Säuberungsaktion
17. September 1982:
In der Mittagszeit war über den Dächern im Westen der Stadt Ruhe eingekehrt. Eine feine Schicht aus Staub und Schutt bedeckte die Straßen, herausgebröckelt aus den Fassaden der Ruinen, in denen die feindlichen Milizen sich verschanzt hatten. Seit dem Morgen klaffte an der Südfront des belagerten Gebäudes ein Loch, das eine Granate in den mürben Beton gesprengt hatte. Schweigend und drohend ragte daraus die Mündung eines MG-Geschützes hervor. Weitere Soldaten waren auf dem Dach postiert. Eine Erstürmung des Gebäudes war ausgeschlossen.
Joszhua ertappte sich dabei, wie sein Blick sich vom Eingang des Gebäudes löste und über die Dächer am Hafen aufs Meer wanderte, welches friedlich zu Füßen der Stadt ruhte. In der flirrenden Hitze erschien es ihm beinahe wie eine Fata Morgana, und er lechzte nach einer Erfrischung. Er legte sein Sturmgewehr auf den Sims des Daches und nestelte an seiner Feldflasche. Kaum hatte er den ersten Schluck getrunken, spuckte er angewidert aus. Der feine Staub war in alle Ritzen gedrungen, sogar unter den Schraubverschluss der Feldflasche. Außerdem war die Brühe viel zu warm.
Von irgendwoher ertönte ein Motorengeräusch. Und es kam näher. Joszhua steckte die Feldflasche weg und nahm die unter ihm liegende Gasse ins Visier. Sein Kommandant signalisierte ihm, nicht zu schießen. Ein Geländefahrzeug, auf dessen Ladefläche ein Geschütz montiert war, bog in die Gasse ein. Durch die im Sonnenlicht blitzenden Scheiben war der Fahrer nicht zu sehen, aber auf der Ladefläche kauerte ein vermummter Schütze. Als das klappernde Gefährt vor dem Eingang des Hauptquartiers hielt, sprang auch die Tür auf, und der
gefürchtete Chef des Terrorverbandes, verantwortlich für die jüngsten Anschläge der „Opferbereiten“, wie sich die Mitglieder der Kampfverbände nannten, trat auf die Straße. Natürlich war er zu allen Seiten von seiner Leibgarde abgeschirmt, dennoch hätte Joszhua ihn von seiner Position bequem liquidieren können.
Die Order der Regierung lautete zwar, das Hauptquartier der Organisation auszuheben, die Funkionäre jedoch unbeschadet zu lassen, sollten sie fliehen. Sie würden bedeutungslos werden, wenn sie das Land erst verlassen hätten, und eine reaktionäre Welle des Terrors könnte vermieden werden. Dennoch haftete das Fadenkreuz in Joszhuas Visier an der von einem Burnus gesäumten Stirn, bis die Türen des Geländewagen geschlossen wurden und der Motor startete. Unter monotonem Rattern des Motors entschwand der Fluchtwagen in den Gassen der Stadt. Irgendwann war auch das Motorengeräusch verklungen, und Joszhua richtete sich von seinem Platz auf. Seine Einheit hatte die Position auf den Dächern schon seit Stunden gehalten. Jetzt war das Hauptquartier der Terrormilizen geräumt.
Dennoch war der Einsatz noch nicht beendet. Joszhuas Einheit verließ das Dach, auf dem sie stundenlag ausgeharrt hatten. Ein anstrengender Marsch stand ihnen bevor. In zwei Lagern nördlich der Stadt vermutete man versprengte Mitglieder der Organisation. Joszhua atmente erleichtert auf, als mitgeteilt wurde, dass die Truppe Unterstützung von lokalen Polizeimilizen erhalten würde. Es wurde schließlich auch Zeit, dass die hiesigen Behörden mit ihnen im Kampf gegen den Terror kooperierten.
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Es war einer der wenigen glücklichen Momente, seit sie ihre Heimat verlassen mussten, als der Krieg ausbrach. Heute waren soderbarerweise keine Kampfflugzeuge am Himmel gewesen, und auch der Lebensmitteltransport war durch die Kontrollen der Besatzer passiert, ohne dass diese den Löwenanteil der Fracht konfisziert hatten. So kam es, dass sie heute tatsächlich alle gemeinsam beim Abendessen saßen.
Plötzlich durchströmten die Gassen gellende Schreie. Noch bevor irgend jemand die Situation begriffen hatte, sprang die Tür auf, ein Uniformierter mit einem Schnellfeuergewehr brüllte etwas, was niemand verstand. Er herrschte Sikuh an, den ältesten Sohn der Familie. Dieser hielt die Hände erhoben. Doch er verstand nicht. Wieder schrie der Soldat. Sikuh schaute ihn fragend an, verzweifelt. Sieben Augenpaare ruhten flehend auf dem Soldaten. Einen erlösenden Moment lang glaubte Sikuh, der Mann würde sich beruhigen, begreifen, dass Sikuh ihn nicht verstand. Doch da riss er das MG hoch.
Tanya, Sikuhs Mutter, die dem Bewaffneten am nächsten saß, stürzte sich auf ihn, als Sikuhs Körper vornüber fiel. Der vielstimmige Schrei verstummte erst, als Kugeln quer duch den Raum zischten, die dünnen Wände der Notunterkunft durchschlugen, den Tisch, unter den sich die Kleinsten geflüchtet hatten.
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Als er seine Stiefel von Blut und Schmutz gereinigt hatte, trat Joszhua vor den Kommandanten und meldete gehorsamst, dass sie das Lager von potentiellen Terroristen befreit hätten.
Historischer Hintergrund:
Im Juni/Juli 1982 startet die israel. Armee eine Offensive gegen die im Beirut/Libanon operierende Palestine Liberation Organisation unter Yassir Arafat, damals verantwortlich für Übergriffe und Attentate fanatischer Palästinenser auf Siedlungen in Nordisrael. Im Zuge dieser Offensive und in Kooperation mit lokalen „christlichen Milizen“ ereignen sich zwei Massaker in der Nacht vom 17. auf den 18. September 1982 in zwei muslimischen Flüchtlingslagern, Sabra und Schalita. Verschiedenen Quellen zufolge waren 500-3000 Opfer zu beklagen, meist Alte, Frauen und Kinder. Der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon trat 1983 auf Druck der Öffentlichkeit wegen eben diesen Ereignissen zurück. Heute ist er Israels Ministerpräsident und bereut, 1982 nicht den Befehl gegeben zu haben, "den Terroristen Arafat" zu erschießen.
[ 18.04.2002, 20:49: Beitrag editiert von: BigXtra ]