Ruhe sanft
Ruhe sanft.
Ja, du.
Du ruhst dich jetzt aus, da unten in deiner Grube, wo es modrig riecht.
Wo Würmer, Käfer und Spinnen durch die leeren Höhlen deines Schädels krabbeln, spürst du sie?
Ruhe sanft, meine liebe Freundin, ruhe sanft.
Lass dich nicht stören, wenn die Wurzeln der über dir wachsenden Gräser sich erst sanft und dann fest, mit unerbittlichem Zugriff in deinem Kiefer verankern.
Hörst du morgens, wenn die Sonne aufgeht, die du nicht mehr sehen kannst, das Geschrei der Vögel?
Hörst du ihr Wehklagen, ob der Mühsal des Tages, der auf sie wartet?
Lass dich durch sie nicht stören, denn du darfst ruhen, ruhen...
Ach, fast beneide ich dich, wie du alle Pflichten und alle Mühsal einfach abladen duftest. Kein Schmerz, keine Traurigkeit mehr in dir, nur feuchte, dunkle Erde, die dich sanft und sicher in sich trägt.
Ich besuche dich ab und zu, lege dir eine Blume auf den Hügel, unter dem du jetzt ausruhen darfst.
Ich bin stets sehr leise und lege die Blume mit unendlicher Sorgfalt und Behutsamkeit auf dir ab, um deine Ruhe nicht zu stören.
Als du noch lebtest, war ich oft so laut, so rücksichtslos zu dir. Ich schäme mich dafür, dass du durch mich so viel Lärm erfahren hast.
Jetzt ist alles gut, du dafst ruhen.
Ruhe sanft, liebe Freundin, mach dir keine Sorgen um deinen Mann. Es geht ihm sehr gut, ich kümmere mich um ihn. Er lässt dich grüßen. Ich hauche einen leisen Gruß deines Mannes auf dein Grab.
Er kommt nie mit hierher, und du weißt auch, warum.
Er erträgt es nicht, dir wieder nah zu sein.
Er hat dir die Ruhe geschenkt, und er möchte sie nicht stören. Das verstehst du doch sicher, liebe Freundin?
Ruhe sanft, ich komme bald einmal wieder bei dir vorbei, um zu sehen, ob der Erdboden eingesunken ist, weil der Deckel deines Sarges verrottete.
Dann werde ich neue Erde aufschütten, ich sorge dafür, dass du es schön ruhig hast.
Jetzt muß ich gehen, weil dein Mann auf mich wartet.
Wir wollen uns einen ruhigen Abend zu Hause machen.
Ruhe sanft.