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Ruben
Es klopft und ich zucke zusammen. Ruben. Das kann nicht sein. Vielleicht ist ein Vogel gegen die Fensterscheibe geprallt.
Rubens Eltern zogen vor drei Jahren in unser Quartier. Nette Leute. So nett, dass wir uns bereiterklärten, auf den Kleinen aufzupassen, wenn die beiden einen Abend für sich haben wollten. Dann standen sie morgens um halb zwei mit feuchten Schuhen in unserem Wohnzimmer und meine Frau legte ihnen den schlafenden Jungen in die Arme.
Marion vergötterte Ruben. Sie schenkte ihm Kühe aus Holz und Murmeln in allen Farben. Ein Krokodil mit Filzzähnen. Stets zerriss Ruben das Packpapier, legte das Geschenk auf den Küchentisch und betrachtete es für wenige Sekunden. Nachdem er entschieden hatte, was damit zu tun sei, ging es los. Ruben rannte mit dem Stofftier im Arm von Zimmer zu Zimmer. Ruben rollte Murmeln über unser Parkett. Ruben baute einen Stall aus Karton und polsterte ihn mit Moos aus unserem Garten. Lärm machte er, egal, was er tat. Am Ende wurden die Sachen im Kleiderschrank verstaut, wo sie noch heute liegen. Marion half ihm dabei. Ich machte sie auf ihre übertriebene Zuwendung und die Nutzlosigkeit all dieser Geschenke aufmerksam, die sich unter meinen Anzügen stapelten.
„Ist es ein Verbrechen, Spielzeug aufzubewahren?“
„Er ist nicht unser Kind.“
„Natürlich nicht. Das weiss ich sehr wohl. Du willst ja keine.“
Ich öffne die Tür zum Garten. Das warme Brummen nachbarlicher Rasenmäher. Nichts zu sehen.
Es stand nicht mehr gut um unsere Ehe. Nachts lag ich neben Marions Körper. Sie schlief. Ich hätte mit einer Puppe verheiratet sein können. Wieder und wieder fragte ich sie, was sie von mir erwarte. Sie meinte, was ich ihr geben könne, habe sich erschöpft.
„Wenn ich dich ansehe, werde ich müde.“ Ich schlug vor, ans Meer zu fahren, so wie damals, als wir uns kennengelernt hatten. Marion verdrehte die Augen. Kam ich abends nach Hause, war ich jedes Mal erstaunt, dass sie mich nicht verlassen hatte.
In der Ferne zerfliessen blaue Berge. Es wird kühler.
Ruben besuchte uns oft. Er kam durch den Garten und klopfte an die Fensterscheibe. Ich fand ihn ganz süss. Beine, Hände und Kopf schienen wenig verbunden. Manchmal fiel er hin, einfach so. Konzentrieren konnte er sich auf nichts. Alles lenkte ihn ab. Medikamente wollten ihm seine Eltern nicht geben. Es wäre besser gewesen.
Mich mochte Ruben wohl nicht besonders. Brauchte er etwas, ging er zu Marion. Einmal wurde er von einer Biene gestochen. Er schrie auf, rannte zu meiner Frau und drückte sich an sie. Marion entfernte den Stachel und saugte das Gift aus seiner Hand. Ruben sah zu mir herüber. Seine dunklen Augen klagten mich an, als sei ich schuld an seinen Schmerzen.
Die Sonne kämpft gegen ihr Verschwinden. Kein Tod ist sinnlos.
Letzten Winter fuhren wir mit Ruben zu einem dieser Tropenhäuser, wo Schmetterlinge flattern und sich Wassertropfen an Glaswänden bilden. Ich hatte mich mit Marion gestritten. Eines der wenigen Wochenenden, die wir gemeinsam hätten verbringen können. Nur wir beide. So wie jetzt Rubens Eltern.
„Ich möchte aber lieber hier sein“, sagte sie. Betonwege führten durch die Hallen. Marion hatte Ruben bei der Hand genommen. Ihre Köpfe drehten sich nach links und nach rechts. Sie blieben stehen und rochen an fleischigen Blüten. Ab und zu stiess Ruben einen Schrei aus und Marion lachte. Ich folgte in einigem Abstand. Ich war zu warm angezogen, von der fauligen Luft wurde mir übel.
Als wir ihn am Abend zurückbrachten, presste Marion ihr Gesicht auf sein schwarzes Haar.
„Es riecht wie frisch gefallener Schnee.“
Am nächsten Tag geschah es. Unten bei der Kreuzung. Ein Auto stand mitten auf der Strasse. Davor Rubens Vater. Er schaute mir in die Augen, aber ich denke nicht, dass er mich sah. Neben ihm knieten zwei Sanitäter in roten Jacken. Grauer Asphalt. Rinnsale von schmutzigem Schmelzwasser. Mehr konnte ich nicht erkennen.
Ich gehe ins Wohnzimmer zurück und schliesse die Tür. Marion hat eine neue Kerze angezündet.
Zur Beerdigung fuhren wir nicht. Wir standen am Fenster und sahen, wie Rubens Eltern das Haus verliessen. Gekrümmte Schatten. Ich legte meinen Arm um Marion.
Es war eine schwierige Zeit. Noch jetzt, ein halbes Jahr später, geht es Marion manchmal schlecht. Doch ihre Trauer brachte uns einander näher.
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
„Ich weiss.“
Wir schlafen miteinander. Marion krallt ihre Hände in meinen Rücken, bis es blutet. Wir spüren uns wieder und das ist gut.