Was ist neu

Russisches Roulette

Mitglied
Beitritt
23.01.2014
Beiträge
220
Zuletzt bearbeitet:

Russisches Roulette

18-01-2006
Sturmtief Kyrill …In ganz Europa wurden vielfältige Sicherheitsvorkehrungen
getroffen. Um sowohl das Bahnpersonal als auch die Fahrgäste nicht zu
gefährden, wurde gegen 21:00 Uhr der Fernverkehr zum ersten Mal in der
Geschichte der Deutschen Bahn auf dem gesamten Streckennetz
eingestellt. In Bayern wurde auch der Regionalverkehr unterbrochen.
Landesweit sahen sich Schulen gezwungen, den Nachmittagsunterricht
abzusagen, um den Schülern eine sichere Heimfahrt vor dem Eintreffen
des Sturms zu ermöglichen. Als Konsequenz des Orkans fiel in weiten
Teilen des Landes auch am folgenden Tag der Schulunterricht aus. Es kam
zu Stromausfällen, die bis zu zwölf Stunden dauerten….


Die Straßen haben sich geleert. Einige Versprengte, Verspätete rennen.
Der Himmel über mir ist schwarz und nah. Es ist eng geworden zwischen ihm und dem Boden unter meinen Füßen. Ich bewege mich in einer Presse, die diese Welt zwischen zwei dunklen Brettern zermalmen will.
Der Sturm hat sich losgerissen. Ich sehe keine Menschen mehr. Tu mit unserer Stadt, was du willst, haben sie gesagt und sich in ihre Höhlen geduckt. Wir kommen erst wieder heraus, wenn du fertig bist. Wenn du dein Werk beendet hast, kommen wir zum Besichtigen.

Von der Ludwigsbrücke hinab führt ein Weg in die Isarauen. Die grüne Lunge der Stadt, keine Fahrräder heute, keine Skater, keine Spaziergänger. Nur ich!
Entweder du nimmst mich, Sturm, oder du lässt mich übrig. Nein, sag nichts. Ich will es nicht wissen. Ich erfahre es früh genug.
Ich gehe und höre das Knirschen des Kieses nicht. Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.
Wollte dir nur sagen, dass du mich haben kannst, hörst du?
Du kannst mich mitnehmen und in den Fluss tragen. Du kannst die Eichen und Buchen ausreißen oder knicken, diese starren und trotzigen Erdborsten, die rumstehen als wären sie nicht gemeint. Du kannst sie auf mich werfen.

Ich sehe nichts mehr, aber ich spüre und ich höre, was du tust, Sturm. Du vermischst dich mit dem Rauschen des Flusses, dem Prasseln des Regens auf den Kieseln. Du weißt, dass ich auf dich zugehe, in dich hineingehe, mich in dein Herz kämpfe. Schritt für Schritt.
Der Fluss ist nah. Ganz nah. Ich kann ihn riechen.
Ich habe schon gewonnen. Spüre dich, spüre mich. Überall an mir spüre ich Nässe und kalt. Steine an meinen Knien. Ich fühle alles. Das Leben. Es endet hier und jetzt oder es endet irgendwo und irgendwann. Es ist egal, weil ich es endlich wieder fühlen kann. Der Fluss ist jetzt überall. Ich breite die Arme aus und fliege in ihm. Alles wird eins.
Luft und Wasser. Fliegen und Treiben. Atmen und Trinken.

