich hatte mich auf die fette Frau eingeschossen. Wegen ihr musste der Zug ständig halten. Sie war es die den Zug zum Stopp im Tunnel zwang. Es war offensichtlich. Die Bahn war mit der fetten Frau im Abteil 1127 restlos überfordert. Sie war der Tropfen der das Fass zu überlaufen brachte. Die fette Frau mit dem beschissenen Satin Hemd war zu diesem Zeitpunkt die Inkarnation all meiner Probleme. Dafür das ich sehr wenig Probleme habe, war diese Inkarnation doch schon beachtlich. Ich fragte mich wie würde eine Inkarnation von wirklich echten Problemen aussehen ?
Dieser Satin Frau ins Dekollete zu kotzen war mittlerweile nicht mehr tough genug. Zu harmlos, nicht durchdacht, einfach Geschmacklos und unausgereift. Es musste etwas anderes geben. Irgendwas mit mehr Stil. Etwas was einem das Gefühl des Erfolges gab in dieser Zeit der Schmach und Niederlage, die einem die Bahn wieder einmal zugefügt hatte. Die große DB hatte wieder gewonnen und ihr Schwert der Unzuverlässigkeit tief in meine Eingeweide gerammt. Ich bekam langsam die Angst doch noch den Zeitpunkt zu erleben an dem die ersten Fahrgäste übereinander herfallen würden.
Ohne Zweifel ich würde mir die fette Frau vorknöpfen. Ihr langsam die Kehle zudrücken bis ihre kleine, lästerliche Fettzunge aus ihrem vulgär geschminkten Mund quoll und nach Luft schnappen würde.
Man bekommt Angst vor sich selbst, wenn einem diese Gedanken überfallen wie Schatten in der Nacht.
Die Satin Braut verbrauchte eindeutig zu viel Luft. Nicht nur das, auch hatte sie mittlerweile erheblich an Gewicht zugenommen, war sie beim ersten Anblick nur dick, so war sie jetzt nicht nur fett sondern sie drohte zu platzen. Wie konnte sie in dieser kurzen Zeit soviel zu nehmen ? Man musste ihr ein Ende bereiten bevor sie wirklich in tausende kleine Fleischfetzen zerplatzen würde. Was würde das für eine entsetzliche Sauerei werden.
Ich musste schnell handeln bevor sie auf die Idee kam alle hier im Abteil aufzufressen wie ein Stück Käsetorte nach der anderen. Ich musste dafür sorgen das der Zug weiter fuhr und dies war nur möglich in dem die fette Kuh beseitigt würde.
Ich raffte mich aus meiner Ecke auf, entschuldigte mich bei der alten Dame das ich Ihr auf die Füße getreten war und drang zur der Fetten hin. Es war zu eng, ich kam mich nicht zwischen all diesen Leuten zu der Frau. Meine Arme ruderten ausgestreckt, schlugen dem Rasselmann die Brille vom Kopf. Panik macht sich breit. Meine Arme waren einfach zu weit von der Kehle der Fetten entfernt. Ich sah ihr widerliches, fettes, rotes, weit aufklaffendes Maul. Lippenstift klebte an Ihren Zähnen. Ich musste mit ansehen wie sie uns die ganze Luft zum atmen nahm. Sie öffnete und schloss Ihren Mund wie ein Fisch im Wasser. Sie würde nicht nur die Luft sondern auch die ganzen Fahrgäste in sich einsaugen und verdauen. Wir würden alle in diesem Wagen sterben. Es gab keine Hoffnung mehr.
Ein kräftiger Ruck weckte mich aus meiner Tagträumerei. Der Zug fuhr an und kam langsam in Fahrt. Ich schaute zur fetten Frau. Sie hatte merklich an Gewicht verloren.
Leichter Fahrtwind wallte auf von Kühlung konnte aber keine Rede sein. Mir war es egal.
Jetzt würde der Zug nicht noch mal halten bevor er in den Bahnhof einfuhr.
Das Wunder des Eiterpickels blieb aus. Ich drängte mit all den Menschen aus dem Wagen zur Rolltreppe hin und rannte.
Spät am Abend nach einem kühlen Bier lag ich mit meiner Freundin zusammen und sagte ihr:
„Die fette Frau im Wagon 1127 hat noch mal Glück gehabt, die hätte es fast versaut.“
Meine Freundin schaute mich fragend an. Ich gab Ihr ein Kuß und drückte sie an mich.