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Russisches Roulette
Sturmtief Kyrill …In ganz Europa wurden vielfältige Sicherheitsvorkehrungen
getroffen. Um sowohl das Bahnpersonal als auch die Fahrgäste nicht zu
gefährden, wurde gegen 21:00 Uhr der Fernverkehr zum ersten Mal in der
Geschichte der Deutschen Bahn auf dem gesamten Streckennetz
eingestellt. In Bayern wurde auch der Regionalverkehr unterbrochen.
Landesweit sahen sich Schulen gezwungen, den Nachmittagsunterricht
abzusagen, um den Schülern eine sichere Heimfahrt vor dem Eintreffen
des Sturms zu ermöglichen. Als Konsequenz des Orkans fiel in weiten
Teilen des Landes auch am folgenden Tag der Schulunterricht aus. Es kam
zu Stromausfällen, die bis zu zwölf Stunden dauerten….
Die Straßen haben sich geleert. Einige Versprengte, Verspätete rennen.
Der Himmel über mir ist schwarz und nah. Es ist eng geworden zwischen ihm und dem Boden unter meinen Füßen. Ich bewege mich in einer Presse, die diese Welt zwischen zwei dunklen Brettern zermalmen will.
Der Sturm hat sich losgerissen. Ich sehe keine Menschen mehr. Tu mit unserer Stadt, was du willst, haben sie gesagt und sich in ihre Höhlen geduckt. Wir kommen erst wieder heraus, wenn du fertig bist. Wenn du dein Werk beendet hast, kommen wir zum Besichtigen.
Von der Ludwigsbrücke hinab führt ein Weg in die Isarauen. Die grüne Lunge der Stadt, keine Fahrräder heute, keine Skater, keine Spaziergänger. Nur ich!
Entweder du nimmst mich, Sturm, oder du lässt mich übrig. Nein, sag nichts. Ich will es nicht wissen. Ich erfahre es früh genug.
Ich gehe und höre das Knirschen des Kieses nicht. Ich schreie den Sturm an, aber er drückt den Schall in meinen Mund zurück.
Wollte dir nur sagen, dass du mich haben kannst, hörst du?
Du kannst mich mitnehmen und in den Fluss tragen. Du kannst die Eichen und Buchen ausreißen oder knicken, diese starren und trotzigen Erdborsten, die rumstehen als wären sie nicht gemeint. Du kannst sie auf mich werfen.
Ich sehe nichts mehr, aber ich spüre und ich höre, was du tust, Sturm. Du vermischst dich mit dem Rauschen des Flusses, dem Prasseln des Regens auf den Kieseln. Du weißt, dass ich auf dich zugehe, in dich hineingehe, mich in dein Herz kämpfe. Schritt für Schritt.
Der Fluss ist nah. Ganz nah. Ich kann ihn riechen.
Ich habe schon gewonnen. Spüre dich, spüre mich. Überall an mir spüre ich Nässe und kalt. Steine an meinen Knien. Ich fühle alles. Das Leben. Es endet hier und jetzt oder es endet irgendwo und irgendwann. Es ist egal, weil ich es endlich wieder fühlen kann. Der Fluss ist jetzt überall. Ich breite die Arme aus und fliege in ihm. Alles wird eins.
Luft und Wasser. Fliegen und Treiben. Atmen und Trinken.
„Sie haben großes Glück gehabt.“
Ich sah ein rundes Gesicht mit lächelnden Augen und Pony.
„Wo bin ich?“
„Im Bogenhausener Krankenhaus. Sie haben großes Glück gehabt.“
„Ich weiß“, sagte ich.
„Man hat Sie nach dem Unwetter auf einer Kiesbank an der Isar gefunden. Halb erfroren, halb ertrunken, jedenfalls mehr tot als lebendig.“
Ich war noch nie so lebendig gewesen. War es das, was ich gewollt hatte? Und dieses Gefühl, dass nichts und niemand mir etwas anhaben konnte?
Zum ersten Mal fühlte ich, wie es war, ohne Angst zu leben. Ich hatte Mitleid mit all den Menschlein, die an diesem Leben klebten wie ein Insekt an einem Fliegenfänger. Dieser Selbsterhaltungstrieb, der von Beginn des Lebens an in jeder Zelle von uns haust, so als ob unsere
kleine Existenz Bedeutung für das Universum hätte. Dabei sind wir alle nur Funken eines großen Feuers und wenn wir verglühen, wartet kein Himmel. Nicht mal ein weißes Licht am Ende des Tunnels.