„Sie haben großes Glück gehabt.“
Ich sah ein rundes Gesicht mit lächelnden Augen und Pony.
„Wo bin ich?“
„Im Bogenhausener Krankenhaus. Sie haben großes Glück gehabt.“
„Ich weiß“, sagte ich.
„Man hat Sie nach dem Unwetter auf einer Kiesbank an der Isar gefunden. Halb erfroren, halb ertrunken, jedenfalls mehr tot als lebendig.“
Ich war noch nie so lebendig gewesen. War es das, was ich gewollt hatte? Und dieses Gefühl, dass nichts und niemand mir etwas anhaben konnte?
Zum ersten Mal fühlte ich, wie es war, ohne Angst zu leben. Ich hatte Mitleid mit all den Menschlein, die an diesem Leben klebten wie ein Insekt an einem Fliegenfänger. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der von Beginn des Lebens an in jeder Zelle von uns haust, so als ob unsere
kleine Existenz Bedeutung für das Universum hätte. Dabei sind wir alle nur Funken eines großen Feuers und wenn wir verglühen, wartet kein Himmel. Nicht mal ein weißes Licht am Ende des Tunnels.
Mein Körper war geschunden, voller Blessuren. Ich bekam viel Besuch in den nächsten Tagen. Meine Schwester, meine Mutter, die Krankenhauspsychologin mehrmals. Sogar ein Geistlicher, der mich verwirrt verließ, als ich ihm erzählte, dass er Recht hatte. Dass ich unsterblich war.
Ich war glücklich. Alle zweifelten.
„Geht‘s dir wirklich gut, Schatz?“ fragte meine Mutter. „Was ist nur in dich gefahren?“
Nach zwei Wochen wurde ich entlassen, obwohl sie herausgefunden hatten, dass ich mich früher geritzt hatte. Mach ich ja nicht mehr. Entlassen ins Leben, in die Freiheit, nach Hause und in die ambulante Therapie.
„Ihr braucht mich nicht abzuholen“, erklärte ich meiner Schwester und
meiner Mutter. „Ihr müsst euch nicht frei nehmen. Mir geht es gut.“
Ich fuhr mit der Straßenbahn, fand die Wohnung aufgeräumter vor, als ich sie verlassen hatte. Meine Mutter, das Heinzelweibchen.
Ich hatte noch vier Wochen voller Zeit und ambulanter Termine im Krankenhaus, bevor ich wieder zur Arbeit gehen sollte. Das war der Plan, den sie für mich ausgeheckt hatten.
Ich hätte die Zeit nicht gebraucht zur Erholung, aber ich nutzte sie gern.
Ich ging viel spazieren. Aber anders als früher musste ich mich nicht mehr ständig mit meinem inneren Geschwätz herumärgern. Die Stimmen waren verstummt. Aber ich habe den Sturm und den Fluss gebraucht, um sie zu ertränken. Die Dialoge, die ich hörte, die Monologe, die ich
verfasste und hielt, während meine Füße durch raschelndes Laub gingen, über frühlingsduftende Wiesen, durch tiefen Schnee stapften, alle Wahrnehmung abgeschottet, meine Sinne nach innen gerichtet auf in sich gefangene kreiselnde Gedanken. Ich sah die Welt. Ich fand sie schön, liebte sie, aber nicht klammernd wie ein Sterblicher, den seine Endlichkeit so sehr schreckte, dass er
sie ausblendete aus seinem Dasein, bis sie ihn irgendwann doch aus dem Hinterhalt überfiel. „Wollten Sie sich umbringen?“ fragte die Therapeutin immer wieder in unseren Sitzungen. Es schien für sie die alles entscheidende Frage zu sein. Wollte ich mich umbringen oder nicht? War ich suizidgefährdet? Depressiv? Warum war ich in die Isarauen gelaufen in jener Nacht?
Meine Antwort befriedigte sie nicht. „Russisches Roulette“ war kein
gebräuchlicher Begriff in der Psychologie.
Irgendwann, damit die arme Frau Ruhe fand, hatte ich ihn erfunden. Ihn, den ich am Ende des Tunnels gesehen hatte. Lächelnd mit ausgebreiteten Armen im strahlenden Licht auf das verlassene Menschenseelchen wartend.
Ich schenkte ihn ihr, weil sie ihn brauchte. Gott, Jesus, mein verstorbener Großvater. Egal. Es funktionierte. Damit konnte sie etwas anfangen.
Symptom. Diagnose, Therapie.
„Wie sah er aus?“, wollte sie wissen.
„Wie Brad Pitt in „Rendezvous mit Joe Black“, antwortete ich.“
Wir lachten beide. Ich wusste nicht, ob sie den Film kannte. Brad Pitt als charmanter romantischer Tod.
Sie musste etwas wie „Gefahr für sich selbst“ geschrieben haben, denn mein kurzer Genesungsurlaub im Freien endete mit diesem Gespräch.
Ich schätze unsere Therapiegespräche immer noch, auch wenn sie nun nicht mehr ambulant stattfinden.
Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Ein Ich-Erzähler findet sich selbst, in dem er sich selbst verliert und eins wird mit der Natur, wobei er eine Art pantheistische Einheit von Sturm und sich selbst erkennt, wobei der Strum vermenschlicht wird (wie passend, da Stürmen tatsächlich menschliche Namen verliehen werden, worauf die „Nachrichtenmeldung“, welche die Erzählung einleitet, bereits hindeutet), oder doch das eigene Ich entmenschlicht -- auf jeden Fall läuft die Geschichte hin auf eine Einheit zwischen Erzähler und seiner Umwelt, welche die mentale Nicht-Übereinstimmung zwischen den ihn plagenden Stimmen und der von ihm gewünschten Ruhe verstummen lässt, ertränkt.

Der Einstieg deiner Geschichte ist, wie bereits angedeutet, stark, deutet doch der Zeitungsbericht schon an, wie sich etwas unbelebtes, d.h. der Sturm, so sehr in die sonst so kontrollierten Leben der Menschen einschneiden kann, dass eigentlich nur der Anthropomorphismus zu bleiben scheint, um eine mentale Erfassung einer solchen Gewalt zu ermöglichen. „Kyrill“ stellt sich im Verlauf der Erzählung vielleicht gar als der eigentliche Protagonist heraus, oder verschmilzt zumindest mit diesem:

Die Straßen haben sich geleert. Einige Versprengte, Verspätete rennen.
Der Himmel über mir ist schwarz und nah. Es ist eng geworden zwischen ihm und dem Boden unter meinen Füßen. Ich bewege mich in einer Presse, die diese Welt zwischen zwei dunklen Brettern zermalmen will.
Der Sturm hat sich losgerissen. Ich sehe keine Menschen mehr. Tu mit unserer Stadt, was du willst, haben sie gesagt und sich in ihre Höhlen geduckt. Wir kommen erst wieder heraus, wenn du fertig bist. Wenn du dein Werk beendet hast, kommen wir zum Besichtigen.

Starker Einstieg, der die Machtlosigkeit der Menschen im Angesicht des Strums hinaufbeschwört. Besonders die beschriebene Enge zwischen dem schwarzen, sich nährenden Himmel und dem Boden wirkt passend; deutet auf eine Art von Verschmelzung, Verschmelzung durch gewalttätige Zusammenpressung zwischen Ich-Erzähler und Kyrill, zwischen dem Menschen an sich und der scheinbar erbarmungslosen Natur hin, der letztlich aber die Erbarmungslosigkeit abgesprochen werden muss, denn Pressen sind selten erbarmungslos; Pressen fühlen nicht, die Natur denkt nicht, Pressen sind nicht mehr als ein seelenloses, mechanisches Instrument -- und was ist dann der Mensch, wenn er sich in dieser Presse befindet und zusammengedrückt wird mit der Natur, mit Boden und Erde also eins wird, an der Presse klebt? Vermutlich nicht mehr als ein mechanisches, seelenloses Instrument.

Ich denke, dass du einen fruchtbaren Interpretationsraum aufbaust, in dem ich mich gerne aufhalte. Eine Kleinigkeit, die mir auffiel:

Ich bewege mich in einer Presse, die diese Welt zwischen zwei dunklen Brettern zermalmen will.
Das verstehe ich so, als würde sich der Erzähler in einer Presse bewegen, welche von der Welt zermalmt werden will, was sich mir inhaltlich nicht erschließt. Ich dachte eher, dass die Welt eben als Presse zu verstehen ist, oder liegt da auf meiner Seite ein Missverständnis vor? Der Satz würde, umgewandelt in etwas wie „Ich bewege mich in einer Presse, die mich zwischen ihren zwei dunklen Brettern zermalmen will.“ meinem Verständnis eher entgegenkommen (nicht ausgeschlossen, dass mein Verständnis nicht mehr ist als ein Missverständnis).

Im Weiteren werden die Sinneseindrücke des Erzählers geschildert und immer wieder Beobachtungen und Wünsche auf Vereinigung beschrieben:

Wollte dir nur sagen, dass du mich haben kannst, hörst du?
Gut, erneutes Aufgreifen der tatsächlich oder scheinbar menschlichen Charakteristika des Sturms.

Ich sehe nichts mehr, aber ich spüre und ich höre, was du tust, Sturm. Du vermischst dich mit dem Rauschen des Flusses, dem Prasseln des Regens auf den Kieseln. Du weißt, dass ich auf dich zugehe, in dich hineingehe, mich in dein Herz kämpfe. Schritt für Schritt
Auch gut, Charakterisiert die Entschlossenheit des Protagonisten, also sozusagen beider Protagonisten; sowohl Sturm als auch Mensch sind unerbittlich, oder eben einfach das Selbe in gewisser Maßen, sodass Kategorien wie Mensch und Umwelt eigentlich nullifiziert werden.

Ich habe schon gewonnen. Spüre dich, spüre mich. Überall an mir spüre ich Nässe und kalt. Steine an meinen Knien. Ich fühle alles. Das Leben. Es endet hier und jetzt oder es endet irgendwo und irgendwann. Es ist egal, weil ich es endlich wieder fühlen kann. Der Fluss ist jetzt überall. Ich breite die Arme aus und fliege in ihm. Alles wird eins.
Erinnert mich an das Konzept des „Ozeanisches Gefühls“, halte ich für ganz gelungen; auch vorsokratische Philosophie vielleicht wegen des Flusses. Was mir weniger gefallen hat ist der Einschub „Das Leben.“ Die Szene würde sich klarer anfühlen für mich, wenn du es beim „Ich fühle alles“ belassen hättest, sodass eben das Alles im Folgenden näher Charakterisiert wird und nicht das Leben explizit. Alles ist Leben. Das Leben ist Alles. Es wird eine Äquivalenz vom Erzähler postuliert, aber ich glaube, dass man die Herstellung dieser Verbindung dem Leser überlassen sollte, da sich das ja gewissermaßen als roter Faden durch die Erzählung zieht. Würde ich vielleicht streichen. Des Weiteren wäre vermutlich „Nässe und Kälte“ besser als „Nässe und kalt.“

Schließlich das Erwachen in der Klinik. Finde ich, im Vergleich zur Konfrontation des Erzählers mit sich selbst, recht ereignislos, fast dröge. Details wie die Freistellung von der Arbeit und so weiter, die zu erwartende Besorgnis der Ärzte und Familienmitglieder etc. Vielleicht ist es aber gerade dieser Kontrast zum ersten Teil der Erzählung, der deren Wirkung verstärkt. Ich bin mir unschlüssig, ob man da kürzen sollte, oder ob das die Geschichte als Erlebnis schwächen würde. Trotzdem, Entscheidend ist, dass sich für den Leser der im Sturm gefundene Friede des Erzählers klärt, vielleicht der Friede trotzt gähnender Langeweile des Lebens außerhalb des Sturmes, und die Akzeptanz des dünnen Fadens, an der das Leben hängt (Motiv des Russischen Roulettes):

Symptom. Diagnose, Therapie.
Finde, dass das eine großartiger Beschreibung dieser „Langeweile“ sein könnte, nur drei Substantive, eine Ökonomie der Sprache, die dem Inhalt entspricht; dem Erzähler sind die irdischen Beschwerden, Details, durch seinen Erkenntnisgewinn so egal, dass er darauf Ausweicht, seine eigene gewonnene Erkenntnis für die Therapeutin verdaulicher zu machen; ihm ist egal, dass er „recht hat“ und seine Therapeutin das nicht verstehen wird.

Bin mir aber nicht ganz sicher, was die letzten Sätze mir sagen wollen:

Wir lachten beide. Ich wusste nicht, ob sie den Film kannte. Brad Pitt als charmanter romantischer Tod.
Sie musste etwas wie „Gefahr für sich selbst“ geschrieben haben, denn mein kurzer Genesungsurlaub im Freien endete mit diesem Gespräch.
Ich schätze unsere Therapiegespräche immer noch, auch wenn sie nun nicht mehr ambulant stattfinden.
Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.