Mein Körper war geschunden, voller Blessuren. Ich bekam viel Besuch in den nächsten Tagen. Meine Schwester, meine Mutter, die Krankenhauspsychologin mehrmals. Sogar ein Geistlicher, der mich verwirrt verließ, als ich ihm erzählte, dass er Recht hatte. Dass ich unsterblich war.
Ich war glücklich. Alle zweifelten.
„Geht‘s dir wirklich gut, Schatz?“ fragte meine Mutter. „Was ist nur in dich gefahren?“
Nach zwei Wochen wurde ich entlassen, obwohl sie herausgefunden hatten, dass ich mich früher geritzt hatte. Mach ich ja nicht mehr. Entlassen ins Leben, in die Freiheit, nach Hause und in die ambulante Therapie.
„Ihr braucht mich nicht abzuholen“, erklärte ich meiner Schwester und
meiner Mutter. „Ihr müsst euch nicht frei nehmen. Mir geht es gut.“
Ich fuhr mit der Straßenbahn, fand die Wohnung aufgeräumter vor, als ich sie verlassen hatte. Meine Mutter, das Heinzelweibchen.
Ich hatte noch vier Wochen voller Zeit und ambulanter Termine im Krankenhaus, bevor ich wieder zur Arbeit gehen sollte. Das war der Plan, den sie für mich ausgeheckt hatten.
Ich hätte die Zeit nicht gebraucht zur Erholung, aber ich nutzte sie gern.
Ich ging viel spazieren. Aber anders als früher musste ich mich nicht mehr ständig mit meinem inneren Geschwätz herumärgern. Die Stimmen waren verstummt. Aber ich habe den Sturm und den Fluss gebraucht, um sie zu ertränken. Die Dialoge, die ich hörte, die Monologe, die ich
verfasste und hielt, während meine Füße durch raschelndes Laub gingen, über frühlingsduftende Wiesen, durch tiefen Schnee stapften, alle Wahrnehmung abgeschottet, meine Sinne nach innen gerichtet auf in sich gefangene kreiselnde Gedanken. Ich sah die Welt. Ich fand sie schön, liebte sie, aber nicht klammernd wie ein Sterblicher, den seine Endlichkeit so sehr schreckte, dass er
sie ausblendete aus seinem Dasein, bis sie ihn irgendwann doch aus dem Hinterhalt überfiel. „Wollten Sie sich umbringen?“ fragte die Therapeutin immer wieder in unseren Sitzungen. Es schien für sie die alles entscheidende Frage zu sein. Wollte ich mich umbringen oder nicht? War ich suizidgefährdet? Depressiv? Warum war ich in die Isarauen gelaufen in jener Nacht?
Meine Antwort befriedigte sie nicht. „Russisches Roulette“ war kein
gebräuchlicher Begriff in der Psychologie.
Irgendwann, damit die arme Frau Ruhe fand, hatte ich ihn erfunden. Ihn, den ich am Ende des Tunnels gesehen hatte. Lächelnd mit ausgebreiteten Armen im strahlenden Licht auf das verlassene Menschenseelchen wartend.
Ich schenkte ihn ihr, weil sie ihn brauchte. Gott, Jesus, mein verstorbener Großvater. Egal. Es funktionierte. Damit konnte sie etwas anfangen.
Symptom. Diagnose, Therapie.
„Wie sah er aus?“, wollte sie wissen.
„Wie Brad Pitt in „Rendezvous mit Joe Black“, antwortete ich.“
Wir lachten beide. Ich wusste nicht, ob sie den Film kannte. Brad Pitt als charmanter romantischer Tod.
Sie musste etwas wie „Gefahr für sich selbst“ geschrieben haben, denn mein kurzer Genesungsurlaub im Freien endete mit diesem Gespräch.
Ich schätze unsere Therapiegespräche immer noch, auch wenn sie nun nicht mehr ambulant stattfinden.
Vielleicht war das mit Brad Pitt keine gute Idee gewesen.