Ich würde das komplett streichen. Ich verstehe nicht, was diese Sätze mir sagen sollen, mich hat dieses Ende nur verwirrt. Genesungsurlaub im Freien? Also die Konfrontation mit Strum Kyrill, oder die Freistellung von seiner Arbeit? Warum endet das Gespräch, warum bedingt dies, dass sie „Gefahr für sich selbst schreibt“, wohin schreibt sie das, und was hat das für Konsequenzen? Warum war das mit Brad Pitt keine gute Idee?
Die Tatsache, dass ich das Ende nicht verstehe, könnte vielleicht darauf hindeuten, dass ich deine Geschichte einfach absolut missverstanden habe. Trotzdem, wenn ich von diesem Ende absehe, dann halte ich deine Geschichte für durchaus gelungen; sie macht nicht viel, aber das was sie macht, das macht sie solide, wie ich finde.

Vielleicht bin ich aber auch voreingenommen. Ich habe selbst recht Zeit rund um die Maximiliansanlagen verbracht und mag die Isar. Für Personen, die keinen persönlichen Bezug zur Isar haben ist die Tatsche, dass die Erzählung in München angesiedelt ist, möglicherweise nur ablenkendes Detail.

Sonstiges: der Protagonist ist, wenn ich nichts übersehen habe, geschlechtslos, nur durch Handlungen und dessen Erzählung gezeichnet, was vielleicht die Allgemeingültigkeit der Erzählung ein Stück weit erhöht.

 

Lieber@wander,

ein interessanter Text, in dem dein Protagonist seine Todessehnsucht beschreibt, in dem er sich in eine Todessituation begibt, ernsthaft die Möglichkeit seines Todes in Betracht zieht, sein Russisches Roulette spielt.

Während ich den ersten Teil deines Textes gerne gelesen habe, fand ich den zweiten Teil im Verhältnis dazu sprachlich und inhaltlich teilweise zu erklärend und insgesamt zu wenig strukturiert.

Ich schreibe mal meine Gedanken zu einzelnen Stellen, die ich mir markiert habe, auf:

Der Himmel über mir ist schwarz und nah. Es ist eng geworden zwischen ihm und dem Boden unter meinen Füßen. Ich bewege mich in einer Presse, die diese Welt zwischen zwei dunklen Brettern zermalmen will.

Das sind gleich drei Bilder, die im Grunde denselben Gedanken ausdrücken. Ich habe mich gefragt, ob nicht zumindest das dritte Bild überflüssig ist. Du betonst noch einmal die Enge, verwirrst mich aber mit dem Vergleich der Presse und den beiden Brettern. Mir kommt das ein bisschen redundant vor, die eigentliche Aussage zu sehr auswalzend und auch das Gemeinte dann nicht gut treffend ('zwischen zwei dunklen Brettern).

Der Sturm hat sich losgerissen. Ich sehe keine Menschen mehr. Tu mit unserer Stadt, was du willst, haben sie gesagt und sich in ihre Höhlen geduckt. Wir kommen erst wieder heraus, wenn du fertig bist. Wenn du dein Werk beendet hast, kommen wir zum Besichtigen.
Hieran könntest du mMn sprachlich noch etwas arbeiten.

Ich gehe und höre das Knirschen des Kieses nicht. Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.

Ich tue mich immer etwas schwer mit Sätzen, die mir sagen, was der Protagonist nicht tut, in diesem Fall nicht hört. Seine Trivialität schmälert für mich die Wucht des folgenden Bildes.

… die rumstehenK als wären sie nicht gemeint.

Ich habe schon gewonnen. Spüre dich, spüre mich. Überall an mir spüre ich Nässe und kalt.

Warum nicht Nässe und Kälte?

Ich hatte Mitleid mit all den Menschlein, die an diesem Leben klebten wie ein Insekt an einem Fliegenfänger. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der von Beginn des Lebens an in jeder Zelle von uns haust, so als ob unsere
kleine Existenz Bedeutung für das Universum hätte. Dabei sind wir alle nur Funken eines großen Feuers und wenn wir verglühen, wartet kein Himmel. Nicht mal ein weißes Licht am Ende des Tunnels.

Ich frage mich auch, ob das Bild des Insekts, das am Fliegenfänger klebt, ein gut gewähltes für den Selbsterhaltungstrieb des Menschen ist.

Und dann folgen noch zwei weitere Bilder, die im Grunde nur eins aussagen: Es gibt nichts nach dem Tod.

Sogar ein Geistlicher, der mich verwirrt verließ, als ich ihm erzählte, dass er Recht hatte. Dass ich unsterblich war.
Hier würde mir der Konjunktiv besser gefallen (hätte/wäre).

Nach zwei Wochen wurde ich entlassen, obwohl sie herausgefunden hatten, dass ich mich früher geritzt hatte. Mach ich ja nicht mehr. Entlassen ins Leben, in die Freiheit, nach Hause und in die ambulante Therapie.
„Ihr braucht mich nicht abzuholen“, erklärte ich meiner Schwester und
meiner Mutter. „Ihr müsst euch nicht frei nehmen. Mir geht es gut.“
Ich fuhr mit der Straßenbahn, fand die Wohnung aufgeräumter vor, als ich sie verlassen hatte. Meine Mutter, das Heinzelweibchen
.
Hier beginnt deine Geschichte für mich – verglichen mit dem ersten Teil – etwas banal zu werden. Du verlierst dich jetzt in Einzelheiten, die mit deinem eigentlichen Thema mMn nichts zu tun haben. Außerdem erscheint mir dieser Teil recht erklärend, redundant, manchmal sogar ein wenig geschwätzig:

Ich hätte die Zeit nicht gebraucht zur Erholung, aber ich nutzte sie gern.
Ich ging viel spazieren. Aber anders als früher musste ich mich nicht mehr ständig mit meinem inneren Geschwätz herumärgern. Die Stimmen waren verstummt. Aber ich habe den Sturm und den Fluss gebraucht, um sie zu ertränken. (warum hier perfekt?)Die Dialoge, die ich hörte, die Monologe, die ich
verfasste und hielt,
während meine Füße durch raschelndes Laub gingen, über frühlingsduftende Wiesen, durch tiefen Schnee stapften, alle Wahrnehmung abgeschottet, meine Sinne nach innen gerichtet auf in sich gefangenek kreiselnde Gedanken.

Das wirkt auf mich ein wenig schnell verfasst, mir fehlt eine klare Struktur – und irgendwie auch eine klare Aussage. Worauf läuft das alles hinaus? Wie passt das alles zum anspruchsvollen ersten Teil?

Am Ende dann ein neuer Gedanke:

„Wie Brad Pitt in „Rendezvous mit Joe Black“, antwortete ich.“
Wir lachten beide. Ich wusste nicht, ob sie den Film kannte. Brad Pitt als charmanter romantischer Tod.
Sie musste etwas wie „Gefahr für sich selbst“ geschrieben haben, denn mein kurzer Genesungsurlaub im Freien endete mit diesem Gespräch.
Ich schätze unsere Therapiegespräche immer noch, auch wenn sie nun nicht mehr ambulant stattfinden.
Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.
Wenn ich das Problem des Protagonisten als Todessehnsucht interpretiere, dann sagt mir der Bezug auf diesen Film eigentlich nichts. Dort scheint mir die Auseinandersetzung mit dem Tod eine völlig andere, hat für mich wenig zu tun mit der Todeserfahrung, die dein Protagonist sucht.

Der Fluss ist jetzt überall. Ich breite die Arme aus und fliege in ihm. Alles wird eins.
Luft und Wasser. Fliegen und Treiben. Atmen und Trinken.

Fazit:
Dem Anspruch ihres ersten Teils wird deine Geschichte im zweiten Teil mMn nicht gerecht. Während du im ersten Teil diesen Jahrhundert-Sturm in eindringlichen Bildern beschreibst
Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.
finde ich, dass du dich im zweiten Teil irgendwie verzettelst. Ich erfahre Einzelheiten, die mir nichts sagen, komme deinem Protagonisten durch sie nicht wirklich näher, als ich ihm schon im ersten Teil gekommen bin, verstehe ihn eigentlich auch nicht besser.

Noch etwas:

Wollten Sie sich umbringen?“ fragte die Therapeutin immer wieder in unseren Sitzungen. Es schien für sie die alles entscheidende Frage zu sein. Wollte ich mich umbringen oder nicht? War ich suizidgefährdet? Depressiv? Warum war ich in die Isarauen gelaufen in jener Nacht?
Meine Antwort befriedigte sie nicht. „Russisches Roulette“ war kein
gebräuchlicher Begriff in der Psychologie.
‚Russisches Roulette‘ sicher nicht, Todestrieb allerdings schon – oder einfach eine schwere Depression. Doch was skizzierst du da für eine merkwürdige Psychologin? Fragt sie wirklich so direkt und erwartet dann auch noch eine Antwort ihres Patienten? Merkwürdig.

Lieber wander, der erste Teil deines Textes, die gelungene Isar-Szene, hat mir gefallen, mit dem zweiten hatte ich meine Schwierigkeiten. Ich glaube, es liegt daran, dass dieser Nachgeschichte eine klare Struktur fehlt und mir auch nicht einleuchtet, inwiefern sie das Thema vertieft bzw. steigert.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Vielen Dank @halbkunst und @barnhelm für eure Gedanken zum Text.
Es bewahrheitet sich immer wieder. Da wo man als Autor Schwächen ahnt, da sind sie auch.
Ich habe wohl etwas getan, was man nicht sollte.
Meine Geschichte war ursprünglich die Beschreibung des Sturms. Ich bin tatsächlich in dieser Nacht spazieren gegangen, nicht gerade mit Todessehnsucht, aber schon mit einem gewissen Risikobewusstsein.
Die literarische Aufarbeitung der Eindrücke, Gefühle, Gedanken sind der erste Teil.
Und nun? Zu kurz? Zu zusammenhanglos? ….Was mache ich damit?
Dann entstand die Art der Auflösung oder Fortsetzung. Der Bruch in der Geschichte, der sich wohl auch ähnlich vollziehen würde, wenn man im Krankenhaus aufwacht.
Ich fürchte, da muss ich nochmal mit sehr grundsätzlichen Gedanken ran.
Nochmal vielen Dank und vielleicht sollte ich mir öfter mal solche grundsätzlichen Gedanken machen, bevor ich hier hochlade.
Ich überlege, ob ich die Geschichte zurückziehe.

herzlich...
wander

 

Lieber @wander,

Ich überlege, ob ich die Geschichte zurückziehe.
Das solltest du mMn nicht, sicherlich nicht endgültig.
Aber du könntest den gelungenen ersten Teil ausbauen, ihn mit den Gedanken deines Protagonisten im zweiten Teil vervollständigen und vor allem den Aspekt, den dein Titel andeutet, dieses gewagte Spiel mit der Möglichkeit, stärker betonen.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe @halbkunst und @barnhelm
Ich habe den Text auch in Hinblick auf die Kritik mehrmals gelesen und ich gehe nicht mehr in Sack und Asche.
Er ist zweigeteilt. Der erste Teil spielt sich im Kopf der Protagonistin ab. (für mich eine Frau, obwohl ich das nicht eindeutig festlegen wollte), der zweite Teil draußen in der Welt.
Ich denke das ist gut so. Ich brauche beides für eine Geschichte und auch den Stilwechsel.
Die Frau ist offensichtlich psychisch sehr krank. Hat sich dieser extremen Gefahrensituation ausgesetzt, um sich fühlen und spüren zu können. Früher hat sie sich geritzt. War also bereits auf diesem Weg.
Sie fühlt sich nun wie ein Phönix, der aus der Asche aufgetaucht ist. Stark, lebendig, unverwundbar. Aus dieser Sicht heraus beschreibt sie ihr Leben nach dem Sturm, ihre Interaktionien mit Ärzten, Verwandten, dem Geistlichen. Fühlt sich unverstanden und überlegen. Aber es ist eine kranke Sicht und ich versuche aus dieser Sicht zu erzählen. In beiden Teilen.
Sie ist durchaus suizidgefährdet und endet da, wo sie enden muss. In der geschlossenen Psychiatrie.
Ich werde einige Textstellen überarbeiten, aber den Text im Großen und Ganzen so belassen.
Ich verstehe, dass nach dem Lesen des ersten Teils der zweite fast störend wirkt, weil er eine Stimmung zunichte macht. Aber ich denke, das muss so sein.

 

Hallo @wander,
beim ersten Lesedurchgang kam mir die Geschichte sehr konstruiert vor. Gut, das sind Geschichten natürlich immer irgendwo, aber der Einstieg hat es mir schwer gemacht, reinzukommen. Für mein Empfinden liegt das am Aufbau, denn die Szene, als er sich durch den Sturm kämpft, finde ich sprachlich wunderschön, auch die Bilder sind sehr kraftvoll. Nur konnte ich mit der Distanz, die dein Erzähler zur Welt hat zunächst gar nichts anfangen, sie hat es mir schwer gemacht, in die Geschichte einzutauchen.
Nachdem ich zu Ende gelesen hatte und klar war, dass es da um jemanden geht, dem alles egal war und der durch diese Extremsituation endlich wieder etwas gefühlt hat, hat der Anfang dann gepasst, da hat er plötzlich Sinn gemacht. Aber als Einstieg finde ich ihn wie gesagt schwierig, ich würde mit dem Dialog im Krankenhaus anfangen und mich dann zum Sturm vorarbeiten, ihn sozusagen als Rückblende verwenden.

Du hast ein paar Zeilenumbrüche drin, die sich offenbar beim Kopieren ins Textfeld eingeschlichen haben. Da hört der Satz mitten in der Zeile auf und geht dann in der nächsten weiter. Kannst ja nochmal drübergehen.

Ich gehe und höre das Knirschen des Kieses nicht. Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.
Tolle Beschreibung.

Mein Körper war geschunden, voller Blessuren. Ich bekam viel Besuch in den nächsten Tagen
Hier haben mir erneut die Emotionen gefehlt. Er ist ja jetzt endlich "erwacht" und fühlt wieder was. Hat er keine Schmerzen? Stören sie ihn? Oder blendet er sie einfach aus, weil er Medikamente bekommen hat?

doch aus dem Hinterhalt überfiel. „Wollten Sie sich umbringen?“ fragte die Therapeutin immer wieder in
Hier würde ich einen Zeilenumbruch machen.

Das Ende hat mich dann etwas ratlos zurückgelassen. Genau wie @halbkunst habe ich mich gefragt, was das jetzt mit Brad Pitt auf sich hat. Ich weiß zwar, was gemeint ist, kenne auch den Film, schaffe aber den Sprung zur Diagnose des Prots nicht. Ich denke, das liegt daran, dass mir in der Vorarbeit die Emotionen fehlen. Es wird viel und schön beschrieben, aber ich nehme die Sicht der Dinge nicht mit den Augen des Prots wahr, weil seine Weltsicht mMn zu schnell abgehandelt wird und Empfindungen eher beschrieben als gezeigt werden. Ich bräuchte da mehr Persönlichkeit, Wahrnehmungen, die nicht beschrieben sondern gezeigt werden und mich so mitgehen lassen, dass ich am Ende über die Diagnose schockiert bin, weil dein Prota mir seine Welt schmackhaft gemacht hat, sie mich mit seinen Augen sehen lässt. Das würde für mich besser hinhauen, denn das Thema als solches finde ich sehr spannend.

Ich hoffe, du kannst mit meinem Eindruck was anfangen.

Viele Grüße,
Chai

 

danke @vonHagen und @Chai ,ich bin im Augenblick auch noch ein wenig ratlos. Auch weil die Kritik total gegensätzlich ist. Manche finden den zweiten Teil belanglos. @Chai braucht ihn, um den Anfang akzeptieren zu können.
Nur bei dem Satz mit Brad Pitt sind sich alle einig. Aber es ist einfach ein Brocken, den sie in ihrer euphorischen Überheblichkeit der Psychologin hinwerfen will. Der Schöne am Ende des Tunnels. Vielleicht sollte ich das einfach rausnehmen, wenn es so missverständlich ist.
Danke!
wander

 

Hallo @wander,

ich finde es gut, dass du die Geschichte nicht zurückgezogen hast. Da hast du in meinen Augen Mut bewiesen, denn es ist ja kein leichtes Thema. Und den ersten Teil fand ich sprachlich echt gelungen.

Den zweiten Teil brauche ich (obwohl ich ihn auch nicht so ansprechend fand), weil ich eine Erklärung benötige, warum sie Todessehnsucht hat. In meiner Interpretation ist sie sogar gestorben oder hat zumindest eine Nahtoderfahrung gemacht. Das liegt an diesen Sätzen:

Der Fluss ist jetzt überall. Ich breite die Arme aus und fliege in ihm. Alles wird eins.

Ich brauche da mehr um zu verstehen, warum sich ein Mensch in eine lebensbedrohliche Situationen begibt und „russisches Roulette“ spielt; sein Leben aufs Spiel setzt. Wenn du ohne den zweiten Teil endest, hinterlässt du mich als Leser irritiert und frustriert.

Vorschlag: Vielleicht würde ich am Anfang klarer machen, wie es um die Prota steht, was ihre Beweggründe sind oder am Ende eine Krankenhaus-Szene, wo ein Arzt einer Schwester kurz die Diagnose erläutert. Mir würde das reichen. Sind nur ein paar Gedanken, die ich gerade habe. Ich warte mal ab, ob du den zweiten Teil drin lässt und komme dann noch mal zurück. Bin gespannt, was du daraus machst.

Ich kann verstehen, dass es verwirrt, wenn man unterschiedliche Anmerkungen bekommt. Der eine sagt „hü“ der andere „hott“. Es ist lediglich eine Geschmacksfrage.

Lieben Gruß
Aurelia

 

Hallo @wander

Der Text entfaltet seine ganze Qualität in der klaren Sprache, den Andeutungen, die mitschwingen. Trotzdem klingt die Ich-Erzählerin (oder der Erzähler) an einigen Stellen unglaubwürdig, wie ein Abziehbild des Autors, der die Geschichte gestaltet.

18-01-2006
Sturmtief Kyrill …In ganz Europa wurden vielfältige Sicherheitsvorkehrungen
getroffen. Um sowohl das Bahnpersonal als auch die Fahrgäste nicht zu
gefährden, wurde gegen 21:00 Uhr der Fernverkehr zum ersten Mal in der
Geschichte der Deutschen Bahn auf dem gesamten Streckennetz
eingestellt.
Das fängt schon hier an: wozu brauchst du diese Infos, traust du dem Plot nicht, würde der Ich-Erzähler eine Nachricht vorne dran stellen, wenn er die Geschichte selbst erzählte?

Der Himmel über mir ist schwarz und nah. Es ist eng geworden zwischen ihm und dem Boden unter meinen Füßen.
sehr schönes Bild, greifbar und mit Bedeutung versehen.

Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.
auch diese Stelle gefällt mir ausgesprochen gut.

Das Leben. Es endet hier und jetzt oder es endet irgendwo und irgendwann. Es ist egal, weil ich es endlich wieder fühlen kann.
spätestens hier fehlt mir eine Erklärung. Was endet, was war zuvor, zumindest Gedankensplitter müssten dem Erzähler einfallen.

Zum ersten Mal fühlte ich, wie es war, ohne Angst zu leben. Ich hatte Mitleid mit all den Menschlein, die an diesem Leben klebten wie ein Insekt an einem Fliegenfänger. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der von Beginn des Lebens an in jeder Zelle von uns haust, so als ob unsere
kleine Existenz Bedeutung für das Universum hätte.
mm, da höre ich den Autor, der Bedeutung reinbringen will.

Dabei sind wir alle nur Funken eines großen Feuers und wenn wir verglühen, wartet kein Himmel.
hier genauso, deswegen hat keiner Todessehnsucht.

obwohl sie herausgefunden hatten, dass ich mich früher geritzt hatte.
ritzen, okay, aber weshalb?

Meine Antwort befriedigte sie nicht. „Russisches Roulette“ war kein
gebräuchlicher Begriff in der Psychologie.
würde ich streichen, dann spricht der Titel für sich und wird nicht durch eine Textstelle erklärt, trau dem Leser, er ist stets klüger als der Autor denkt.

Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.
guter, kluger Twist am Ende.

viele Ich-spiel-jetzt-russisches-Roulette-schließ-die-Augen-und-warte-mal-wann-ich-wieder-aufwache-haha-aber-zuvor-genehmige-ich-mir-ein-Schlückchen-Grüße
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @wander
Deine Geschichte hat mich gekriegt.
Schon der Titel trägt fett auf. Russisch Roulette: Das ist die symbolträchtige Auseinandersetzung mit der Todessehnsucht, oft bedingt durch tief sitzendes Trauma. Wenn das Klicken des Hahns, statt der Explosions ertönt, erfüllt sich die heimliche Hoffnung aufs Überleben. Danach wird die Ich-Erzählerin unzuverlässig. Sie genießt das Glücksgefühl, die Gefahr überstanden zu haben, verheimlicht aber(oder weiß selbst noch nicht), dass dieses Hochgefühl früher oder später abflaut und die Dunkelheit wieder hervorkriecht. Nicht leben können und nicht sterben wollen – das Dilemma einer beschädigten Seele.
Die Geschichte verschweigt die Ursachen, doch sie schimmern durch: Die Familie trieft vor Pflicht-erfüllender Besorgnis, ist aber unfähig, zu verstehen. Die Mutter ein "Heinzelweibchen"; Mit einem Wort drückt die Erzählerin alles aus, was sie für das empfindet, was ihre Mutter verkörpert. Toll! Einen Vater gibt es nicht.
Zitat: "Außerdem ist der Vater in dem Mutter-Vater-Kind-Dreieck derjenige, der dem Kind die Möglichkeit gibt, sich von der Mutter zu lösen und eine eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln. Bei vaterlosen Kindern sieht man oft die enge Bindung an die Mutter, die dann irgendwann in Verachtung umschlagen kann." [Jeanette Hagen; Die verletzte Tochter: "Wie Vaterentbehrung das Leben prägt"]

Auch die Therapeutin blickt nicht wirklich, was abgeht.

Ich schenkte ihn ihr, weil sie ihn brauchte.
Wunderbar auf den Punkt gebracht. Die Protagonistin erfüllt die Erwartung der Therapeutin, ohne sich wirklich zu öffnen. Brad Pitt als knackige Personifizierung des Todes: morbides Kribbeln, statt der traurigen Konsequenz eines Spiels, die früher oder später eintreten wird. Denn 1/6 ist wahrlich keine geringe Wahrscheinlichkeit für eine scharfe Patrone in der Kammer. Die Therapeutin bekommt ihre todessehnsüchtige Patientin, kann ein bischen therapieren und wird sich später bestürzt zeigen, wenn die Prota eine neue Runde RR beginnt . Sie versteht nicht, dass ihre Patientin unter Sehnsucht nach Leben leidet, aber nicht nach diesem Leben. Und die erklärt es ihr nicht, weil sie spürt, dass die Ärztin das nicht verstehen würde. So wie ihre Familie. Und diese Verständnislosigkeit erzeugt EInsamkeit, Verlorenheit in einem beängstigend sinnlosen Universum.
Ohne ihre Geschichte zu kennen, weiß der Leser nie ganz genau, was wirklich in der Prota vorgeht. Ich glaube ihr, dass sie in diesem Moment glücklich ist. Sie will leben, ohne Angst vor dem Tod zu haben. Doch die Unzufriedenheit und der Drang, das Glück im Extremen zu suchen, wird nicht nachlassen – eher stärker. Das Ritzen war der Einstieg. Man weiß nicht, wo es enden wird.

Wir lachten beide. Ich wusste nicht, ob sie den Film kannte. Brad Pitt als charmanter romantischer Tod.
Würde ich weg schmeißen. Entweder man kennt den Film, dann braucht es das nicht, oder man kennt ihn nicht, dann nützt es auch nichts.

Echtes Russisch Roulette wurde übrigens im Vietnam-Drama "Die durch die Hölle gehen" (Deer Hunter) sehr gut eingesetzt. Nach dem Überleben des Krieges verfolgt den Protagonisten der Drang, diesen Kick immer wieder erzeugen zu müssen.

Grüße
Kellerkind

 

Was zunächst auffällt, ist die Verwendung des Reflexivpronomens für Straße und Sturm

Die Straßen haben sich geleert.

Der Sturm hat sich losgerissen.
als wären Straße wie Sturm personifizierbare Subjekte in einer pantheistischen Welt, dem dann auch die Aufforderung
Entweder du nimmst mich, Sturm, oder du lässt mich übrig.
an den Wind passt, dem schon immer ein eigener Wille zugesprochen wird, er wehe, wo (und ich füge ein: „und wie“) er wolle,

lieber wander,

was er natürlich nicht kann. Auch er ist – wie die Straße – ohne eigenen Willen und folgt natürlichen Gesetzen. Die Sichtweise kann nur unpersönlich sein. Als unpersönliches Subjekt hat sich nicht nur in natürlichem und speziell witterungsbedingtem Geschehen das „es“ entwickelt („es ist stürmisch/es zieht“ zB oder geradezu alttestamentarisch "es werde ..."), das m. E. nicht so sehr der Grammatik als der Poetik hier in der Einleitung geben kann, etwa „es haben die Straßen sich geleert … es hat der Sturm sich losgerissen“.

Triviales

Sturmtief Kyrill …[...]In ganz Europa wurden vielfältige Sicherheitsvorkehrungen getroffen.

Ich war noch nie so lebendig gewesen.
Nicht falsch, aber das Adverb „nie“ (i. S. von „zu keiner Zeit“) ermöglicht m. E., aufs Gewese zu verzichten und das lässt sich eigentlich auch zum Schluss behaupten, wenn es heißt
Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.
wenn es doch nur eine Idee war.

„Geht‘s dir wirklich gut, Schatz?“[,] fragte meine Mutter.
„Wollten Sie sich umbringen?“[,] fragte die Therapeutin …
„Wie Brad Pitt in „Rendezvous mit Joe Black“, antwortete ich.[...]

Wie dem auch sei, gern gelesen vom

Friedel,
um den herum ein Stürmchen tobt und die Bahn nicht fährt ...

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom